Editorial
von Jürgen Nieth
„Der türkische Regierungschef Yilmaz steht vor dem Rücktritt“ (TAZ, 13.11.98), „PKK-Chef Öcalan in Rom festgenommen“ (SZ 14.11.98), „Der Jugendliche Serientäter »Mehmet« darf in die Türkei abgeschoben werden“ (FAZ 14.11.98). Drei Schlagzeilen, die dem W&F Schwerpunktthema »Türkei« eine unerwartete Aktualität geben:
Die im Sommer letzten Jahres gebildete Regierung Yilmaz ist am Ende. Letzte Stolpersteine waren die Behauptungen eines Mafia-Killers und die Aussagen des Geschäftsmannes Yigit, der aus dem »Nichts« kam und innerhalb von zwei Wochen 1,6 Mrd US-Dollar in den Kauf zweier Fernsehstationen und zweier angesehener Zeitungen investierte; offensichtlich dabei unterstützt vom Regierungschef, der an einem neuen, ihm politisch nahestehenden Medienkonzern interessiert war und der dazu – so wird vermutet – mit der Mafia anbandelte.
Die Regierung Yilmaz war als Minderheitenregierung bereits seit langem gelähmt und es darf vorausgesagt werden, daß auch die nächste Regierung kein stabiles Fundament haben wird. In der Türkei droht eine äußerst brisante Situation zu entstehen. Und es ist die Frage, wie die Militärs, die längst die eigentlichen Träger der Macht sind, in dieser Situation reagieren.
Staatspräsident Demirel gab Ende 1997 die Zahl der Opfer des türkisch-kurdischen Konfliktes mit 37.000 an. In den 14 Jahren, die der Krieg nun andauert, wurden zusätzlich über 3.000 Dörfer zerstört und etwa 3 Millionen Menschen vertrieben.
Ohne Frage, daß die Lösung dieses Konfliktes angegangen werden muß.
Zum 1. September hat die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) einen einseitigen Waffenstillstand verkündet, der bis zu den Parlamentswahlen im April 1999 gelten sollte. Bereits im April hatte PKK-Vorsitzender Öcalan in einem Brief an den türkischen Generalstab versichert, daß es nicht die Absicht der PKK sei, die Türkei zu spalten, sondern daß es darum gehe, „den Weg für Verhandlungen zu bahnen“ und für die „ nationale Kurdenfrage eine Lösung zu finden.“ Nach einer freien politischen Betätigung in der Türkei werde die PKK auch die Wahlentscheidungen der Menschen in der Türkei respektieren. Positionen, die in Verbindung mit der Waffenstillstandserklärung noch einmal unterstrichen wurden und mit denen die Hauptforderungen des türkischen Staates nach einem Gewaltverzicht und nach Anerkennung der Staatsgrenzen erfüllt werden. Doch die türkische Regierung lehnte erneut jedes Gespräch mit der PKK ab. „Mit Banditen gibt es keinen Waffenstillstand, wir haben mit ihnen nichts zu besprechen“, so Verteidigungsminister Ismet Sezgin.
Nach der militärischen Offensive der türkischen Armee in den letzten Wochen ist möglicherweise die Verhaftung Öcalans der entscheidende Schlag gegen die PKK, möglich sind aber auch eine Zunahme der Gewalt und die Herausbildung neuer militanter Gruppen. Auf jeden Fall ist die Kurdenfrage damit nicht gelöst. Dafür gibt es keine »militärische Lösung«.
»Mehmet«, so der ihm aus Datenschutzgründen zugewiesene Name, wurde als 14jähriger am 14.11.98 in die Türkei abgeschoben. »Mehmet« wurde in Deutschland geboren, hier sozialisiert und hier straffällig. Aber, er ist einer von über 2 Millionen in der BRD lebender Menschen mit türkischem Paß und so konnte er abgeschoben werden. Seit Monaten schon ging es für einen Teil der Politik und der Medien in dieser Frage nur noch darum: Wie werden wir den los. Wie schön wäre es, wenn ein Bruchteil dieser Aufmerksamkeit mal den Problemen der Jugendlichen gewidmet würde – es sind immerhin rund 400.000 – die zum großen Teil hier geboren, zwischen zwei Kulturkreisen aufwachsen: der deutschen Mehrheitsgesellschaft einerseits und den Anforderungen ihrer Eltern und Großeltern andererseits. Wenn jeder Zwanzigste in unserem Land zugezogen ist oder aber Eltern mit einer nicht deutschen Staatsangehörigkeit hat, dann reicht es nicht, wenn die Mehrheitsgesellschaft eine »Bereicherung der Speisekarte« und eine »vielfältigere Versorgung mit Dienstleistungen« dankend annimmt; dann muß sie auch bereit sein bei Konflikten nach zivilen, nach menschlichen Lösungswegen zu suchen. Bei uns entstandene Probleme müssen auch bei uns bearbeitet werden.
Nicht als Schlagzeile sondern eher versteckt gab es am 13.11. auch noch die Meldung, daß der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Günter Verheugen, die Türkeipolitik der alten Bundesregierung als „falsch und schädlich“ bezeichnet hat. Während Kohl die Türkei erst in der über-übernächsten Gruppe der EU-Beitrittskandidaten sah, ist für Verheugen die Türkei selbstverständlich ein Land, das für eine Vollmitgliedschaft in der EU in Frage kommt. Wenn es sich hier nicht nur um eine neue »Sprachregelung« handelt, wenn die rot-grüne Regierung wirklich eine aktive Politik des Einfluß nehmens in Richtung Entwicklung der Demokratie, Einhaltung der Menschenrechte und Respektierung nationaler Minderheiten betreiben will – drei Gebiete auf denen sicher ganz viel passieren muß vor einem EU-Beitritt der Türkei – so ist das zu begrüßen. Statt deutsche Waffen an den Bosporus – deutsche Initiativen für Verständigung (auch im Inneren), für die Einhaltung der Menschenrechte und für zivile Konfliktlösung, das wäre ein echter Schritt vorwärts.
Ihr Jürgen Nieth