W&F 1999/1

Editorial

von Margitta Matthies

Im Juni 1999 steht Köln mit zwei internationalen Gipfeltreffen im Blickpunkt der Weltöffentlichkeit. Am 3./4. Juni treffen sich die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union zum EU-Gipfel und vom 18. bis 20. Juni kommen die Regierungschefs der sieben führenden westlichen Industrienationen und Russlands – das seit 1998 vollwertiges Mitglied ist – zum Weltwirtschaftsgipfel der G8 zusammen.

Gipfeltreffen, die für eine Politik stehen, die für das Zusammenleben der Menschheit diskriminierende Spuren hinterlassen hat:

  • Während der letzten zwanzig Jahre haben die politisch Verantwortlichen zunehmend Monetarisierung, Deregulierung, freien Warenaustausch, uneingeschränkten Kapitalfluss und Privatisierungen im großen Ausmaß gefördert. Gleichzeitig wurde die Entscheidungskompetenz hinsichtlich Investitionen, Beschäftigung, Gesundheitsförderung, Kultur und Umweltschutz vom öffentlichen Sektor auf transnational operierende Konzerne verlagert. Diese Multinationalisierung der Wirtschaft hat dazu geführt, dass das Geschäftsvolumen der 200 größten Konzerne mehr als ein Viertel der globalen Wirtschaftstätigkeit umfasst aber nicht einmal ein Prozent der weltweit vorhandenen Arbeitskraft bindet.
  • In dem Vakuum, das durch die Entwertung sozialistischer Theorien und Politiken nach dem Ende des Ost-West-Konflikts entstanden ist, konnten radikale neoliberale Wirtschaftsstrategien noch ungehinderter eingesetzt und im Namen der Sachzwanglogik mit sozialen, rassistischen und sexistischen Ausgrenzungen und Diskriminierungen unterstützt werden.
  • Die absolute ökonomische Vormachtstellung der industrialisierten nördlichen Welt gegenüber dem Süden und Osten verstärkt die wirtschaftliche und soziale Ungleichheit. Die Reichen werden immer reicher und die Armen immer ärmer.

Diese Politik führt zu einem Anwachsen des sozialen Elends und zu zunehmender Umweltzerstörung im Norden und Süden, sie führt zum Entstehen neuer Konfliktpotentiale. Weltweit sind 100 Millionen Menschen auf der Flucht vor Armut, Krieg, Unterdrückung und Umweltzerstörung. Gegen sie errichteten die EU- und G7-Staaten nicht nur Mauern und Zäune an ihren Grenzen, sie schrecken auch vor der Androhung und Anwendung von Gewalt nicht zurück.

Gegen das »Primat der Profitmaximierung« wehren sich immer mehr Menschen. Unter dem Motto »Das Ende der Bescheidenheit – Gipfel stürmen« haben sich nationale und internationale Friedens-, Entwicklungs- und Menschenrechtsorganisationen zusammengeschlossen um anlässlich des Doppelgipfels in Köln ihren alternativen Positionen Gehör zu verschaffen. Mit Demonstrationen, Aktionen und einem alternativen Weltwirtschaftsgipfel protestieren sie gegen die »Willkür der Finanzmärkte«, für ein Leben ohne Hunger, Krieg, Ausbeutung und Unterdrückung.

Neben der Kritik an der bestehenden Weltordnung bedarf es – auch angesichts der vielen Finanzkrisen – einer umfangreichen Reform des internationalen Finanzsektors, der die völlige Bewegungsfreiheit des internationalen Privatkapitals durch Kapitalverkehrskontrollen sowie die Besteuerung sämtlicher grenzüberschreitender Transaktionen (Tobin-Steuer) erschwert. Darüber hinaus geht es um einen weitreichenden Schuldenerlass für die ärmsten Länder der Erde.

In der Diskussion über eine ökologisch und sozial angepasste Weltwirtschaft ist der Pfad einer rein ökonomischen Logik, der auf das Leitbild des »freien Marktes« vertraut, zu verlassen und zu Gunsten eines anderen Erklärungstyps, der eine ökologisch und sozial verträgliche Organisation der Weltwirtschaft als Grundlage und Rahmenbedingung für das Funktionieren des Marktes sieht, zu ersetzen. Hierbei muss die Kategorie »Verantwortung« eine besondere Rolle spielen, insbesondere für die Bewohner der industrialisierten Welt, die ihren Ressourcenverbrauch drastisch einschränken müssen.

Allerdings kann die Verantwortung des Einzelnen nicht losgelöst von der individuellen Existenz in Verbindung mit den gesellschaftlichen Verhältnissen gesehen werden. Es ist an der Zeit, einen neuen Gesellschaftsvertrag einzufordern, der über die vielfältigen Behinderungen individueller Lebenschancen und Erlebnismöglichkeiten unter fremdbestimmten Bedingungen aufklärt, der die Zivilisierung und Demokratisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse zum Ziel hat, und in diesem Sinne »vor Ort« lokale Autonomien initiiert, die ein selbstbestimmtes und -organisiertes, soziales Leben ermöglichen.

Frieden braucht Entwicklung – Entwicklung braucht Entschuldung!

Ihre Margitta Matthies

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1999/1 Risiko Kapital, Seite