W&F 1987/2

Editorial

von Paul Schäfer

Ein Abrüstungsvertrag ist greifbar. Sein Abschloß wäre ein historisches Ereignis. Offen ist, was er in Gang setzen würde: eine Dynamik der Rüstungsminderung oder der erneuten Nach-Nachrüstung. Mittlerweile weiß man, daß die klassischen Abkommen der Rüstungskontrolle in aller Regel keine Wege zur Abrüstung geöffnet haben, sondern bloß die nächste technologisch-ökonomische Aufrüstungsrunde eingeläutet haben: alte Systeme wurden ausgesondert, die Installierung neuer tödlicher Kampfmittel ermöglicht.

Heute ist der Kampf um das Aufreißen einer realen Abrüstungsperspektive zugespitzt wie seit Jahrzehnten nicht mehr. In solchen Situationen treten die wirklichen Optionen der Beteiligten klarer hervor als in Zeiten politischer Ruhe. Die offizielle Friedensrhetorik dünnt sich rapide aus, die Legitimationen zerbröseln, es bleibt der schreckliche Satz: Frieden schaffen geht bloß mit atomaren Waffen. Wenn sich die NATO durch die Null-Lösungsangebote Moskaus „überfordert“ fühlt, im Westen die „Angst vor der Denuklearisierung grassiert“ dann heißt das: man fürchtet eine Weit ohne Atomwaffen. Das Credo dieses Bündnisses ist die Atomrüstung, der Doppelbeschluß war nie mehr als ein taktisches Manöver, reale, langfristige Abrüstungskonzepte, hinter denen ein politischer Wille steht, existieren nicht. Hektisch werden „Pferdefüße“ (Wörner) ausfindig gemacht, Argumentationsmuster variiert, Ablenkungsmanöver inszeniert, Junktims hergestellt und neue technologische Optionen eruiert.

Den politischen Willen für den Einstieg in eine Abrüstungsspirale gibt es in der Friedensbewegung. Sie fürchtet keine Denuklearisierung. Am 13. Juni demonstriert sie in Bonn.

Diesen politischen Willen zur Abrüstung mit fachkompetenten Konzeptionen professionell zu komplettieren, ist eine hervorragende Aufgabe der Wissenschaft. Wie sollen Armeen umstrukturiert, verringert, ungefährlich gemacht werden? Wie wird die technologische Rüstungsdynamik entschärft? Oder, am wichtigsten: wie baut man die gerüsteten Gesellschaften um – und wie ist eine friedliche Ordnung beschaffen? Solche Fragen machen den Unterschied aus zur Situation vor drei Jahrzehnten, als sich die „Göttinger 18“ gegen die atomare Bewaffnung der Bundeswehr erklärten. Ihr Einspruch trug dazu bei, Adenauers Pläne zu vereiteln. Sie setzten eine Tradition öffentlich verantwortlicher Wissenschaft fort, die bis heute wirkt. Die heutigen Einsprüche der Wissenschaft gehen weiter: sie zielen auf den gemeinsamen Eingriff in das politische Kräftefeld, um praktische Wege aus der Rüstungsdynamik zu öffnen. Solche Verantwortung nimmt die Zusammenhänge der eigenen Arbeit nicht aus: Ende Juni soll in Karlsruhe auf einer Konferenz der Naturwissenschaftler-Initiative über Rüstungs- und Friedensforschung referiert und diskutiert werden. Und: wohl doch anders als die „Göttinger 18“ versteht sich ein Großteil der Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen als dauerhafter Faktor in einer großen demokratischen Bewegung für eine vernünftige Friedenspolitik. Zu diesem Zweck haben die Initiatoren der „Mainzer Erklärung“ von 1983 zur Gründung eines Vereins aufgerufen. Es bedarf keiner großen Erklärung, daß wir dazu auffordern, die „Naturwissenschaftler-Initiative Verantwortung für den Frieden“ zu unterstützen – diesem Heft liegt eine Beitrittskarte bei.

Ihr Paul Schäfer

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1987/2 30 Jahre »Göttinger Erklärung«, Seite