W&F 1983/1

Editorial: Auch nach den Pershings

von Werner Dosch

In einer Situation von Drohung und Gegendrohung wird Rüstung zu einem in sich logischen und unbegrenzten Prozeß, der sich in seiner Zwangsläufigkeit von der ursprünglichen Zielsetzung einer Friedenssicherung verselbständigt und den Frieden stärker bedrohen kann als die ursprüngliche Gefahr, die durch Rüstung gebannt werden sollte.

Dies hängt einmal zusammen mit dem quantitativen Ausmaß, das Rüstung gegenwärtig erreicht hat und durch das Ressourcen und Kräfte so vereinnahmt werden, daß weltweite Verelendung und damit nicht nur Not und Haß, sondern auch Instabilität die Folge sind. Eine andere Konsequenz aus der scheinbaren Zwangsläufigkeit von Rüstung ist der Mangel an Freiheit, die Spirale stoppen zu können. Zwänge, in der Politik gerne als Alibi getarnt, bedeuten Verlust an Freiheit, an Handlungsfähigkeit. Wenn es an der entscheidenden Freiheit mangelt, Massenvernichtungsmittel aus der Welt zu schaffen, sind alle untergeordneten Freiheiten wie z.B. „Frieden in Freiheit“ illusorisch. Andere qualitative Konsequenzen der Rüstung ergeben sich aus der Technologie neuer Waffen. Die Menschheit muß noch mit Massenvernichtungsmitteln leben, die man „militärisch-rational“ bisher nicht verschießen konnte, weil die verfügbaren Trägersysteme zu unpräzis waren, um einen Gegenschlag auszuschließen. Der unausbleibliche technische Durchbruch zur „Erstschlagsqualität“ ist mit Systemen wie Pershing Il und Cruise Missiles erreicht. Der Atomkrieg kann mit derartigen Waffen, und er kann leichter als bisher auch „aus Versehen“ ausgelöst werden.

Die gesellschaftsformende Kraft der Friedensbewegung ist aus mehr als Raketenverweigerung erwachsen. Wir wollten vordringlich die Waffen verhindern, durch die der nukleare Omnicid näher rückt. Tatsächlich wollen und müssen wir mehr, vergessen wir das nicht, auch wenn wir zeitweilig entmutigt werden. Ob die Pershings kommen oder nicht, die Gefahr spitzt sich zu und wir müssen den Kern des Problems anpacken: Die Gesellschaft kann auf Dauer nicht mit den Mitteln zu ihrer Vernichtung leben. Wenn bornierte Logik, Trägheit und Egoismus zur Umkehr unfähig sind, dann muß aus dieser Gesellschaft eine neue Gesellschaft mit einem neuen Denken herauswachsen. Für dieses neue Denken wird Leben, unter dem Aspekt, daß es endgültig ausgelöscht werden könnte, an erster Stelle stehen. Nur so läßt sich der Widerspruch zwischen politischen und wirtschaftlichen Systemen überwinden. Jetzt geht es wirklich darum, daß wir mit unserer Friedensgesellschaft sehr Viele werden. Richten wir jetzt die Leidenschaft unseres Widerstands von den Pershings präzise auf die atomaren, chemischen und sonstigen Vernichtungsmittel und Vernichtungsstrategien. Wir haben die Chance, ausreichend Viele zu werden und somit verändern zu können, weil die Verweigerung, unsere Art auslöschen zu lassen, eine Idee ist, der Menschen aller Völker zustimmen können.

Werner Dosch ist Professor für Mineralogie am Institut für Geowissenschaften an der Universität Mainz und gehört zu den 23 Erstunterzeichnern des Mainzer Appells.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1983/1 1983-1, Seite