Ein demokratisches Europa – Europa von unten
von Andreas Buro
Europa von unten ist positiv besetzt. Es suggeriert Gemeinsamkeit und Solidarität der Menschen. Es klingt, als ob die wohlverstandenen Interessen aller die Politik des Ganzen bestimmten. Ja, ein Hauch jener Verse verbindet sich mit dem Slogan »Europa von unten«, in denen es heißt: „Sprechen erst die Völker selber, werden sie schnell einig sein.“
Gute Hoffnungen, wichtige Ermutigungen in einer Zeit, die so sehr von Skepsis geprägt ist. Doch kann man sich derartig einfache, schöne Bilder noch leisten bzw. sind sie realistisch angesichts einer zerklüfteten politischen, ökonomischen und sozialen Landschaft – gerade in Europa? Angesichts der Entstehung einer Festung Europa, einer Festung der Reichen, die nicht einmal Europa zusammenbringt, sondern vielmehr Europa mit neuen Festungsmauern zertrennt; in Zonen der Integration und Zonen des Chaos und Absturzes, wobei das Integrationsgebiet selbst durch die Ausgrenzung ganzer Teile der Gesellschaft ebenso gekennzeichnet ist, wie durch die Angst der Eingegrenzten aus ihrer Insel der Wohlstandsglückseligkeit hinausfallen zu können.
Die soziale, wirtschaftliche und politische Situation der Menschen in Gesamteuropa klafft also weit auseinander. Der anvisierte Supranationale Staat, genannt Politische Union, gilt nur für das EG-Europa, während sich die Staatsbildung und Konsolidierung bei gleichzeitigen Bemühungen um gesellschaftssystemare Transformation die ehemals bürokratisch-etatistischen, sogenannten real-sozialistischen Gesellschaften kennzeichnet. Tendenzen der Entdemokratisierung durch Supranationalisierung, stehen sehr vielfältige ethnisch-nationalistische Ideologisierungen von Gesellschaften des Ostens gegenüber, die nicht zuletzt als Herrschaftsinstrumente rivalisierender alter und neuer Eliten eingesetzt und entwickelt werden. Darüber hinaus wird angesichts der ungeheueren ökologischen, wirtschaftlichen, sozialen und politischen Probleme in den bürgerlich-parlamentarischen Demokratien deutlich, wie wenig funktionsfähig diese sind, wenn nicht Demokratisierung in den Gesellschaften, und zwar diesseits von Parteienarbeit kräftig sich entfaltet, um als Korrektiv für die oft zu kurzatmige, taktische Parteienpolitik, langfristige, auf Problemlösung orientierte soziale Lernprozesse zu befördern. Vergleichbare Arbeit gesellschaftlicher Bewußtseinsbildung durch Basisaktivitäten ist aber auch für die ehemaligen Ostblock-Gesellschaften dringend, um die Möglichkeiten der ideologischen Verhetzungen und Verführungen in den sich transformierenden Gesellschaften einzuschränken und das gut verstandene Interesse der Menschen zur Geltung zu bringen.
Innergesellschaftliche soziale Bewegungen als Voraussetzung
Diese ersten Aussagen lassen doch bereits eine erste wichtige Schlußfolgerung zu: Ein Europa von unten mit europäischer Gestaltungskraft wird es nur geben, wenn sich in den Gesellschaften der einzelnen Staaten und Regionen tatsächlich eine Basiskultur der BürgerInnen-Initiativen und sozialen Bewegungen entwickelt. Nach allen Erfahrungen – vor allem im EG-europäischen Raum – entstehen Basisaktivitäten nur aus Situationen, welche die Menschen materiell und psychisch stark berühren, und die eine kollektive (also nicht individuelle) Antwort und Reaktion begünstigen. In der Regel werden solche Situationen und daraus folgende Betroffenheiten nationalen Charakter haben. Unmittelbarkeit und Besonderheit der Situationen wirken sich in diesem Sinne aus.
Europäische Gemeinsamkeiten von unten sind nur dort zu erwarten, wo auch eine gemeinsam betreffende Herausforderung vorliegt, die in den einzelnen Gesellschaften in ähnlicher Weise psychisch verstanden und verarbeitet wird. Solche Gemeinsamkeiten müssen nicht immer gesamteuropäischen Charakter haben. Dies ist eher unwahrscheinlich. Viel wahrscheinlicher sind internationale Basiskooperationen zwischen einigen Ländern, die je nach Thematik variieren können. Ein gemeinsames Thema dieser Art, das über Jahrzehnten hinweg immer wieder europäische Basiskooperation anregte, waren die Bedrohungen aus dem Ost-West-Abschreckungssystem. Dabei ergaben sich zwei wichtige Beobachtungen. Eine Kooperation über die Blockgrenzen hinweg, kam kaum zustande, da sich im Ostblock Bewegungen von unten kaum entwickeln konnten, bzw. sich auf ihre sehr spezifischen nationalen Situationen einzustellen hatten.
In den westeuropäischen Staaten, in denen sich eine starke Friedensbewegung entwickeln konnte, blieb die internationale Kooperation trotz guter organisatorischer Ansätze und kompetenter Bemühungen häufig sehr schmalbrüstig. Neben den finanziellen Problemen, lag ein Grund hierfür darin, daß die nationalen Besonderheiten der Sicherheits- und Militärpolitik, auf die zu reagieren war, so viel Aufmerksamkeit der jeweiligen Friedensgruppen forderten, daß für eine wirksame Kooperation über die Grenzen hinweg nur wenig Kraft blieb. Am wirksamsten verlief die Zusammenarbeit dort, wo Internationales in die nationale Arbeit eingebaut werden konnte.
Ein zweiter Grund dafür, daß kaum mit einer starken europäichen Kooperation von unten zu rechnen ist, sondern eher die Ausnahme als die Regel sein wird, ist die Heterogenität der Bedingungen von Basisaktivitäten. Selbst eine so allgemeine Bedrohung wie sich anbahnende oder schon wirksame ökologische Katastrophen werden nicht unbedingt die Gemeinsamkeit herstellen können, bedeutet doch z.B. Umweltzerstörung unter den Bedingungen des Überflusses und denen der Armut sehr Verschiedenes.
Trotz dieser nicht gerade ermutigenden Prognose für die Entstehung gemeinsamer europaweiter Basisaktivitäten ist das Bemühen um europaweite Basisvernetzung sehr wichtig. Dabei kann es vorrangig nicht um eine Vereinheitlichung von Forderungen, Prioritäten und Interpretationen gehen. Die zentrale Aufgabe liegt in der Herausbildung von Vernetzungsstrukturen, die gegenseitige Information, einen argumentativen Dialog und falls dann gewünscht eine zumindest punktuelle Zusammenarbeit ermöglichen.
Bis zum Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums konnte dieses Ziel gesamteurpäisch nicht erreicht werden. Zwar gab es Versuche aus dem Bereich der östlichen Friedensräte, die jedoch die Block-Parteilichkeit nicht überwinden konnten und so Glaubwürdigkeit nie erreicht haben. Ansätze aus dem Bereich »östlicher Dissidenten« konnten sich aufgrund der herrschenden Repression nicht entwickeln.
Erst mit der Auflösung der Ost-West-Konfrontation und den gesellschaftlichen Umwälzungen im Ostblock verbesserten sich die Bedingungen für den Versuch, ein gesamteuropäisches Basisnetz zu knüpfen.
Helsinki Citizens Assembly (HCA)
Das wohl wichtigste und umfassendste Experiment in dieser Absicht war die Gründung der Helsinki Citizens Assembly (HCA), also einer Bürgerversammlung aus den KSZE-Ländern, sowohl aus Osteuropa als auch aus Westeuropa. Mit diesem Rahmen wurde signalisiert, es solle nicht nur um Friedens- und Abrüstungsfragen, sondern um das gesamte Spektrum menschenrechtlich orientierter, gesellschaftlicher und politischer Entwicklung gehen.
Die HCA wurde am 19.-21. Oktober 1990 in Prag gegründet. Fast tausend Menschen aus fast allen KSZE-Staaten waren gekommen. Präsident Vaclav Havel forderte die Anwesenden auf, dem Helsinki Prozess unter den nun ganz anderen Bedingungen neue Impulse zu versetzen, um zu einem gemeinsamen Sicherheitshintergrund für ein intergriertes Europa zu gelangen. Die Hoffnungen waren groß, die Praxis erwies sich, wie nicht anders zu erwarten war, als sehr schwierig. Trotzdem konnte auf der Versamlung der HCA im März 1992 in Bratislava eine ansehnliche Bilanz von Aktivitäten vorgelegt werden. Eine der spektakulärsten war die von der HCA organisierte Friedenskarawane Ende September 1991 durch die Folgerpubliken Jugoslawiens. Die Arbeit der HCA wird in 7 Internationalen Kommissionen organisiert: Zivile Gesellschaft, europäische Institutionen und europäische Integration; Menschenrechte; Wirtschaft und Ökologie; Frauen; Demilitarisierung und Friedenspolitik; Kultur; Nationalismus und föderale Strukturen.
Die beiden Vorsitzenden der HCA Mary Kaldor (Großbritannien) und Sonja Licht (Serbien) beschrieben die HCA folgendermaßen: Sie sei zwar keine wirkliche Organisation im engeren Sinne, aber habe doch die Doppelfunktion, gleichzeitig Netzwerk und soziale Bewegung zu sein. Richtiger wäre wohl, von einer partiellen Zusammenarbeit vieler einzelner sozialer Initiativen und Bewegungen zu sprechen, welche dann aber doch gebündelt in den Organisationsstrukturen der HCA viele konkrete Projekte vorangetrieben haben.
Projekte und Aktivitäten
So wurde in Subotica in der Vojwodina/Serbien ein ziviles Zentrum für Konfliktbewältigung gegründet, das in ethnischen, linguistischen und religiösen Konflikten zu vermitteln sucht. Mit dem Europarat und EG-Vertretern wurde über die Formen möglicher politischer Superstrukturen für Europa in Seminaren diskutiert. Die HCA bekam im Europa-Rat sogar den Status einer konsultativen Organisation. Zum KSZE-Gipfel-Treffen 1990 in Paris war eine HCA-Delegation mit am Tisch.
Man bemühte sich auch, die Zusammenarbeit mit anderen NGOs (Nicht-Regierungsorganisationen) zu verbessern, insbesondere in bezug auf den »Helsinki-Prozess«. Kommissionen der HCA beschäftigten sich mit Problemen der Rüstungskonversion und forderten eine internationale Agentur, die sich um die Unterstützung und Finanzierung solcher Umwandlungen bemühen sollte. Über die Probleme der Privatisierung in Osteuropa wurde gearbeitet. Dieser Prozess sollte nicht allein von oben und durch die großen Kapitale erfolgen, es sollten auch genossenschaftliche, kommunale und von den ProduzentenarbeiterInnen selbst betriebene Unternehmungen entstehen, um mehr Sozialverpflichtung zu sichern.
Italienische, französische und spanische HCA-Gruppen waren besonders aktiv, um einen KSZE-Prozess für die Mittelmeerregion vorzubereiten – ein besonders schwieriges Projekt angesichts der besonderen Differenzen in Reichtum und Armut, Kultur und Religionen, die hier zusammentreffen. Man schickte ferner eine Delegation, um auf den türkisch-kurdischen Konflikt einzuwirken, organisierte Treffen zu Fragen der ukrainischen Sicherheit und Minoritäten und vieles mehr.
Probleme
Die erste Jahrestagung nach Gründung brachte aber auch die Fülle der Probleme zum Vorschein. Wie nicht anders zu erwarten, machen der HCA die oben schon angedeuteten Strukturprobleme und die Heterogenität der europäischen Landschaft kräftig zu schaffen. Auf der Jahresversammlung 1992 in Bratislava waren z.B. die »Westeuropäer« im Vergleich zur Gründungsversammlung in Prag nur relativ dürftig vertreten, repräsentativ für die zivile Gesellschaft der sozialen Bewegungen waren sie keineswegs. Über 60% der immerhin 700 Teilnehmer und Teilnehmerinnen kamen aus Osteuropa. Sie spiegelten die Vielfalt der dortigen Sichtweisen wieder, also auch den aufkeimenden Nationalismus im Gefolge des Zerfalls des sowjetischen Imperiums. Das Motto der Tagung „Neue Mauern in Europa. Nationalismus und Rassismus – zivile Lösungen“ griff zwar diese Problematik auf, die Diskussionen zeigten jedoch, wieviel hiernoch aufzuarbeiten sein würde, um ein gegenseitiges Verständnis zu erreichen.
Mary Kaldor und Sonja Licht wiesen in ihrer Einleitung auf die großen organisatorischen Probleme der HCA hin. Es fehlt nicht nur an den materiellen Ressourcen für die teure internationale Arbeit, sondern es hat sich auch die typische Struktur der Überlastung einzelner Personen und Sekretariate ergeben, während andere sich ganz ungenügend in den Arbeitsprozeß eingebunden und schlecht informiert fühlen. Ein Mangel an Konsultationsmöglichkeiten trägt zur Entstehung von Mißverständnissen und Konflikten bei. Obwohl inzwischen 33 nationale HCA-Sektionen gegründet sind, muß bezweifelt werden, ob diesen bereits eine wirksame Arbeit in ihren jeweiligen Bereichen gelungen ist. Darüberhinaus stellt sich die Frage, wie weit nicht eine Regionalisierung der Arbeit angesichts des Bedeutungsverlustes der Nationen zumindest in Westeuropa anzustreben sei. Eine geplante Neustrukturierung der HCA soll die Probleme überwinden helfen.
Hier sollte ein kurzer Einblick sowohl in die Notwendigkeit als auch in die Schwierigkeit eines Aufbaus eines Europa von unten am Beispiel der HCA gegeben werden. Viel Energie, Ideen und Leidenschaft sind erforderlich, um wenigstens eine beständige Arbeit für das bisher Erreichte zu gewährleisten. Aber wer glaubt, ein Europa von unten ist einfacher zu bauen als ein Europa von oben, der täuscht sich.
Andreas Buro ist Sprecher des Komitees für Grundrechte und Demokratie und Mitglied im Vorstand.