Ein Europäischer Pivot?
von Jürgen Wagner
Er ist in aller Munde, der US-amerikanische »Pivot« (inzwischen »Rebalancing« genannt), die Schwerpunktverlagerung nach Ostasien. Sie erfolgt vor dem Hintergrund profunder machtpolitischer Verschiebungen, insbesondere zugunsten Chinas, denen Washington mit einer gesteigerten Präsenz in der Region begegnen will. Mit dieser Entwicklung gehen beträchtliche Risiken einher, warnte Avery Goldstein unlängst in der renommierten »Foreign Affairs« (September/Oktober 2013): Es „existiere eine reale Gefahr, dass Peking und Washington in eine Krise schlittern könnten, die schnell zu einem militärischen Konflikt eskalieren könnte.“ Hierzu tragen auch die sich verschärfenden regionalen Konfliktdynamiken bei. Dies betrifft nicht allein die »Großbaustellen«, die chinesisch-japanischen und chinesisch-indischen Spannungen, sondern eine Reihe weiterer Konflikte in der Region, denen sich diese Ausgabe von W&F widmet.
Unterdessen hat der »Pivot« auch die europäische Strategiedebatte befeuert, wobei sich grob zwei Denkschulen unterscheiden lassen. Da wären einmal diejenigen, die argumentieren, die US-Schwerpunktverlagerung mache es notwendig – oder eröffne die Chance, je nach Blickwinkel –, sich nun endgültig als regionale Ordnungsmacht im europäischen Nachbarschaftsraum zu etablieren. Hierfür sei aber ein stärkeres, auch militärisches, Engagement erforderlich, wie etwa Patrick Keller von der Konrad-Adenauer Stiftung im Reader Sicherheitspolitik (27.03.2013) schreibt: „Angesichts der strategischen Neuausrichtung der Amerikaner wird Europa seine Interessen in dieser Region – und auch auf dem Balkan, im Kaukasus und im Hohen Norden – selbst durchsetzen müssen. Das geht in erster Linie durch politische und wirtschaftliche Kooperation, kann als äußerstes Mittel aber auch den Einsatz militärischer Gewalt erfordern.“
Doch manchen geht dies noch nicht weit genug: Sie plädieren dafür, angesichts der wachsenden Bedeutung Ostasiens müsse die EU dort auch sicherheitspolitisch Flagge zeigen. Besonders im Institute für Security Studies (ISS), der strategischen Denkfabrik der Europäischen Union, wurde hierüber lebhaft debattiert. So argumentiert Nicola Casarini, schon seit etwa einem Jahrzehnt sei ein »europäischer Pivot« im Gange, der sich aber primär auf nicht-militärische Aspekte erstrecke: „Der Fokus des europäischen »Pivot« liegt primär auf ökonomischen, finanziellen, technologischen, generell auf »soft power«-Fragen und weit weniger darin, die Militärpräsenz auszubauen und Sicherheitsbündnisse zu schmieden. Er schließt Elemente mit Verteidigungsbezügen ein, aber eher in Form militärischer Dialoge, Austauschprogramme, gemeinsamer Übungen und Waffenverkäufe.“ (ISS Alert, März 2013)
Einige prominente Sicherheitspolitiker drängen derzeit aber darauf, eine Änderung des bisherigen Kurses zu erwirken. So fordert etwa James Rogers, der vom ISS mit der Ausarbeitung des Vorschlagskatalogs für den »Rüstungsgipfel« der EU-Staats- und Regierungschefs im Dezember 2013 beauftragt wurde: „Europa könnte seine Bereitschaft unter Beweis stellen, Kriegsschiffe in unsichere Regionen zu entsenden, um bestimmten Staaten zu zeigen, dass illegitime Souveränitätsansprüche im südchinesischen Meer von den Europäern nicht anerkannt werden.“ (South China Sea Monitor, August 2012)
Ähnlich ambitioniert heißt es im Berichtsentwurf des Europäischen Parlaments »über maritime Aspekte der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik«, der im Frühjahr 2013 unter der Ägide der sozialdemokratischen Europaabgeordneten Ana Gomes vorgelegt wurde: „[Das Europäische Parlament] fordert die HV/VP [EU-Außenbeauftragte] auf, potenzielle Bedrohungen für den Frieden, für die Sicherheit der maritimen Verkehrswege und den offenen Zugang zu benennen, denen europäische Schiffe, Handelsinteressen und Bürger im Falle einer Eskalation von Spannungen und bewaffneten Konflikten im Ost- und Südchinesischen Meer ausgesetzt sein könnten; fordert die umgehende Benennung der Mittel und Ressourcen (insbesondere Flotten), die die EU für einen Einsatz in der Region benötigen würde, um Bürger der EU und anderer Staaten zu evakuieren, die Interessen der EU und die internationale Rechtsordnung zu bewahren und zu verteidigen, an internationalen Bemühungen zur Eindämmung gefährlicher Politik teilzunehmen, Aggressionen einzudämmen und die Sicherheit der Schifffahrt im Ost- und Südchinesischen Meer und in der Straße von Malakka zu garantieren.“
Die Tatsache, dass dieser Passus in der schlussendlich vom Parlament am 12. September 2013 verabschiedeten Fassung fast vollständig gestrichen wurde, deutet darauf hin, dass es für derlei ambitionierte Positionen derzeit (noch) keine Mehrheit zu geben scheint. Erkennbar ist dennoch, dass aus friedenswissenschaftlicher Perspektive der Region Asien/Pazifik künftig mehr Aufmerksamkeit gezollt werden muss – und zwar nicht allein aufgrund der Aktivitäten der USA und regionaler Akteure, sondern auch vor dem Hintergrund der aktuellen Debatten in der Europäischen Union.
Ihr Jürgen Wagner