W&F 1993/2

Ein europäischer Unfrieden

Politische Reisenotizen von Skopje nach Zagreb (II)

von Michael Kalman

Vom 20. Februar bis 1. März 1993 unternahm eine gemischte Delegation aus dem Bayerischen Landtag, Flüchtlingsrat, Friedensbewegung, Studentenvertretung und Friedensforschung eine Informationsreise in das ehemalige Jugoslawien. Die Stationen der Reise, die überwiegend von den GRÜNEN im Bayerischen Landtag finanziert wurde, waren Skopje, Pristina, Belgrad, Novi Sad und Zagreb. Wir setzen den Reisebericht mit dem 2. Teil fort.

Die Bundesrepublik Jugoslawien, insbesondere die Republik Serbien ist – das ist unstrittig – in diesen Krieg involviert. Kontrovers müssen aber Formen und Ausmaß von Belgrads Engagement diskutiert werden. Mit den nationalistischen großserbischen Vorstellungen eines Milosevic ist die geistige Mittäterschaft zweifelsfrei gegeben, auch wenn expansionistische Staatsideen zum »normalen« Repertoire der radikalen Elemente fast jeder größeren ethnischen Gruppe im ehemaligen Jugoslawien gehören. Kein seriöser Experte bestreitet ferner die logistische Unterstützung der bosnisch-serbischen Einheiten. Der stellvertretende bosnische Präsident sprach gar von regelmäßigen »Linienflügen« von hundert bis zweihundert serbischen Versorgungshubschraubern des Typs MI-8 nach Bosnien-Herzegowina. Der deutsche Geschäftsträger in Belgrad war da zurückhaltender. Von der Vorsitzenden des Serbischen Roten Kreuzes in Belgrad bekommen wir hingegen zu hören, daß in der Region Banja Luka serbische Kinder sterben müssen, weil die serbischen Hubschrauber keine Hilfsflüge mit nötiger Medizin mehr unternehmen können.

Es wird ferner behauptet, daß die serbisch-bosnischen Einheiten vom Generalstab der Jugoslawischen Streitkräfte in Belgrad operativ geführt werden. Eindeutig ist hingegen, daß seit der Reorganisation im Mai 1992 keine Bodentruppen der Jugoslawischen Streitkräfte in Bosnien-Herzegowina mehr operieren. Teile der jungen kroatischen Streitkräfte sollen hingegen immer wieder offen an der Seite des Kroatischen Verteidigungsrates, der militärischen Komponente der Kroaten in Bosnien, vor allem in der Herzegowina operiert haben.

Durch das Raster der Schwarz-Weiß-Malereien der deutschen Presse fallen häufig auch die Versuche der Regierungen in Belgrad und Zagreb, sich im geheimen zu arrangieren. So enthüllte ein kroatischer Präsidentenberater bereits Mitte 1991 der Londoner »Times« Geheimgespräche zwischen Tudjman und Milosevic über eine Aufteilung Bosnien-Herzegowinas. Am 6. Januar 1993 nun erzielten Milosevic und Tudjman eine Geheimvereinbarung, wonach die Republik Serbien bei der bevorstehenden Krajina-Offensive kroatischer Verbände ein Eingreifen der Jugoslawischen Streitkräfte unterbinden würde. Milosevic schien also von den geplanten kroatischen Operationen um die Maslenica-Brücke gewußt zu haben. Der serbische Regierungschef möchte offenbar den paramilitärischen Einheiten Serbiens keine uneingeschränkte Unterstützung mehr zukommen lassen.

Die irregulären bewaffneten Gruppen

Denn der Krieg wird sehr stark von paramilitärischen Einheiten und Parteiarmeen geprägt, die niemand kontrolliert, aber insbesondere Belgrad fortdauernd und zusätzlich in Mißkredit bringt. Wie der deutsche Geschäftsträger in Belgrad sinngemäß ganz zutreffend bemerkt: Selbst wenn Milosevic nichts Schlechtes tun würde, so unterläßt er es doch, Gutes zu tun. Gemeint ist die aktive Herstellung der Kontrolle aller paramilitärischen Einheiten jener Serben, die sich auf dem Boden der Bundesrepublik Jugoslawien, insbesondere in Belgrad, völlig frei bewegen können und deren berüchtigte Führer in der serbischen Hauptstadt ungeniert und ungehindert Geschäfte betreiben können. Der militärische Arm der rechtsradikalen kroatischen »Partei des Rechts« von Paraga ist in Kroatien immerhin verboten worden, Paraga selbst muß sich in vier Gerichtsverfahren verantworten. Gleiches wäre in Belgrad zu fordern, um insbesondere die Beli Orli (Weiße Adler) des Mirko Jovic, die Dusan Slini (Dusan der Mächtige) von Dragoslav Bokan und »Arkans Tiger« unschädlich zu machen. Allerdings unterhält auch der Führer der ultranationalistischen »Serbischen Radikalen Partei«, Vojislav Seselj, eine Art Privatarmee, die in Bosnien kämpft. Nach den Wahlen vom Dezember 1992 ist Seselj Koalitionspartner von Milocevics Sozialistischer Partei, was die Schwierigkeit illustriert, den irregulären Einheiten den Garaus zu machen, falls dies überhaupt der Wille der Sozialisten wäre.

Auch der royalistische Oppositionspolitiker Vuk Draskovic (Serbische Erneuerungsbewegung) unterhält seine »Serbische Garde«, die sich allerdings in letzter Zeit eher zurückhält.

Auf Seiten der anderen Kriegsparteien kämpfen ebenfalls paramilitärische Einheiten – so die »Grünen Barette« bei den Muslimen und neben der schon erwähnten HOS, kleinere Einheiten wie die »Zebras« des Sinisa Dvorski, die den ehemaligen »Ustasa«-Neofaschisten zugerechnet werden.

Aus diplomatischen Kreisen eines Staates, dessen Regierung alles andere als serbienfreundlich gilt, hören wir, daß die sogenannte »ethnische Säuberung« gängige Praxis aller drei ethnischen Gruppen in Bosnien-Herzegowina sei, lediglich die Serben würden dabei besonders erfolgreich agieren.

Was die hier kursorisch und unvollständig aufgezählten irregulären bewaffneten Gruppen zusammen mit den »regulären« Streitkräften alles angerichtet haben, erfahren wir exemplarisch in den Flüchtlingslagern außerhalb der Kriegsgebiete. Der Flüchtlingsstrom scheint nicht enden zu wollen – auch Makedonien ist von ihm betroffen. Obwohl das Land nach der offiziellen UNHCR-Statistik im November 1992 »nur« 19.000 Flüchtlinge aufgenommen hat – unsere Gesprächspartner im Lande selbst nennen Ende Februar 1993 die Zahl von 40.000 – bedeuten diese für das wirtschaftlich ausgeblutete Land eine erhebliche Zusatzbelastung. Ein vertriebener bosnischer Muslim erzählt in Gostivar seine Geschichte. Dieser Mann von Anfang dreißig aus Zvornik (Ostbosnien), sah sich angesichts des Dauerterrors von Einheiten der bosnischen Serben und paramilitärischen Gruppen Ende April 1992 zur Flucht genötigt. Er überquerte die Drina und erreichte am anderen Ufer die Republik Serbien. Von einer Anhöhe konnte er die Einnahme und Zerstörung seiner Heimatstadt beobachten. Moscheen wurden einfach in die Luft gesprengt, zahlreiche Häuser brannten. Der Vertriebene konnte ausgehobene Massengräber erkennen, in welche die zahlreichen Leichen einfach reingeschmissen wurden. Er versteckte sich in einem Wochenendhaus in den serbischen Wäldern. Dann schlug er sich nach Loznica durch, von wo er mit einem regulären Linienbus nach Subotica (Wojwodina), nahe der ungarischen Grenze, gelangte. Dort meldete er sich beim Serbischen Roten Kreuz und versuchte sich Ausreisepapiere zu besorgen. Der Vertreter des Roten Kreuzes wies ihn zurecht und drohte dem bosnischen Flüchtling eine Rekrutierung in die Jugoslawische Armee oder die Gefangennahme als Geisel für einen späteren Gefangenenaustausch an. Daraufhin floh der Muslim nach Novi Sad und fand wochenlang Unterschlupf beim dortigen Imam. Später gelang ihm offenbar problemlos die Flucht mit einem Reisebus über Nis nach Skopje. Hier und später in Gostivar wird er von der islamischen Hilfsorganisation El Hilah (Neumond) betreut.

Flüchtlingselend auch auf serbischer Seite. In der »Kollektiven Unterbringungsstätte« Pionierski Grad am Stadtrand von Belgrad sprechen wir mit einer alten Frau aus Vukovar. Ihr lebensbejahendes, aber verbrauchtes Gesicht kann ein schluchzendes Stocken in ihrer Stimme nicht verbergen als sie auf die Umstände ihrer Flucht angesprochen wird. Sie kam Ende 1991 hier an und hoffte auf einen nur kurzen Aufenthalt von wenigen Wochen im Camp – nun ist sie schon weit über ein Jahr hier und sieht keine Aussicht, daß sich das ändert. 162.000 serbische Frauen und Männer sind bisher aus Kroatien (Krajina und Slawonien) vertrieben worden – eine Zahl, die in den deutschen Medien nicht vorkommt.

Flüchtlingslager in Zagreb

Wir besuchen mit einem Kinderarzt aus Deutschland, der sich für die Hilfsorganisation »Suncocret« (Sonnenblume) ein halbes Jahr als freiwilliger Helfer in Kroatien verpflichtet hat, ein muslimisches Flüchtlingslager in Zagreb. Die vierstöckigen Mietshäuser der Einheimischen des Vororts sind in gutem baulichen Zustand. Durch eine Toreinfahrt gehen wir in einen Hinterhof, der in Ödland übergeht. Hier stehen vier niedrige Holzbaracken, die den Bauarbeitern der Firma »Tempo« einmal als Arbeitsunterkunft dienten. Jedes der Provisorien ist ca. 40 Meter lang und zwölf Meter breit. Hier hausen 700 überwiegend muslimische Flüchtlinge, einige kroatische Familien aus den Kriegsgebieten sind auch dabei. In den einzelnen Zimmern mit 16 bis 20 Quadratmetern müssen sich fünf bis zehn Personen zusammendrängen. Niemandem steht mehr als drei Quadratmeter Wohnfläche zur Verfügung. Jedes Zimmer hat zwar uralte Kohleöfen, aber die dünnen Holzwände sind nicht isoliert, es ist zugig und feucht. Über ein Drittel sind Kinder und Jugendliche, die auf dem Hof spielen und toben. Hungern muß niemand, aber der Mangel ist spürbar. Unser deutscher Begleiter spricht von erheblichem Proteinmangel der Flüchtlinge. Um dem ärgsten Vitaminmangel vorzubeugen, hat er ein »Fruchtprogramm« aufgelegt. Das bedeutet: Für jede/n pro Woche einen Apfel. Wir gehen in ein kleines Barackenhäuschen mit den sanitären Anlagen. Zwei Frauen rubbeln Wäsche in den vier einzigen Waschbecken des gesamten Lagers. Abgeteilt davon die Toiletten, in ziemlich verrottetem Zustand, ebenfalls vier an der Zahl. Dies heißt nichts anderes: 175 Kinder, Erwachsene und Greise müssen sich eine Toilette teilen. Wieder im Hof wehen uns rauchige Schwaden ins Gesicht. Am Rande der Barracken liegt die eigene wilde Mülldeponie, der Abfall wird durch offenes Feuer »entsorgt«. Wer hier nicht krank wird, muß eine sehr robuste Natur haben.

Sind die äußeren Bedingungen dieser vertriebenen Menschen schon mehr als dürftig, so sind die psychischen Folgen von Mord, Greuel und Vertreibung kaum noch in Worte zu fassen.

Der »Lagerälteste«, ein alter gebeugter Muslim mit wachen Augen und zerfurchtem, faltigem Gesicht, begrüßt uns herzlich. Er wird seine Heimat, in der er viele Jahrzehnte friedlich gelebt hat, vielleicht nie mehr wiedersehen. Seine Redepausen, sein Stocken, die feucht werdenden Augen erzählen uns mehr als seine Geschichten. Dabei gehören diese Menschen noch zu den Davongekommenen.

Und dennoch: Der Krieg und der Völkerhaß dringt auch hierhin. Seitdem sich auch Muslime und Kroaten in Bosnien-Herzegowina bekämpfen, gibt es fast kein gemischtes Lager mehr mit Muslimen und Kroaten. Die Auseinandersetzungen wollten kein Ende mehr nehmen. Auch die christlichen und muslimischen Hilfsorganisationen stecken ihre »claims« ab. Nichtmuslimische Hilfsorganisationen haben es immer schwerer, in Flüchtlingslager der bosnischen Muslime zu gelangen.

Das Bestürzendste ist jedoch, daß die wehrfähigen Flüchtlinge als Menschenmaterial für den Krieg interessant bleiben. Die kroatische Polizei führt nachts Razzien in Flüchtlingslagern durch und zwingt die Männer – Kroaten, vor allem aber Muslime – zum Kampf an die Front. Neben dem immer offensichtlicher werdenden kroatisch-muslimischen Gegensatz gibt es nämlich noch einen weitreichenden Verteidigungspakt, den die Präsidenten Tudjman und Izetbegovic am 24. September 1992 in New York bekanntgaben. Danach verpflichtete sich die kroatische Seite auch zu dieser unmenschlichen Art von »Unterstützungsleistung«. Nun leben die Mütter in ständiger Angst um ihre Söhne, die sie so gut es geht vor dem Zugriff der Häscher zu verstecken suchen.

Zurück im »Hauptquartier« der Suncocret. Hier arbeiten Freiwillige – häufig aus dem Ausland – zur Betreuung der ca. 650.000 registrierten Flüchtlinge in Kroatien. Die Helfer aus Deutschland werden vom Service Civil International (SCI) in einem sechswöchigen Kurs auf ihre Aufgaben vor Ort vorbereitet. Die Helfer werden auf die Camps verteilt. Pro Flüchtlingslager arbeiten zehn freiwillige Helfer und vier Einheimische. Die freundliche, junge Kroatin in der unkomfortablen »Zentrale« von Suncocret gibt sich unpolitisch, will helfen, das Leid vermindern. Was wären die Flüchtlinge ohne diese Wellen der Hilfsbereitschaft, obwohl die meisten davon nach Kroatien, weit weniger nach Serbien gehen. Nichts in diesem gewalttätigen Konflikt kann unpolitisch bleiben. Der »Politik der Hilfe«, obwohl ein wenig asymmetrisch angewandt, kommt sicher erstrangige Bedeutung zu.

Anti-War-Center in Zagreb

Auch Zagreb hat sein Anti-War-Center. Es wurde zur gleichen Zeit wie in Belgrad, im Juli 1991 gegründet. Zoran Ostric erzählt von der Arbeit. Ein Schwerpunkt sind Menschenrechtsfragen. Zusammen mit amnesty international ist ein Buchprojekt durchgeführt worden. Auf der innenpolitisch-gesellschaftlichen Ebene soll das Recht auf Zivildienst durchgesetzt werden. Das Antikriegszentrum initiiert zudem eine Rechtshilfe für Menschenrechtsfälle. Die Situation der Serben in Kroatien ist alarmierend. Immer wieder werden ganze Häuser mitsamt serbischen Familien in die Luft gesprengt. In Split wurde das Haus eines Kroaten, der einen Serben in Schutz genommen hatte, dem Erdboden gleichgemacht. Es gibt im Lande kaum noch Rechtsanwälte, die bereit sind, Serben zu verteidigen.

Ein weiterer Schwerpunkt sind Workshops für gewaltfreie Lösungen. Zoran erweist sich als Realist und Mann der Praxis. Er mißt den sozialen Bewegungen wichtige Funktionen vor und nach gewalttätigen Konflikten zu. Sind die kriegerischen Auseinandersetzungen jedoch erst einmal ausgebrochen, so blieben den Bewegungen keine direkten Einwirkungsmöglichkeiten mehr.

Zoran wünscht sich eine Verlängerung des UNPROFOR-Mandats in den Schutzzonen Slawoniens und der Krajina, das zum 21. Februar 1993 ausgelaufen ist. Die Blauhelme sollten erweiterte, quasi hoheitliche Funktionen erhalten. Ihm schwebt eine Art Protektorat der Schutzzonen-Gebiete vor, in dem das Militär notfalls auch gesellschaftliche Funktionen übernimmt. Es soll jedoch vor allem einer vergrößerten zivilen Komponente der UNO vorbehalten bleiben, die Verwaltung aufzubauen und soziale Probleme zu moderieren und zu bearbeiten. Nur in einem solchen Protektorat könnten soziale Bewegungen in Krisengebieten agieren. Ich frage Zoran nach den »Praxis«-Philosophen in Zagreb. Ja, sie gibt es noch, die Intellektuellen undogmatisch-marxistischer Provenienz des ehemaligen Jugoslawien. Er empfiehlt durchaus das Gespräch mit ihnen, moniert jedoch deren abgehobene, theoretische Art. Auch Sonja Licht bezieht er in diese Beurteilung mit ein. Ihre Überlegungen seien doch sehr »global« angelegt, wo es doch vor allem gelte, im Lokalen zu wirken.

Die Arbeit des Antiwar Centers ist zu würdigen und unterstützenswert, nicht zuletzt wegen der Mailbox-Verbindung mit den anderen Zentren in Ljubljana und Belgrad. Hier kann in einer Zeit abgebrochener Kommunikation wichtige Vernetzungsarbeit geleistet werden. Dennoch regt sich bei mir Widerstand gegen diese Art von Theorievergessenheit. Schließlich handelt der Mensch in der Praxis immer theoriebezogen, ob es ihm bewußt ist oder nicht. Das unterscheidet ihn vom Regenwurm. Auch Zoran hat ein theoretisches Raster, daß von Sonja Lichts Konzept einer »civil society« sicher nicht weit entfernt ist.

Die »unpolitischen« Intellektuellen

Ein kleiner Teil unserer Delegation besucht Professor Flego in seiner Zagreber Wohnung. Er ist einer der »ungleichzeitigen« Intellektuellen, die es im Zeitalter der »nationalen Wiedergeburt« Kroatiens gleichwohl noch gibt und die sich der einfältigen Dichotomie kroatisch-unkroatisch nicht fügen. Der Hochschullehrer für Philosophie an der Universität Zagreb schildert uns mit ruhigen und sachlichen Worten die aktuelle Situation in Kroatien. Nein, seine Stelle an der Universität sei nicht gefährdet, administrative Maßnahmen gegen ihn und andere Kollegen wurden bisher nicht ergriffen oder angedroht. Das Klima an den Hochschulen allerdings hätte sich verändert. Immer häufiger würden (ehemalige) »Praxis«-Philosophen kompromittiert, meistens beschränkt auf die Privatsphäre. Auch öffentliche Angriffe in Form von Beiträgen in Fachzeitschriften und Tageszeitungen würden geführt. Gegendarstellungen allerdings werden genauso ungekürzt veröffentlicht. Irgendwann werde auch er sich gegen die Anwürfe öffentlich wehren müssen.

Inzwischen ist »Kroatische Philosophie« als Studienfach an der Universität Zagreb eingeführt worden. Der Kroate Petricius gilt als mittelalterlicher Begründer der Hermeneutik. Wie wäre es, wenn Max Streibl die Einrichtung eines Lehrstuhls für »Bayerische Philosophie« verfügen würde? Provinzialistische Größenordnungen auch im wissenschaftlichen und literarischen Output Kroatiens: vor dem Krieg habe es in der Teilrepublik jährlich 2.000 selbstständige Publikationen gegeben. Nun sind es nur 200. Dafür ist allerdings auch die allgemeine wirtschaftliche Lage verantwortlich.

Die Universitäten in Kroatien – Osijek, Zadar, Pula, Rijeka, Split und Zagreb – werden zentralistisch gelenkt, die Alleinkompetenz der Gebietskörperschaften ist abgeschafft worden. Die Studenten seien völlig apolitisch. Sie hätten sich zwar in Vereinigungen organisiert, würden jedoch nicht profiliert in der Öffentlichkeit hervortreten.

Die Kollateralschäden des kroatischen Ethnonationalismus, die teils verständliche, teils irrationale Abgrenzung gegenüber dem Feind Serbien, überhaupt die ganzen Geburtswehen des neuen Staates, haben offensichtlich eine lebendige demokratische Öffentlichkeit und politische Kultur bislang verhindert. Hier sind ganz verschiedene Faktoren bestimmend. Mit der Unabhängigkeit spielen nun ganz neue/alte gesellschaftliche Substrate eine größere, zuweilen dominierende Rolle. Exilkroaten, insbesondere Ustasa-Emigranten kehren nach Kroatien zurück. Eine gewisse Indifferenz gegenüber dem kroatischen Faschismus im Zweiten Weltkrieg macht sich breit. Tudjman habe in seinem Werk über die kroatische Geschichte immerhin die Massenmorde der Ustasas an den Serben nicht geleugnet. Gleichwohl taxiert er die Anzahl der Toten auf 40.000 bis 60.000 und nicht, wie historisch belegt ist, auf mindestens 400.000. Diese Zugeständnisse scheint der Staatspräsident gegenüber den oft sehr vermögenden Exilkroaten machen zu müssen, die zu den wichtigsten Investoren im Land gehören.

Seit Jahren wird die kroatische Bevölkerung mit Dauerpropaganda überschwemmt. Die Angestellten bei Fernsehen und Hörfunk sind fast komplett ausgewechselt worden. Da das Vertriebssystem für Zeitungen und Zeitschriften fest in der monopolistischen Hand des Staates ist, werden die letzten noch unabhängigen Blätter benachteiligt, womit ein indirekter Hebel der Zensur gegeben ist. Mittlerweile droht auch der letzten kritischen Zeitung, die »Slobodna Dalmacija« das Aus.

Überall im Lande werden Straßen und Plätze umbenannt. In Zagreb soll eine Straße nach dem Minister der Regierung des Faschisten Ante Pavelic benannt werden. Die staatliche Kommission für die Umbenennung der Straßen versucht jetzt in Übereinstimmung mit den Anwohnern einen heiklen »Kompromiß«. Danach soll die Straße nun »Straße des Schriftstellers Mile Budak« heißen. Dieser Mile Budak, der auch Schriftsteller war, gehört zu den Mitunterzeichnern jenes Rassengesetzes, daß die Grundlage für die Ausrottung von Juden, Serben und Zigeunern lieferte.

Die Renaissance der Kirche

Auch die katholische Kirche feiert ihre Renaissance, ja ihr »Roll-back«. Sie ist „unter Kardinal Kuharic zur fünften Kolonne von Franjo Tudjmans autoritär-chauvinistischer Sammlungsbewegung »Kroatische Demokratische Eintracht (bzw. Gemeinschaft, M.K.)« geworden“ (Wolf Oschlies). Überall in Zagreb sehen wir große Plakate, die für die regierende HDZ Tudjmans wirbt. Die Motive gerieren sich in scheinbar unpolitischer Provinzialität. Man sieht einen Fensterausschnitt mit dem katholischen Zagreber Dom, auf einem Tisch sind ein Laib Brot und Früchte zu sehen – und die aufgeschlagene Bibel. Soll das eine demokratische politische Partei in einer pluralistischen Gesellschaft symbolisieren?

Im Gespräch mit Professor Flego diskutieren wir den Begriff »Gemeinschaft«, der im Namen der HDZ enthalten ist. Er ist symptomatisch für die innere Situation Kroatiens. Jugoslawien sei ein Einparteiensystem ohne entwickelte Gesellschaft gewesen, dieser Typus einer »sozialistischen« Gemeinschaft sei nun durch einen neuen nationalistischen Typus von Gemeinschaft abgelöst worden. Tudjmans Politik orientiert sich an der einenden Vorstellung »des Kroatischen« und fördert damit eine politische Apathie, die uns auch Uta Kalavares, eine Literaturdozentin und Friedensaktivistin aus Rijeka bestätigt. Mag sein, daß Tudjman diesen Krieg wie Milosevic braucht, um eine weitere demokratische Ausdifferenzierung der kroatischen Kriegsgesellschaft zwecks Machterhalt zu verhindern.

Wir diskutieren aktuelle philosophische und soziologische Tendenzen, insbesondere den Kommunitarismus, der vor allem in den USA vorgedacht wurde. Die Denker dieses »Communitarianism« stellen den Begriff der »Gemeinschaft« wieder in den Mittelpunkt der Reflexion. Damit wird rehabilitiert, was wegen Hitlers „Vorstellung einer biologisch begründeten Kollektividentität der Deutschen und (damit einhergehenden) … totalitären Ausgrenzung alles Fremden“ (Axel Honneth) jahrzehntelang außer in kulturkonservativen Kreisen verpönt war. Der Kommunitarismus ist als wissenschaftliche Gegenbewegung zum alles durchdringenden Prozeß der Individualisierung in den (post)modernen Dienstleistungs- und Industriegesellschaften interpretierbar. Diesen Zustand der Individualisierung kann man mit dem unzureichenden Wort »Entwurzelung« umschreiben, die aus der zunehmenden Abkoppelung des einzelnen Subjekts aus vorgegebenen Sozialformen resultiert. In diesem Kontext erscheint die Einbindung der Subjekte in Wertgemeinschaften geradezu als unabdingbare Voraussetzung von Freiheit.

Nach Flego sind jedoch die kommunitaristischen Reflexionen eigentlich nur sinnvoll auf entwickelte pluralistische Gesellschaften zu beziehen. Nur dort könnten sich verschiedene gesellschaftliche und gemeinschaftliche Systemkreise entwickeln. Nur dort können gemeinschaftliche Wertbezüge ein sinnvolles Korrektiv zu ausufernden individualistischen Ansprüchen darstellen. Flego wundert sich – nicht ohne Ironie –, daß im heutigen Kroatien der Kommunitarismus noch nicht rezipiert worden ist, lieferte er doch eine hervorragende Legitimation für Tudjmans »Gemeinschaftsprojekt«. Diese Art von Gemeinschaft wäre allerdings genau jenes einschnürende Korsett, welches Freiheit nicht befördert, sondern verhindert – eben weil ein gewachsener Pluralismus in Politik und Gesellschaft Kroatiens noch fehlt.

Ähnlich wie Sonja Licht rekurriert auch Flego auf den untergegangenen Vielvölkerstaat, ohne allerdings auf seine Renaissance zu hoffen oder diese als Möglichkeit auch nur in Betracht zu ziehen. Es läge eine innere Logik des Zerfalls vor, die allerdings durch externe Faktoren bedeutend unterstützt wurde. Es hätte keine ökonomische Balance zwischen den verschiedenen Teilrepubliken gegeben, wobei die ökonomischen Mehr- und Transferleistungen insbesondere Kroatiens nicht ausreichend kompensiert und honoriert wurden, hier würde Flego Licht widersprechen. Kroatien erwirtschaftete nach Flego 50 % aller jugoslawischen Devisen und mußte 35 % des Steueraufkommens tragen, seine Bevölkerung machte jedoch nur 27 % der Gesamtbevölkerung aus. Das Botschaftspersonal der Jugoslawischen Föderation wurde zudem nur zu 3 bis 11 % aus Kroaten rekrutiert. Die serbische Dominanz in anderen Apparaten wie Armee und Geheimdienst war groß. Die kroatischen und slowenischen Zahlungen für den gemeinsamen Ausgleichsfond seien in nationalem Sinne umgedeutet worden: Man wollte keine Gelder mehr für die serbische Polizei verausgaben. Die ökonomische Reaktion folgte prompt: Serbien erhob Zölle für kroatische und slowenische Waren.

Das Kosovo-Problem war sicher ein Katalysator sowohl für den serbischen wie für den kroatischen Nationalismus. Man beschuldigte sich in der Folge der reziproken Einmischung in die inneren Angelegenheiten. Zagreb protestierte gegen die Unterdrückung der Kosovo-Albaner durch Serbien, serbische Nationalisten und Freiwillige sickerten bereits 1989 in den kroatischen Teil der Krajina ein und schürten den serbischen Chauvinismus. Die Organe der Jugoslawischen Föderation waren in ihrem labilen Gleichgewicht bald nicht mehr handlungsfähig und zerbröselten unter den Mühlsteinen des slowenisch-kroatischen Sezessionismus und des serbischen Strebens nach Vorherrschaft.

Die Jugoslawische Volksarmee versuchte noch durch den Rückzug aus Slowenien das Patt im Staatspräsidium zur serbischen Majorität von vier zu drei hin zu wenden. Nach dem Ausscheiden Sloweniens aus dem Staatsverband hätte der serbische Block mit Serbien, Montenegro, Wojwodina und Kosovo die drei übrigen Republiken Kroatien, Bosnien-Herzegowina und Makedonien überstimmen können. Aber die Rechnung ging nicht auf. Eine Militärmacht, die 1968 zur Zeit des sowjetischen Einmarschs in die CSSR acht Millionen Soldaten mobilisieren konnte, ist nichts wert, wenn die Unterstützung des Volkes fehlt – genau diese ist für Titos Partisanenkonzept aber unabdingbar.

Zu den externen Faktoren seien nach Flego die hohen Auslandsschulden in Höhe von 20 Mrd. US-Dollar zu zählen, welche die jugoslawische Wirtschaft zunehmend belastete. Allerdings sei dafür auch die starke Aufrüstung der Jugoslawischen Volksarmee (JVA) in den achtziger Jahren verantwortlich. Allein in Kroatien hätte es 38.000 Offiziers- und Unteroffizierswohnungen gegeben – ein Staat im Staate? Vielleicht.

Mit Titos Tod und der Auflösung des Ost-West-Konflikts hätte Jugoslawien aus der Sicht des Westens seine weltpolitische Funktion als Motor der Blockfreienbewegung und Bollwerk gegen den Sowjetkommunismus verloren. Das westliche Interesse an der Schwächung einer der stärksten Armeen Europas wuchs. Noch im Mai 1991 hätte die JVA einen Vertrag mit der Sowjetunion über die Nutzung jugoslawischer Marinestützpunkte unterschrieben. Diese Ausweitung sowjetischer Militäroptionen wurde dann durch die Unabhängigkeitserklärung Sloweniens und Kroatiens am 25. Juni 1991 zunichte gemacht. Das muß wohl auch in westlichem Interesse gelegen haben.

Zagreb ist die letzte Station unserer Reise durch eine europäische Krisenregion, wie sie vielfältiger nicht sein kann. Slawische Makedonier und Serben orthodoxen Glaubens, albanische und bosnische Muslime, kroatische Katholiken, um nur wenige ethnische Gruppen und Religionen zu nennen, leben in dieser Region, die einstmals in einem Staat zusammengefaßt war. Meine politischen Reisenotizen konnten nicht mehr sein als ein Selbstversuch in der Tugend des Unterscheidungsvermögens, der die Unterschiede nicht verdecken aber auch keine überzeichneten Feindbilder produzieren soll.

Teil 1

Michael Kalman, Politikwissenschaftler, freier Autor, lebt in München.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1993/2 Das UN-System, Seite