W&F 1988/5

Ein Gespräch mit Karl Lamers, CDU-MdB

„Die ökologischen, ökonomischen und monetären Probleme sind die eigentlich existentiellen Probleme der Menschheit.“

von Redaktion

Karl Lamers ist eine rheinische Frohnatur. Und Fachmann in der CDU- Bundestagsfraktion für Sicherheitspolitik und Rüstungskontrolle. Mit Querdenkern ist diese Fraktion nicht reichlich bestückt. Auch Lamers ist in seinen Aussagen eher vorsichtig. Wenn es konkret wird – siehe die Modernisierung der taktischen Nuklearwaffen – ist er »auf Linie«. Doch manch interessante Töne sind bei ihm zu vernehmen. Die Widersprüche der Abschreckungsdoktrin sind ihm bewußt. Aber Atomwaffen hält er als „Erziehungsmittel“ für unentbehrlich. Gefragt, ob er als Christ nicht an das Gute im Menschen glauben müsse, antwortet er: aber auch an die Sünde. Das Gespräch mit ihm führten Ingo Arend und Paul Schäfer. Wir setzen damit unsere Interviews mit Parteivertretern fort. Den Anfang machte Horst Ehmke (SPD) im Heft 3/88.

Frage:

Nach dem Abkommen über die Verschrottung der landgestützten Mittelstreckenraketen in Europa richten sich viele Hoffnungen auf den weiteren Abbau der Atomwaffen auf unserem Kontinent. Nicht wenige halten diese Massenvernichtungsmittel für gänzlich entbehrlich. In der CDU dagegen scheint die Angst vor der Denuklearisierung Europas zu grassieren...

Lamers:

Ich habe keine Angst. Angst ist auch ein schlechter Ratgeber in der Politik. Ich fürchte allenfalls, daß die Erwartungen hinsichtlich der Abrüstung und Rüstungskontrolle weit überzogen sind. Sie fördern nicht das, worum es jetzt geht, nämlich das Inganghalten eines Abrüstungsprozesses. Und was die Denuklearisierung Europas angeht, so ist das schon deswegen für mich kein Gegenstand der Befürchtung oder gar der Angst, weil ich eine solche in der absehbaren Zeit für absolut unrealistisch ansehe.

Frage:

Nun ist ja spätestens seit Beginn der 80er Jahre eine intensive Debatte über Sicherheitskonzepte im Gange, die Strategie der Abschreckung wird in Frage gestellt. Können Sie sich Alternativen zur bisherigen Strategie der Abschreckung vorstellen? Verteidigungsminister Scholz redet seit kurzem vom Konzept gegenseitiger Sicherheit. Deutet sich hier eine Umorientierung des bisherigen sicherheitspolitischen Konzepts der Union an?

Lamers:

Das, was der Verteidigungsminister und was wir in der Union insgesamt unter gegenseitiger Sicherheit verstehen, ist eigentlich nichts anderes als eine Schlußfolgerung aus der Tatsache, daß in der Welt von heute jeder nur sicher sein kann, wenn auch der andere nicht unsicher ist. Konkret glaube ich, daß die Verwirklichung der Ziele der Wiener Verhandlungen über die konventionelle Abrüstung eine Realisierung des Konzepts der gegenseitigen Sicherheit wäre. Wenn also das, was im Mandat bislang an Zielsetzung einvernehmlich festgeschrieben worden ist bei den Verhandlungen in der Substanz umgesetzt werden könnte, hätten wir das Konzept der gegenseitigen Sicherheit in Europa tatsächlich weitestgehend verwirklicht. Was die nukleare Abschreckung angeht, so glaube ich, muß man zwei Fragen unterscheiden. Erstens eine Veränderung der derzeitigen nuklearen Strategie der NATO bzw. des Warschauer Paktes oder eine Überwindung der Abschreckung überhaupt. Was das Erstere angeht, so kann ich mir eine solche Veränderung nicht nur vorstellen, sondern sie ergäbe sich, meine ich, zwangsläufig für den Fall, daß das Ziel der Wiener Verhandlungen, konventionelle Stabilität auf der Basis von Gleichgewicht verwirklicht würde. Dann könnten wir nicht nur, sondern müßten eine andere Form der nuklearen Abschreckung einführen. Was die Überwindung der nuklearen Abschreckung als solche angeht, so kann ich mir das sehr wohl vorstellen auch im Ost-West-Verhältnis, für den Fall, daß der Konflikt als solcher überwunden ist. Davon ist aber wiederum die Frage der Entfernung der atomaren Waffen überhaupt zu unterscheiden. Das ist eine noch sehr viel kompliziertere Frage, weil sie ja auch davon abhängt, wer über das Ost-West-Verhältnis hinaus über nukleare Waffen verfügt.

Frage:

Die CDU hat auf ihrem Parteitag 1988 in Wiesbaden eine europäische Sicherheitsunion gefordert. Ein europäischer Verteidigungsrat soll auch eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik garantieren und von den Atommächten Großbritannien und Frankreich wird erwartet, daß sie – so die Formulierung in Ihrem Beschluß – ihre Atompotentiale in diese Union einbringen. Wollen Sie also eine europäische Atomstreitmacht? Ist das der Hintergrund Ihrer Formulierung von dem »handlungsfähigen Akteur Europa«? Wird eine solche Atomstreitmacht überhaupt gebraucht?

Lamers:

Unter der Voraussetzung, daß es einer nuklearen Abschreckung bedarf, ist auch im Rahmen der Schaffung einer europäischen Verteidigungsidentität die nukleare Komponente notwendig. Ob man sie, da sie beschränkt bleiben wird in der Frage der Entscheidungsgewalt auf Frankreich und Großbritannien dann in eine europäische Atomstreitmacht umbenennt, ist eine mehr semantische Frage. Entscheidend ist, daß die nukleare Komponente ein Element einer europäischen Verteidigungsidentität wäre. Sie wird gebraucht, wie es eine nukleare Abschreckung gibt.

Frage:

Nun gibt es ja auch den Verdacht, daß es sich hier um den Versuch handelt, endlich den deutschen »Finger an den Abzug« zu bekommen. Soll also die Bundesrepublik auf diesem Weg atomare Teilhabermacht werden oder wie würden Sie sich den Entscheidungsprozess dann, im Rahmen einer solchen Sicherheitsunion vorstellen?

Lamers:

Der Versuch der Bundesrepublik Deutschland, ein positives Mitentscheidungsrecht bei dem Einsatz von nuklearen Waffen zu bekommen, wäre mit Sicherheit zum Scheitern verurteilt, an wen er sich auch immer richtete. Einen solchen Wunsch gibt es nicht und braucht es auch nicht zu geben. Erstens sind natürlich Mitwirkungsrechte der Bundesrepublik, so wie sie derzeitig auch im Rahmen der Allianz und mit den Vereinigten Staaten bestehen, im europäischen Rahmen denkbar. Und zweitens ist die Interessenidentität aller Westeuropäer so eng, daß eine isolierte Entscheidung eines zum Atomwaffeneinsatz befähigten Landes wie Frankreich oder Großbritannien ohne Berücksichtigung der Interessen der Bundesrepublik gar nicht denkbar ist. Ein Blick auf die Landkarte genügt, um das hinreichend zu belegen.

Frage:

Sind Sie für die Verlängerung des Nichtweiterverbreitungs-Vertrages, der 1995 ausläuft?

Lamers:

Ja, dafür bin ich unbedingt. Ich glaube, daß wir uns über diese Frage der Proliferation noch ernsthaftere Gedanken werden machen müssen als in der Vergangenheit. Die größere Dringlichkeit bei ihrer weiteren Behandlung könnte auch ein Element der Ost-West-Kooperation werden, das sich auf das Sicherheitsgefühl insgesamt positiv auswirkt. Aber entscheidend wird es sein, die Entwicklung einer gefährlichen Instabilität im Nord-Süd-Verhältnis und im Süd-Süd-Verhältnis zu verhindern.

Frage:

Die Umrisse dieser europäischen Verteidigungs- oder Sicherheitsidentität, die Sie jetzt aufgezeigt haben, verbleiben ja doch eher im Rahmen der traditionellen Sicherheits- und Großmachtpolitik. Wäre es nicht sinnvoller, statt auf solche neue Machtkonstellationen abzuzielen, innerhalb deren Europa eine eigenständige Rolle übernehmen soll, über einen konstruktiven Beitrag Westeuropas zur Lösung der immer drängender werdenden globalen Probleme nachzudenken?

Lamers:

Die Grundannahme, von der ich ausgehe, ist, daß es auch in der Zukunft, auch im Ost-West-Verhältnis für die absehbare Zeit militärischer Anstrengungen bedarf. Westeuropa soll sicher auch ein Machtfaktor werden. Aber selbst wenn es zu einer europäischen Sicherheitsunion käme, braucht man kein Prophet zu sein, um vorherzusagen, daß dieses Europa nie ein militärischer Rivale etwa der Sowjetunion werden könnte und daher für sie auch akzeptabel ist. Zum zweiten, das, was Sie zu Recht angesprochen haben: Die globalen Probleme. Die ökologischen, die ökonomischen und monetären Probleme sind auch nach meiner Überzeugung die eigentlich existentiellen Probleme der Menschheit. Sich ihrer verstärkt anzunehmen und hier auch das Schwergewicht der europäischen Aktivitäten in der Zukunft zu sehen, damit bin ich sehr einverstanden. Diese Probleme können eigentlich nur von drei Mächtegruppen erfolgreich angepackt werden. Das sind die USA, Westeuropa und Japan. Die übrigen Mitglieder der Staatengemeinschaft können das leider nicht und ich hoffe sehr, daß die Reformen in der Sowjetunion und in dem sozialistischen Teil Europas dazu führen, daß dieser Teil der Erde einen größeren Beitrag zur Lösung dieser globalen Probleme leisten kann. Ich glaube, die Notwendigkeit, Europa auch zu einer eigenen Verteidigungsidentität zu bringen, steht nicht nur nicht im Gegensatz zu der Notwendigkeit, sich den globalen Problemen stärker zuzuwenden, sondern ich bin sicher, daß ein gestärktes Selbstbewußtsein der Europäer auch eine gute Grundlage ist, um sich diesen Aufgaben stärker zuzuwenden.

Frage:

Das klingt so ein bißchen wie die Neuauflage des Trilateralismus. Aber selbst wenn man das so sehen würde, ist nicht die Vorbedingung für eine solche neue Rolle von Europa in der Welt, daß erstmal ein Durchbruch zu einer komplexeren Abrüstung erreicht wird, die es überhaupt erst ermöglicht, daß diese Problemkonstellationen angegangen werden können. Auf Europa lastet der Löwenanteil der Rüstungsanstrengungen in der Welt. Ist also einschneidende Abrüstung nicht auch wirtschaftlich unabweisbar geworden und zwar in größerem Maßstab als wir das bisher gehabt haben?

Lamers:

Ich halte eine vorherige Abrüstung nicht für die Voraussetzung, daß wir uns den Problemen der sogenannten »Dritten Welt« intensiver zuwenden können als bislang. Wäre das so, dann wären die Aussichten nicht allzu rosig, denn dann würde es zu lange dauern. Ich bin davon überzeugt, daß, soweit Geld hierzu notwendig ist, dieses Geld auch bereitgestellt werden könnte, wenn die europäischen Völker die Prioritäten etwas anders setzten als bislang. Das wird nicht einfach sein. Wenn wir beispielsweise, was ich für wichtiger ansehe als Entwicklungshilfe, unsere Märkte in dem notwendigen Maße für Produkte aus den Entwicklungsländern öffneten, hätte dies eine Beschleunigung der Strukturprobleme in den westlichen Industrieländern zur Folge und dazu wäre Geld notwendig. Das müßte dann zur Verfügung gestellt werden. Vielleicht müssen wir auch dazu bereit sein unseren Wohlstand langsamer steigen zu lassen. Das ist keine unbillige Forderung, denn wenn es richtig ist, daß wir eine immer enger zusammenwachsende Welt haben, darf nicht in einem Teil dieser Welt ein unglaubliches Maß an Wohlstand herrschen und anderswo Hunger und Elend.

Frage:

Noch einmal zurück zum Problem der nuklearen Abschreckung und zu den Anstrengungen, die unternommen werden, um sie wirksam zu halten. In dem Parteitagsbeschluß von Wiesbaden wird gefordert, die Mindestzahl, Reichweite und Zusammensetzung der nuklearen Waffen der Allianz neu festzulegen. Tatsächlich ist ja eine Planung für die Modernisierung der Atomwaffen der NATO in Europa weit vorangeschritten; da stellen sich einige Fragen. Wir wollen zunächst beginnen mit dem Problem der nuklearen Artillerie, deren Erneuerung schon im Gange ist. Galvin, NATO-Oberbefehlshaber, will die Obergrenze, die vom Kongreß festgesetzt ist (925) noch weiter erhöhen. Wie verträgt sich dieses Ansinnen mit der Forderung Ihres Fraktionsvorsitzenden und auch anderer Ihrer Fraktionskollegen, diese doch eher selbstabschreckenden Waffen jetzt drastisch zu reduzieren oder am besten auszumustern?

Lamers:

Eine Neustrukturierung der nuklearen Komponente im Bereich zwischen Null und 500 km muß und kann auch zu einer drastischen Verminderung der kürzeren Reichweiten, d.h. vor allen Dingen der nuklearen Artillerie führen, wenn die Reichweite anderer Systeme in diesem Gesamtreichweitenband erhöht wird. Neustrukturierung der nuklearen Waffen insgesamt bedeutet keineswegs automatisch Aufrüstung. Sondern bedeutet nach unserem Verständnis gleichzeitig Abrüstung. Das ist die gemeinsame Position der Koalition.

Frage:

Im Rahmen der Wiener Verhandlungen oder Parallelverhandlungen? Wie soll die zeitliche Abfolge sein? Das ist ja bislang unklar.

Lamers:

Die nukleare Komponente ist als unmittelbarer Gegenstand aus den Wiener Verhandlungen ausgenommen. Deswegen kann es sich nur um parallele Verhandlungen handeln, über die nicht zu Beginn verhandelt werden kann, aber auch nicht ganz am Ende. Der geeignete Zeitpunkt läßt sich heute nur abstrakt definieren.

Frage:

Liegt da nicht ein gewisser Widerspruch zu dem, was Carlucci bei den Hearings über den INF-Vertrag formuliert hat. Er sagte, diese doppelverwendungsfähigen Systeme sollen unbedingt aus dem Prozess der Rüstungskontrolle rausgehalten werden....

Lamers:

Unsere Position ist die der NATO, indem wir uns auf das Reykjaviker Kommunique berufen. Wenn Carlucci gemeint hat, die sollen aus den KRK-Verhandlungen rausgehalten werden, dann ist das ja eigentlich unstreitig. Im übrigen sind sie ja nicht ganz rausgehalten. Denn bei Artillerie reden wir ja über zweifach verwendungsfähige Waffen und niemand will auch die Artillerie raushalten, weil natürlich das Ziel konventionelle Stabilität auf der Basis von Gleichgewicht ist. Angriffsunfähigkeit – das geht überhaupt nicht zu machen, wenn nicht die Artillerie einbezogen ist. Eines Tages wird über Flugzeuge geredet werden müssen und Flugzeuge sind auch in der Regel oder sehr häufig zweifach verwendungsfähige Waffen.

Frage:

Sie sagen, eines Tages wird man auch über die Flugzeuge reden. Halten Sie einen Ansatz überhaupt für praktikabel, der die Überlegenheit des Warschauer Paktes bei den Landstreitkräften, die gegeben ist, schleifen will, zugleich aber die Luftstreitkräfte des westlichen Bündnisses umfassend effektiviert und das aus den Verhandlungen erstmal ausklammert.

Lamers:

Also die Flugzeuge sind nicht aus den Verhandlungen ausgeklammert, das steht nirgendwo im Mandat drin. Es ist nur die westliche Auffassung, daß man nicht gleich zu Beginn über sie reden sollte und ich glaube, daß ist auch im Interesse von Anfangserfolgen bei der Abrüstungskonferenz in Wien wünschenswert. Da mit den Flugzeugen eine Fülle von Problemen auftauchen, die nicht zuletzt damit zusammenhängen, daß Flugzeuge eben sehr schnell verlegt werden können, beispielsweise von Europa nach Amerika oder vom europäischen Teil der Sowjetunion in den asiatischen. Aber natürlich müssen Flugzeuge eines Tages einbezogen werden, das ist die Position der Bundesrepublik. Was die behauptete westliche Überlegenheit angeht, so ist die durch nichts zu belegen. Die Behauptung der Sowjetunion stützt sich bei näherem Hinsehen auf die Annahme einer erheblichen technologischen Überlegenheit der westlichen Flugzeuge. Nun will ich die gar nicht vollkommen ausschließen, ich will sogar einmal der Einfachheit halber unterstellen, dem sei so, wie die Sowjetunion sagt. Dann muß ich aber doch gleichzeitig darauf hinweisen, daß man natürlich nicht einfach eine Rechnung aufmachen kann, ein westliches Flugzeug gegen vier sowjetische oder östliche. Denn auch ein technologisch vielfach überlegenes Flugzeug braucht nur einmal abgeschossen zu werden. Insofern wird hier eines der Grundprobleme bei den Wiener Verhandlungen offenkundig, nämlich die Frage des qualitativen Vergleichs. Wenn Sie von den technologischen Qualitätsmerkmalen mal absehen und auch solche bewerten, die in die Psychologie hineinreichen, beispielsweise Kampfkraft, Motivation der Streitkräfte – also die berühmte Frage: Was ist die polnische Armee wert? – dann wird ganz klar, wie schwierig dies alles sein wird. Und das eine Verständigung in Wien bei den Verhandlungen einerseits natürlich auf den harten Fakten, den Waffen und den Streitkräften beruhen muß; auf der anderen Seite aber ohne ein politisches Herangehen keine Aussichten bestehen. Beides muß zusammenkommen.

Frage:

Besteht nicht die Gefahr, daß der INF-Vertrag in seinem Geiste ausgehebelt wird, wenn die NATO jetzt neue Flugzeuge mit Abstandswaffen disloziert. Wenn man Flugzeuge plus Abstandswaffen addiert, könnte man sagen, hier werden praktisch die Verluste des INF-Vertrages kompensiert – Ist das im Sinne des Abrüstungsprozesses?

Lamers:

Ich will hoffen, daß wir auch für die anderen Waffensysteme, die nicht erfaßt sind vom INF-Vertrag Abrüstungsvereinbarungen erreichen werden. Solange aber die derzeitige Situation der konventionellen Überlegenheit des Ostens besteht, dann ist eine Modernisierung oder eine Fortentwicklung der Waffensysteme auch in den hier zur Rede stehenden Bereichen weder gegen den Buchstaben noch gegen den Geist des Vertrages. Das wäre allenfalls dann der Fall, wenn man das bisher Erreichte torpedieren wollte. Das wird ja auch von den Gegnern einer solchen Maßnahme unterstellt. Ich kann das aber beim besten Willen nicht sehen, es sei denn, daß die andere Seite, die Sowjetunion ihrerseits in diesem Bereich einseitig Maßnahmen vornähme, die eine andere Situation schaffen würde. Davon kann aber keine Rede sein, überhaupt nicht. Nicht mal in dem Reichweitenband unter 500 km, wo sie unbestrittenermaßen eine gewaltige Überlegenheit hat: mit über 1000 zu 88, selbst wenn die SS 23 abgezogen werden – diese Überlegenheit, ist auch dann noch gewaltig, wenn ich einmal – was niemand so genau weiß – eine etwas geringere Nachladefähigkeit der sowjetischen Potentiale unterstelle. Obwohl ja gerade die deutsche Seite, weil das ja auch für unsere Verhandlungsposition und für unsere Position im westlichen Bündnis eher nützlich wäre, die Sowjetunion öfters aufgefordert hat, hier einseitig etwas zu tun, geschieht gar nichts. Einseitige Maßnahmen schließe ich keineswegs ganz grundsätzlich aus. Ich meine sogar, daß wir in Zukunft bei allen Rüstungsentscheidungen, ob im konventionellen oder nuklearen Bereich sei ganz dahingestellt, versuchen müssen, sie so zu treffen, daß sie der Abrüstung zumindest nicht entgegenstehen, wenn möglich, sie sogar fördern und vor allen Dingen die Stabilität verbessern. Das genau ist auch unser Ziel bei einer allfälligen Neustrukturierung der nuklearen Systeme unter 500 km: Bessere Stabilität, weniger nukleare Sprengköpfe, d.h., einseitige Abrüstung, bessere Berücksichtigung der spezifisch deutschen Interessen, was gleichbedeutend ist mit einer stärkeren Betonung des politischen Charakters der nuklearen Waffen. Aber die Annahme, daß man mit einseitigen Maßnahmen die andere Seite zum Nachziehen bewegt, die ist nun wirklich bislang im Verlauf des Abrüstungsprozesses nicht nur nicht belegt worden, sondern das Gegenteil ist vor allen Dingen durch den Doppelbeschluß belegt worden.

Frage:

Aber hat nicht auch Michail Gorbatschow mit seiner Ankündigung vor den Vereinten Nationen einen Schritt einseitiger Abrüstung unternommen, der eine Antwort von unserer Seite verlangt?

Lamers:

Ja, es ist eine einseitige Abrüstung, die Michail Gorbatschow angekündigt hat, und sie ist natürlich unbedingt zu begrüßen. Seine Initiative bestätigt übrigens die westlichen Annahmen, über die östliche Überlegenheit, vor allen Dingen auch den bisherigen offensiven Charakter der sowjetischen Streitkräfte. Gorbatschow erwartet keine Gegenleistung von westlicher Seite, und das ist gut so. Das, was der Westen jetzt tun muß, muß am Wiener Verhandlungstisch vereinbart werden.

Frage:

Noch einmal zu den KRK-Verhandlungen und zu Ihrem Herangehen: Im Verhandlungsmandat wird ja wohl das vorrangige Ziel festgeschrieben, Invasionsfähigkeiten und Fähigkeiten zum überraschenden Angriff zu beseitigen, als einer der ersten Grundschritte. Sind nicht militärisch ausgedünnte Zonen ein wichtiges Mittel, um sich vor überraschenden Invasionen zu schützen?

Lamers:

Bei diesen Zonenkonzepten, wie sie ja vor allen Dingen die Sozialdemokraten vertreten, muß man zwischen dem militärischen und dem politischen Element unterscheiden. Was den militärische Teil angeht, ist unser Bewegungsspielraum außerordentlich beengt durch die Strategie der Vorneverteidigung und durch den außerordentlich schmalen Raum, der der NATO hier an der Zentralfront in der Bundesrepublik Deutschland zur Verfügung steht. Das würde sich übrigens ändern, wenn der Raum bis zu den Pyrenäen erweitert würde; wenn es sich hier um einen einheitlichen Sicherheitsraum handelte. Was den politischen Teil angeht, so bin ich strikt gegen die völkerrechtliche Festlegung einer Zone, die im wesentlichen aus der Bundesrepublik Deutschland bestünde und die einen sicherheitspolitisch anderen Status gegenüber unseren Nachbarn, vor allen Dingen Frankreich begründete. Solche durch Abrüstungsverträge völkerrechtlich fixierten Unterschiede im Status einerseits der Bundesrepublik und andererseits unserer westlichen Nachbarn würden die Errichtung eines gemeinsamen Verteidigungs-, Sicherheitsraums und damit einer gemeinsamen europäischen Sicherheitspolitik und -struktur außerordentlich erschweren. Da ich das für ein ganz vorrangiges Ziel ansehe, bin ich nach wie vor gegenüber solchen Zonen-Konzepten nicht nur skeptisch, sondern lehne sie ab.

Herr Lamers, wir danken für dieses Gespräch.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1988/5 1988-5, Seite