W&F 1995/2

„Ein Japaner fühlt sich nicht als Individuum“

Interview mit Dr. Shuntaro Hida

von Dr. Shuntaro Hida und Bernd W. Kubbig

Kubbig: Vor uns liegt der Entwurf einer amerikanischen Briefmarke. Dort steht unter einem Atombombenpilz „Atomic bombs hasten war's end, August 1945 – Atombomben beschleunigen das Ende des Krieges, August 1945“. Wenn Sie, Herr Hida, einen solchen Atompilz sehen, mit dem die amerikanische Regierung bzw. das US-Postministerium dem Ende des Zweiten Weltkrieges und den Atombombenabwürfen gedenken wollte, welche Gefühle überkommen Sie da?

Hida: Ja, das könnten Amerikaner tun. Es paßt zu den Amerikanern. Ich war nicht so erschrocken.

Ich kenne diesen Sachverhalt sehr gut. Die amerikanische Regierung und der amerikanische Präsident Clinton haben mehrmals öffentlich geäußert, daß es berechtigt gewesen sei, daß Amerikaner auf Nagasaki und Hiroshima Atombomben abgeworfen haben. Alle Japaner, nicht nur die Atombombenopfer, sondern ganz konservative Menschen, fanden, daß das Vorhaben des Postministeriums sehr unangebracht sei. Deshalb wurden verschiedene Delegationen in die USA und zur UNO gesandt; gegenüber der US-Regierung wurden Proteste erhoben.

Ich sollte eigentlich mit in die USA reisen, und zwar wegen der Kontroversen um die »Enola-Gay-Ausstellung« im National Air and Space Museum der Smithonian Institution in Washington, D.C., habe meiner Vortragstour durch Deutschland aber den Vorrang eingeräumt.

Kubbig: Dank der äußerst scharfen japanischen Proteste ist es nicht zu dieser Briefmarke gekommen. Die Auseinandersetzungen um die »Enola Gay Exhibition« haben dazu geführt, daß die jetzt geplante Ausstellung rein technischer Art ist und keine Interpretationen mehr enthält. Was erhoffen Sie sich von den Kontroversen?

Hida: Die Amerikaner haben sehr lange über die Frage geschwiegen, ob es Rechtens war, Atombomben abzuwerfen. Aber plötzlich begannen sie, darüber laut zu sprechen. Das war vor dem letzten Golf-Krieg. Wir in Japan dachten, daß die Amerikaner im Irak noch einmal Atombomben abwerfen könnten.

Jetzt reagiert nur ein Teil der amerikanischen Bevölkerung, und nur in einigen Fällen sind aus meiner Sicht die Reaktionen positiv. Die meisten Amerikaner sind gleichgültig. Vielleicht sind die meisten Amerikaner sogar für die Veröffentlichung einer solchen Briefmarke.

Wissen Sie, das größte Problem der USA liegt darin, daß die amerikanische Bevölkerung in Unwissenheit darüber gelassen wurde, daß 1,5 Millionen Amerikaner bei Kernwaffenversuchen Opfer der Asche, der tödlichen Asche, geworden sind. Radioaktiv geschädigte Patienten begannen, per Gerichtsverfahren gegenüber der amerikanischen Regierung Entschädigungen zu erwirken. Diese Menschen kamen zu mir und fragten, ob ihre Krankheit denen der Atombombenopfer ähnlich sei.

Kubbig: Haben Sie diese Menschen untersucht?

Hida: Ich habe sie untersucht und ihre Frage bejahen müssen. Und während der Prozesse haben mich Kläger aus dem Gerichtssaal in Japan angerufen, so daß ich als Zeuge fungieren konnte.

Kubbig: Im Jahr 1995 wird in Deutschland viel von Versöhnung und Aussöhnung gesprochen. Ihr großer Landsmann Kenzaburo Oe, Literatur-Nobelpreisträger von 1994, forderte wiederholt, daß auch Japaner auf die Amerikaner zugehen müßten. Wie soll der Versöhnungsprozeß zwischen der amerikanischen und der japanischen Regierung, zwischen den Völkern Japans und den USA laufen? Was erwarten Sie? Was möchten Sie selbst einbringen?

Hida: Meiner Meinung nach gibt es mindestens auf der Bevölkerungsebene das Bewußtsein, daß man durch den Beginn des Krieges gegenüber den Amerikanern in Pearl Harbor Schlechtes getan hat. Aber bevor man diese Sache angeht, muß man die Invasionen gegenüber den asiatischen Nachbarstaaten bedenken. Hier haben die Japaner noch viel schlimmere Leiden verursacht. Deshalb muß man als Japaner zuerst die asiatischen Länder um Vergebung bitten und sich mit ihnen versöhnen.

Aber um das zu machen, muß man fragen: Wer hat befohlen, diesen Krieg zu beginnen? Offiziell war das der japanische Tenno gewesen. Deshalb muß man sagen: Der japanische Tenno war verantwortlich. Es gibt in Japan einen sehr großen Widerstand, dies zuzugeben. Also, aufgrund der Mentalität kann man nicht allen Völkern in der Nachbarschaft sagen: Ja, bitte entschuldigen Sie, unser Tenno hat das befohlen. Das ist eine unerträgliche Situation, das so zu sagen. Das will man auf alle Fälle vermeiden.

Das ist die Hauptursache, daß die Versöhnung von Japanern mit den anderen Völkern bisher verzögert wurde. Japaner leben nicht als Individuen, wie es in Frankreich oder in Deutschland der Fall ist. Japaner leben in Japan, das ist eine lauwarme Gesellschaft, und man fühlt sich als ein Teil Japans. Also nicht als selbständiger Japaner oder als Individuum. Ein solches individuelles Bewußtsein ist noch sehr schwach ausgeprägt.

Kubbig: Ist es übertrieben, von den Amerikanern eine Entschuldigung für die Atombombenabwürfe zu erwarten?

Hida: Die japanische Bevölkerung sollte von den Amerikanern verlangen, sich für diese Tat zu entschuldigen. Ich habe versucht, ein Wort der Entschuldigung von hohen amerikanischen Stellen zu bekommen. Ich verlange kein Geld, aber ein Wort der Entschuldigung. Und ich verlange, daß Amerikaner nie wieder Atombomben abwerfen.

Diese zwei Antworten wollte ich bisher bekommen. Aber kein höherer Beamter oder Regierungspolitiker wollte das hören. Und kein amerikanischer Präsident wollte mich treffen. In diesem Sinne waren alle bisherigen Versuche vergebens. Deshalb kläre ich überall in der Welt, wenn ich eingeladen bin, darüber auf, welches Grauen die Atombombenabwürfe erzeugt haben. Vielleicht können die Bevölkerungen der ganzen Welt dazu beitragen, daß auch der amerikanische Präsident in Zukunft dazu gezwungen werden könnte, bei den japanischen Opfern um Entschuldigung zu bitten.

Kubbig: Wäre es nicht auch wichtig, die richtigen Bündnispartner für eine solche Zielsetzung zu gewinnen, und zwar bei Menschen, die ein ähnliches Schicksal haben, sprich, die »Atomic Veterans«, die atomaren Veteranen in den USA und anderswo?

Hida: Ja, wir haben bisher viele Gelegenheiten gehabt, mit den amerikanischen Atom-Versuchsopfern zu sprechen. Aber es gibt zwei Hindernisse für die weitere Arbeit. Erstens: Die japanischen Atombombenopfer haben zu wenig Kraft, um alles durchzusetzen. Man braucht viel Geld für derartige internationale Aktivitäten. Das zweite Hindernis liegt darin, daß die atomaren Veteranen in den USA eine sehr heterogene Gruppe sind. Die Soldaten sagen beispielsweise: Ja, wir sind auch Opfer geworden, aber uns genügt es, wenn wir Entschädigungsgelder bekommen. Denn wir sind eigentlich für Atomwaffen.

Es gibt weltweit sehr viele Menschen, z.B. in Korea oder in Rußland, die Opfer radioaktiver Strahlung geworden sind. Man sollte sie zusammenführen, um eine gemeinsame Anti-Atombewegung in Gang zu bringen. Aber es ist nicht einfach. Es gibt heute bereits solche Gruppen, die ein oder zweimal im Jahr in Japan oder in den USA gemeinsame Tätigkeiten veranstalten. Aber nur das ist bis jetzt dauerhaft geblieben. Alle anderen Aktivitäten wurden immer wieder unterbrochen, weil wir physisch und finanziell zu schwach sind.

Für mich kann ich sagen, daß ich bis an mein Lebensende alles dafür tun werde, daß die Atomwaffen aus der Welt veschwinden. Zu diesem Zweck bin auch auf meiner Vortragsreise durch Deutschland.

Kubbig: Danke für dieses Gespräch. Ich wünsche Ihnen eine erfolgreiche Vortragsreise.

Das Interview mit Herrn Dr. Shuntaro Hida führte am 5.5.1995 Dr. Bernd W. Kubbig.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1995/2 Hiroschima und Nagasaki, Seite