Ein neues Modell der »Transitional Justice«?
Konferenz/Internationaler Dialog, CAPAZ, JEP und ISS, Den Haag, 23.-24. November 2023
Ende November 2023 veranstalteten das deutsch-kolumbianische Friedensinstitut CAPAZ, die kolumbianische Sondergerichtsbarkeit für den Frieden (auf Spanisch: Jurisdicción Especial para la Paz [JEP]) sowie das Internationale Institut für Soziale Studien (ISS) eine Konferenz in Den Haag zu den Fortschritten und Innovationen der Sondergerichtsbarkeit für den Frieden in Kolumbien. Die JEP ging aus dem Friedensabkommen hervor, das 2016 zwischen der kolumbianischen Regierung und der ehemaligen Guerilla-Gruppe FARC-EP unterzeichnet wurde. Als Transitional-Justice-Mechanismus ist sie dafür verantwortlich, Mitglieder der ehemaligen Guerilla, des Militärs und in die Verbrechen involvierte Dritte (terceros civiles) vor Gericht zu bringen. Zwar können aufgrund des Ausmaßes des mehr als ein halbes Jahrhundert andauernden bewaffneten Konflikts in Kolumbien bei weitem nicht alle Beteiligten zur Verantwortung gezogen werden, jedoch soll das Tribunal die Hauptverantwortlichen zur Rechenschaft ziehen, Formen der Entschädigung für die Opfer suchen, und anhand von einer Reihe sogenannter »Makroverfahren« (macro casos) die hinter der Gewalt liegenden Strukturen aufdecken.
Die Konferenzteilnehmer*innen wurden zunächst vierfach begrüßt: von der kolumbianischen Botschafterin Carolina Olarte-Bácares, dem deutschen Botschafter in den Niederlanden, Cyrill Jean Nunn, sowie dem Leiter des CAPAZ-Instituts, Stefan Peters, und dem des ISS, Ruard Ganzevoort. Anschließend berichtete der Präsident der JEP, Roberto Vidal, in einem Keynotevortrag von den ersten Jahren der Arbeit des Tribunals. Er beschrieb die Vorzüge und Herausforderungen des Transitional-Justice-Modells und hob seine Bedeutung vor dem Hintergrund weiterer internationaler Erfahrungen mit der Aufarbeitung einer gewaltsamen Vergangenheit hervor. Als entscheidende Dimension erwähnte Roberto Vidal den Fokus auf die sogenannte restaurative Gerechtigkeit, dem sich das Tribunal verschrieben habe: Anders als in herkömmlichen Gerichtsverfahren stünden in der JEP die Opfer im Zentrum des Prozesses, sie erhielten während der öffentlichen Anhörungen Gelegenheit, ausführlich von ihrer persönlichen Erfahrung zu berichten und in einen Dialog mit den Angeklagten zu treten. Das Tribunal habe als Institution des Friedensaufbaus stets ein übergeordnetes Ziel im Blick: Es gehe darum, die juristische Aufarbeitung derart zu betreiben, dass die Fortsetzung bzw. Wiederholung der Gewalt in Zukunft verhindert würde. Die jahrzehntelange Erfahrung mit dem Konflikt habe gezeigt, dass das Prinzip der Abschreckung insbesondere Akteure mit politischen Motiven nicht davon abhalte, Gewalt anzuwenden. Daher müsse im Vordergrund stehen, die Motive und hinter der Gewalt liegenden Strukturen in den Blick zu nehmen, den Dialog herzustellen und verschiedene Perspektiven zur Geltung kommen zu lassen. Gleichzeitig betonte Vidal, dass die Zivilbevölkerung die Hauptleidtragende des Konflikts gewesen sei. Die Opfer müssten nun im Mittelpunkt der Aufarbeitung der Vergangenheit stehen und auch die Gelegenheit erhalten, maßgeblich an der Ausgestaltung und Zielsetzung der Institution mitzuwirken.
Die zentrale Stellung der Opfer in den Prozessen wurde auch in einem Panel wieder aufgegriffen. JEP-Richterin Heidy Baldosea hob sie als wichtigstes Element der restaurativen Gerechtigkeit hervor. Der Ansatz impliziert einen Prozess der Aufarbeitung, in dem stets nach einem zukünftigen friedvollen Zusammenleben zwischen den am Konflikt beteiligten Akteur*innen und den Opfern gestrebt wird. Entscheidend ist dafür die von der JEP angelegte Begegnung zwischen Angeklagten und Opfern. In dialogisch angelegten Anhörungen erhalten die Opfer Gelegenheit, ihrem persönlich erlebten Leid Ausdruck zu verleihen und sich direkt an die Angeklagten zu wenden, die wiederum auf die Anklagen der Opfer reagieren können. Auf diese Weise werde das Tribunal zu einer „Gerechtigkeit der Begegnung“ („justicia del encuentro“), die Versöhnung und Heilung zumindest begünstigen könne. Viele Opfer erführen hier, nach jahrelanger Unsichtbarkeit und vor dem Hintergrund einer schweigenden Gesellschaft und eines untätigen Staates, eine „Wiederherstellung ihrer Würde“ und eine Art der inneren Heilung durch die öffentliche Anerkennung des erfahrenen Leids.
Die Erfahrung der Richterin wurde im Panel durch die Sicht der in Kanada im Exil lebenden Ingrid García erweitert, die bereits während der Friedensverhandlungen Teil einer Kommission Betroffener war, die die Anliegen der Opfer vertrat und sich für die Verankerung ihrer Rechte im Friedensabkommen einsetzte. Sie sprach von der Erfahrung, durch den Dialog mit den Angeklagten den „Menschen hinter der Tat“ sehen zu können und sich mit unterschiedlichen Perspektiven auf das Geschehene auseinanderzusetzen. Vielen Opfern helfe es, sich nach jahrelangem Schweigen und dem Gefühl der Unsichtbarkeit vor der Gesellschaft nun endlich Gehör zu verschaffen. Gleichzeitig warnte sie vor übersteigerten Erwartungen. Die Begegnung mit den Täter*innen führe nicht automatisch zu einer Erleichterung bei den Opfern, im Gegenteil könne je nach Verhalten und Einsicht der Angeklagten auch ein Wiederaufleben des Schmerzes entstehen, durchaus habe es frustrierende und schmerzhafte Erfahrungen bei den Begegnungen gegeben. Dennoch könne die Möglichkeit einer aktiven und effektiven Teilnahme der Opfer, wie es der Friedensprozess angelegt habe, ungeahnte Perspektiven eröffnen. Die Chance, durch die Mitarbeit bei der JEP an der Veränderung der kolumbianischen Gesellschaft mitzuwirken, habe vielen Opfern neue Hoffnung gegeben.
Über diese Möglichkeit tauschten sich auch die Teilnehmer*innen des Panels zum Strafmodell aus, das die kolumbianische Sondergerichtsbarkeit implementiert hat. JEP-Richter Camilo Andrés Suárez erklärte die Entscheidung, den Hauptverantwortlichen im Falle eines frühen und umfassenden Geständnisses alternative Sanktionen statt Gefängnisstrafen aufzuerlegen. Zugunsten der gesellschaftlichen Aussöhnung und Veränderung sollen die Sanktionen Projekten auf lokaler Ebene, insbesondere in vom Konflikt stark betroffenen Regionen, zugute kommen: Die Verurteilten werden in soziale und infrastrukturelle Initiativen – wie den Wiederaufbau einer zerstörten Schule oder Minenräumprojekte – involviert. Dabei, so Suárez, ließe sich die JEP von der Frage leiten, wie die Strafen ein friedvolles Miteinander begünstigen könnten. Wegsperren, das habe die jahrzehntelange Erfahrung bereits gezeigt, verspreche hier keinen Erfolg. Für viele Opfer sei vor diesem Hintergrund eine umfassende Aufklärung und der Friedensaufbau auf lokaler Ebene entscheidender als der Gedanke, die Verantwortlichen hinter Gittern zu wissen. Der auf Versöhnung abzielende Ansatz zeige sich hier also auch im Strafsystem: Gemeinsam mit den anderen Elementen des Friedensaufbaus müsse dieses eine Vorstellung von Gerechtigkeit fördern, die über das traditionelle Verständnis von Strafe als Abschreckung und Isolation des Täters in der Gesellschaft hinausgehe.
Der Vormittag des zweiten Tages widmete sich zwei weiteren Anliegen der kolumbianischen Sondergerichtsbarkeit: Der Aufarbeitung gender-spezifischer Gewalterfahrungen und der Anerkennung der Natur als Opfer des Konflikts. Neben einem in allen Aspekten des Friedensabkommens eingearbeiteten Gender-Fokus stand auf dieser Konferenz die nur wenige Monate zurückliegende Entscheidung des Tribunals im Mittelpunkt, gender-basierte Gewalt als einen eigenen »Makrofall« zu behandeln. Die Teilnehmer*innen (Richterin Lily Rueda, Catherine O’Rourke, Indira Murillo und Kim Thyu Seelinger) hoben hier insbesondere die Aufgabe der JEP hervor, die Hürden, vor denen die Opfer sexualisierter oder gender-basierter Gewalt häufig stehen, im Blick zu behalten. In dem Wissen, dass das Sprechen über derartige Gewalterfahrungen häufig mit Scham und sozialer Ächtung oder gar der Gefahr eines Ausschlusses aus der eigenen Gemeinschaft verbunden ist, erhalten Opfer in diesem Prozess besondere psychosoziale und juristische Begleitung, was von den Teilnehmer*innen des Panels als eine weitere zentrale Errungenschaft des Modells hervorgehoben wurde.
Beim Thema der Verbrechen gegen die Natur wurde betont, wie im Laufe des Konfliktes vielfach die insbesondere von indigenen Gemeinschaften als Einheit verstandene Beziehung zwischen Menschheit und Territorium zerstört worden ist. Die indigene Richterin und Vizepräsidentin der JEP, Belkis Izquierdo, machte deutlich, dass der Schutz des Territoriums und der Respekt gegenüber der Natur für die Gemeinschaften unumgängliche Grundlage für Frieden sind. Der Wert des Territoriums und der Natur seien Teil des indigenen Weltverständnisses, in dem das Wohlbefinden des Einzelnen fundamental von dem der Gemeinschaft und des gesamten Kosmos abhänge. Izquierdo lobte die JEP dafür, dass sie mit der restaurativen Gerechtigkeit die Würde ins Zentrum der Rechtsprechung setze und Akzente setze, die über das konventionelle Rechtsverständnis hinausgingen. Rechtsgrundlagen, das habe das komplexe Modell der JEP gezeigt, müssten flexibel und offen bleiben und sich im Rahmen von Auseinandersetzungen mit unterschiedlichen Weltkonzeptionen wandeln können. Der Schritt, die Verbrechen gegen die Natur anzuerkennen, sei das erste Resultat einer solchen Auseinandersetzung, sei aber lediglich der Anfang einer nötigen Reflexion über das Verhältnis der herkömmlichen und alternativen Rechtsordnungen.
Am Nachmittag des zweiten Tages standen die enormen Herausforderungen im Vordergrund, vor denen Kolumbien angesichts anhaltender Gewalt steht: In vielen Regionen des Landes kämpfen weiterhin bewaffnete Akteure um die Kontrolle des Territoriums, vielerorts ist die Zivilbevölkerung ihrer Willkür ausgesetzt, zahlreiche Orte haben in den letzten Jahren gar einen Anstieg der Gewalt erlebt. Dies stellt die JEP auch bei ihrer Arbeit vor eine besondere Herausforderung: In den letzten Jahren sind zahlreiche ehemalige FARC-Kämpfer*innen, die sich dem Friedensprozess angeschlossen hatten, ermordet worden. Kann ihre Sicherheit bei ihrer Rückkehr in die Gemeinschaften nicht gewährleistet werden, ist die Umsetzung der alternativen Sanktionen und der Fokus auf Reintegration gefährdet. Professorin Jenny Pearce von der London School of Economics betonte daher in ihrem Beitrag, dass die JEP aktuelle Gewaltdynamiken ernstnehme, die in den herkömmlichen Transitional Justice Verfahren häufig untergingen. So zeige die Arbeit der JEP, dass „alle Gewalt zählt“ („all violence matters“). Pearce lud die Anwesenden dazu ein, dieses Verständnis als Anlass zu nehmen, um über Vorstellungen von Sicherheit in Friedensprozessen nachzudenken. Gewalt in ihren verschiedenen Ausdrucksformen nach Abschluss eines Friedensabkommens von vorneherein ernstzunehmen, könne einem Ansatz wie jenem vorbeugen, der aktuell in El Salvador vorherrsche und der massive Menschenrechtsverletzungen in Kauf nehme. Ihre große Angst, so Pearce, sei angesichts der Beliebtheit, die jener Ansatz in El Salvador und darüber hinaus erfahre, eine Verbreitung und erhöhte Akzeptanz solcher Antworten auf die Gewalt in Lateinamerika. Statt eines allgemeinen Sicherheitskonzept, das lediglich auf Militarisierung beruhe, müsse, wie die JEP es sich zur Aufgabe gemacht habe, in den jeweiligen Konfliktszenarien nach Ursachen der Gewalt auf unterschiedlichen Ebenen gesucht werden und dazu passende differenzierte Lösungsansätze erarbeitet werden. Nur so könne das Anliegen der »Nicht-Wiederholung« als eines der zentralen Ziele des kolumbianischen Transitional-Justice-Modells verfolgt werden, ohne in einer endlosen Gewaltspirale zu münden.
Die JEP stehe, darin waren sich die Panelteilnehmer*innen einig, vor einer enormen Aufgabe, und dies bei zeitlicher Begrenzung und knappen finanziellen Mitteln, und dennoch habe sie bereits jetzt geleistet, was in 60 Jahren bewaffneten Konflikts kein Gericht vermocht habe. Mit den Worten, die JEP finde „hier“ statt, sie walte in den Ideen, Forschungen und Fragen der Anwesenden, leitete Präsident Roberto Vidal das Ende der zwei bereichernden Konferenztage ein. Dass es möglich sei, in der »Heimat« des Internationalen Gerichtshofs gemeinsam in Austausch zu treten, zeige, dass die kolumbianische Gerechtigkeit „die Gerechtigkeit aller“ sei und das Leid auf der Welt die Kolumbianer ebenso betreffe wie das im eigenen Lande.
Juliane Hartnack