W&F 1985/5

Ein umfassendes Atomteststopp-Abkommen ist möglich.

Erster Schritt zur Abrüstung

von Thomas Büttgenbach, Volker Steinbach, Dieter Wolf-Gladrow

Im Sommer 1985 legte die Bundesrepublik der ständigen Abrüstungskonferenz der Vereinten Nationen in Genf einen Vorschlag darüber vor, wie die stufenweise Einführung eines totalen Teststopps für nukleare Waffen mit Mitteln der modernen Seismologie international überwacht werden könnte. Das Überwachungskonzept ist von deutschen Seismologen entwickelt worden und wurde offiziell von der Deutschen Geophysikalischen Gesellschaft (DGG) der Bundesregierung vorgelegt.

Der Abschluß eines solchen umfassenden Teststoppabkommens (comprehensive test ban treaty; CTBT) durch die Nuklearmächte wäre ein entscheidender Beitrag zur weltweiten Friedenssicherung, denn

- zur Entwicklung neuer nuklearer Waffensysteme werden bislang nukleare Tests für unerläßlich gehalten, mit einem Teststop könnte dem Rüstungswettlauf Einhalt geboten werden;

- die vorhandenen Kernwaffenarsenale könnten nicht mehr wie bisher auf ihre Funktionstüchtigkeit geprüft werden;

- es könnte überprüft werden, ob nukleare Schwellenländer, das sind Länder, die prinzipiell innerhalb kurzer Zeit Nuklearwaffen entwickeln könnten, solche Waffen tatsächlich herstellen.

Der Abschluß eines solchen Abkommens zwischen den Nuklearmächten bleibt jedoch wohl noch solange ein Wunschtraum, wie die entscheidenden Politiker meinen, nationale Sicherheit sei nur durch Aufrüstung zu erreichen.

Die Sowjetunion hat zuletzt im Februar 1985 Verhandlungen über ein umfassendes Teststoppabkommen angeboten und ihren Willen durch ein einseitiges Moratorium (vom 6. August bis Ende 1985) unterstrichen. Die Reagan- Administration lud sowjetische Wissenschaftler zu einem amerikanischen Kernwaffentest ein. Der Vorschlag der UdSSR wurde mit dem Hinweis auf weitere notwendige Versuchsreihen abgelehnt. Ein Grund ist sicherlich die Entwicklung des nukleargezündeten Roentgenlasers im Rahmen des SDI-Programms. 1

Beide Angebote beinhalten sicherlich propagandistische Aspekte (der amerikanische Vorschlag war offensichtlich eine Reaktion auf die Ankündigung des sowjetischen Moratoriums) im Vorfeld des Genfer Gipfeltreffens. Ein beiderseitigen Moratorium (wie schon 1959 bis August 1961 auf einen amerikanischen Vorschlag hin vor Abschluß des eingeschränkten Teststoppabkommens) wäre allerdings der beste Einstieg in konkrete Verhandlungen.

Geschichte einer Initiative

Um die Hintergründe der Initiative von deutschen Geophysikern für einen umfassenden Teststopp näher zu beleuchten, ist es notwendig, etwas in der Geschichte zurückzugehen.

Seit dem Abwurf der Atombombe über Hiroshima und Nagasaki gab es bis zur Mitte der 50er Jahre nur vereinzelte Kernwaffenversuche. Danach stieg ihre Zahl stark an. Dabei handelte es sich überwiegend um Tests in der Atmosphäre, mit oft starkem radioaktiven Niederschlag (Fallout). Die Bevölkerung in den betroffenen Gebieten wurde dabei großen Strahlendosen ausgesetzt. Als dies in den USA und Großbritannien bekannt wurde, wuchs der öffentliche Druck, die Kernwaffenversuche einzustellen.

Einen wichtigen Anstoß zum Beginn ernsthafter Gespräche zwischen Großbritannien, der USA und der UdSSR gab eine Petition, die der Nobelpreisträger Linus Pauling im Januar 1958 der UN vorlegte. Darin fordern mehr als 9000 Wissenschaftler aus 49 Nationen, einschließlich des Ostblocks, einen sofortigen Stopp aller Atombombenteste. zu Anfang der Verhandlungen machten die Amerikaner und Briten den Vorschlag, die Testtätigkeit für ein Jahr zu unterbrechen, wenn die UdSSR ebenfalls ihre Tests einstellen würde. Diese Stillhalte-Absprache (Moratorium) sollte dann von Jahr zu Jahr erneuert werden. Und tatsächlich stellten alle Verhandlungspartner freiwillig am Ende des Jahres 1958 ihre Tests ein. Leider zogen sich die Teststoppverhandlungen hin, da man sich über die Anzahl von jährlichen „Ortsbesichtigungen“ in den Testgebieten nicht einigen konnte. Die US-Delegation zweifelte außerdem an der Überwachung mit seismischen Methoden. Zu allem Übel verschlechterte sich 1960 das politische Klima drastisch durch die U 2-Krise (Abschuß eines Spionage- Flugzeuges der USA über der UdSSR) und die Zündung der ersten französischen Atombombe. Das Moratorium wurde daraufhin im September 1961 zunächst durch die UdSSR mit ungewöhnlich starken Kernwaffentests in der Atmosphäre, dann auch durch die USA beendet. Die Chance, einen freiwilligen totalen Teststopp durch einen Vertrag zu manifestieren und damit die rasante Entwicklung von Kernwaffen zu stoppen, war dahin.

Nach der Kuba-Krise 1962 maß der amerikanische Präsident Kennedy wieder dem Teststoppabkommen höchste Priorität zu. In Folge wurden 1963 die Abrüstungsgespräche neu belebt. Sie führten nach einer erstaunlich kurzen Verhandlungsphase zum Abschluß des begrenzten Teststopp- Abkommens (Partial Test Ban Treaty) am 5. 8. 1963. Dabei wurden die noch immer bestehenden Streitpunkte (Anzahl der „Ortsbesichtigungen“, Nachweis unterirdischer Kernexplosionen mit seismologischen Methoden) umgangen. Dieser Vertrag verbietet nur oberirdische Kernwaffentests.

Leider nahm die Zahl der Tests nach Unterzeichnung des Abkommens nicht ab. Der Vertrag führte nur dazu, daß die Versuche unter die Erde verlegt wurden. Gleichwohl haben sich die Unterzeichnerstaaten in der Präambel des Vertrages verpflichtet, solange Verhandlungen zu führen, bis ein vollständiger Teststopp erreicht ist. 2 7 Diese Verpflichtung wird in dem 1970 in Kraft getretenen Atomwaffen- Sperrvertrag (ng. Nuclear Nonproliferation Treaty) noch einmal bekräftigt (siehe Abb. 1). In diesem Vertrag, den bis heute 128 Staaten unterzeichnet haben, werden die Atommächte außerdem dazu aufgefordert, ihre Bestände an Nuklearwaffen einzufrieren. 3 Der letzte ernsthafte Versuch, ein umfassendes Teststoppabkommen auszuhandeln, wurde unter der Präsidentschaft Carters (USA) gemacht. Dabei akzeptierte die UdSSR den Vorschlag, unbemannte seismische Stationen auf ihrem Territorium zur Kontrolle auch kleinerer Ladungsstärken aufzustellen 4. Nach dem Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan wurden die Gespräche leider von amerikanischer Seite abgebrochen. Zu diesem Schritt hat aber auch die Meinung einiger Wissenschaftler von den Forschungszentren für Nuklearwaffen (Lawrence Livermore National Laboratory, Los Alamos National Laboratory) beigetragen, ohne Testexplosionen sei die Zuverlässigkeit des amerikanischen Atombombenarsenals nicht gewährleistet. Dieser Einstellung hat sich in Folge auch die Reagan- Administration angeschlossen.

In dieser politisch festgefahrenen Situation meldete sich eine Gruppe engagierter deutscher Geophysiker auf dem Kongreß „Verantwortung für den Frieden – Naturwissenschaftler warnen vor neuer Atomrüstung“ in Mainz am 2. und 3. Juli 1983 zum erstenmal öffentlich zu Wort. In einem speziellen Symposium behandelten sie die technischen und wissenschaftlichen Fortschritte auf dem Gebiet der Überwachung eines umfassenden Testverbots. Sie kamen zu der Oberzeugung, daß aus technischer Sicht der Überwachung eines Vertrages nichts mehr im Wege steht. Worauf es nur noch ankäme, wäre der politische Wille der beteiligten Staaten 5. Angesichts dieser Argumente aktivierten sie ihre Fachkollegen, politischen Druck auszuüben; Es kam im Februar 1984 zu der Verabschiedung einer Resolution durch die Deutsche Geophysikalische Gesellschaft (DGG), in der die jetzige Bundesregierung aufgefordert wird, sich in Genf für den Abschluß eines Teststoppabkommens aktiv einzusetzen (siehe Rubrik: Resolution der DGG zu einem Verbot von Kernwaffentests). Nach Gesprächen mit dem Auswärtigen Amt wurde eine Expertengruppe der DGG beauftragt, einen Vorschlag zur Errichtung eines seismischen Überwachungsnetzes als Grundlage für ein umfassendes Teststoppabkommen zu entwickeln. Das Ergebnis ist ein Dreistufenplan, den die Bundesregierung durch den Diplomaten Henning Wegener bereits im Juli 1985, nur knapp zwei Jahre nach dem Beginn der öffentlichen Diskussion, der UNO-Abrüstungskonferenz in Genf vortragen ließ.

Vorschlag der Bundesregierung

Der von der Bundesregierung eingebrachte Vorschlag sieht die schrittweise Einführung eines internationalen Überwachungs- und Überprüfungssystems für unterirdische Kernwaffenversuche vor. Danach sollen zunächst die Daten der vorhandenen seismischen Stationen ausgetauscht und untersucht werden. Innerhalb von 2 Jahren wären damit Explosionen mit einer Raumwellenmagnitude größer als mb = 5,0 überall sicher erkennbar. Dies entspricht je nach Art des Gesteins, in dem die Bombe gezündet wird) einer Ladungsstärke von über 10 bis 100 kt TNT. Nach weiteren 2 Jahren könnte durch die Installation einiger weiterer Stationen in Gebieten, in denen bisher keine Messapparaturen zur Verfügung standen, die Identifikationsgrenze auf mb = 4,7 (5-50 kt TNT) herabgedrückt werden. Längerfristig wird eine Standardisierung der Stationen auf modernem Niveau angestrebt (digitale breitbandige Registrierung, Bohrlochseismometer). Ein schneller und vollständiger Datenaustausch ist mit Hilfe von Satelliten möglich. Damit könnten in etwa 8 Jahren Ereignisse mit Magnitude mb größer als 4,0 (1-10 kt TNT) sicher identifiziert werden. Daneben wird die Einführung von zusätzlichen Messestationen (z. T. Arrays) in den Kernwaffenstaaten selbst angestrebt. Damit könnten lokal noch Explosionen Magnitude mb = 3,0 erkannt werden.

Einschätzung des Dreistufenplans

Der von der Bundesregierung eingebrachte Vorschlag beruht auf folgender Einschätzung der Situation: 1.) Zwischen den Supermächten USA und UdSSR besteht beiderseitiges Mißtrauen, so daß ein Abkommen über ein Testverbot nur in Zusammenhang mit einer gesicherten Verifikation möglich ist. 2.) Statt eines umfassenden Teststoppabkommens sind daher in den nächsten Jahren bestenfalls Schwellenabkommen in ähnlicher Form wie das 150 kt-Abkommen von 1976 zu erwarten (sogenannte Niedrigschwellenabkommen, engl. Low Threshold Test Ban Treaty (LTTBT)). 3.) Einbeziehung von (automatischen) Stationen in den Kernwaffenstaaten ist erst nach längeren Verhandlungen möglich.

Unter diesen Voraussetzungen ist der eingebrachte Vorschlag durchaus folgerichtig. Mit der stufenweise technischen Verbesserung und Standardisierung der vorhandenen und der Errichtung einiger neuer Stationen kann die Verifikationsschwelle nach und nach heruntergedrückt werden. Die einzelnen Staaten könnten sofort, d. h. vor dem Abschluß eines Vertrages, damit beginnen, die technischen Voraussetzungen auf ihren jeweiligen Territorien bereitzustellen. Sobald sich genügend viele Staaten daran beteiligen, wäre eine Überwachung zunächst bei einem relativ hohen Schwellenwert möglich. Nach dem Vorschlag kann man aber erst nach frühestens 8 Jahren einen Schwellenwert von 10 kt TNT erreichen. Das erscheint uns angesichts der ständig fortschreitenden Aufrüstung keine ausreichende Perspektive zu sein. Dies vor allem, wenn man sieht, daß die Entwicklung zu Kernwaffen mit immer kleinerer Ladungsstärke hinläuft (im Zusammenhang mit immer zielgenaueren Trägersystemen. Nach Abb. 2 findet schon heute der Hauptteil der Versuche im Bereich von 10 kt TNT statt. Daher muß der Errichtung von (automatischen) Stationen in den Kernwaffenstaaten schon in einer frühen Phase höchste Priorität eingeräumt werden.

Dem Abschluß eines Teststoppabkommens (bzw. eines Niedrigschwellenabkommens) stehen heute in erster Linie politische Gründe im Wege. Die UdSSR hat 1985 Verhandlungen angeboten und ihren guten Willen durch ein einseitiges Moratorium (vom 6. August 1985 bis Ende 1985) unterstrichen. Parteichef Gorbatschow hat in einem Brief an Bundeskanzler Kohl die Ansicht vertreten, daß man auch „mit nationalen Mitteln“ ein Abkommen überprüfen könne 6. Von westlicher Seite wird dagegen zur Zeit keine Verhandlungsbereitschaft signalisiert. Die USA entwickeln einen mit Kernexplosionen betriebenen Roentgenlaser im Rahmen des SDI-Programms. Der französische Staatspräsident Mitterand und Regierungschef Fabius pilgern zum Muroroa-Atoll, um den Tests von Neutronenbomben beizuwohnen.

Resumee

Der relativ schnelle Erfolg, eine konservativ-liberale Bundesregierung innerhalb von zwei Jahren von den eigenen friedenssichernden Zielen zu überzeugen und zu aktivieren, zeigt exemplarisch, wie weit naturwissenschaftliche Forschung und der daraus resultierende politische Druck letztendlich den politischen Willen beeinflussen können. Natürlich darf das kein Grund sein, sich nur noch auf die Schulter zu klopfen. Unserer Meinung nach kommt es gerade jetzt darauf an, das Verbot von Kernwaffentests zum Thema zu machen, um auch auf internationaler Ebene gezielt auf die politische Willensbildung einwirken zu können. Ein konkreter nächster Schritt könnte sein die nationalen Regierungen darauf zu drängen, sofort mit dem Zusammenschluß bestehender seismischer Stationen zu einem Überwachungsnetz zu beginnen. Für dieses Netz könnten die Daten sofort in einem eigenen Datenzentrum gesammelt und analysiert werden. Eine ständige Expertengruppe kann aufgrund dieser Untersuchungen möglichst rasch eine Verbesserung des Netzes und der Auswertungsverfahren vorschlagen („learning by doing“). Eine entsprechende Forderung ist in dem deutschen Vorschlag bereits formuliert worden.

Der Aufbau eines internationalen seismischen Kontrollnetzes, unabhängig vom Stand der Verhandlungen in Genf, würde der Forderung nach dem Abschluß eines Teststoppabkommens deutlich Nachdruck verleihen.

Welchen Stellenwert ein Teststoppabkommen international hat, wird in der Haltung der „Nicht-Atommächte“ unter den Unterzeichnern des Atomwaffen-Sperrvertrags deutlich: Sie sehen einen umfassenden Teststop nicht nur als den wichtigsten Schritt zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens an, sondern auch als die am besten durchzuführende Maßnahme, um die vertikale (d. h. Entwicklung) und horizontale (Auslieferung an andere Staaten) Weiterverbreitung von nuklearen Waffen zu verhindern. Denn während die atomwaffenlosen Staaten ihrer Verpflichtung nachkommen, keine nuklearen Waffen zu entwickeln oder zu erwerben, halten sich die Nuklearmächte nicht an ihr Versprechen, „die Verhandlungen fortzusetzen, um das nukleare Wettrüsten zu einem möglichst frühen Zeitpunkt zu stoppen und um eine nukleare Abrüstung zu erreichen“ (Artikel 6 des Atomwaffen-Sperrvertrages). So wird heute laut darüber nachgedacht, den Vertrag nach seinem Ablauf (1995) nicht mehr zu verlängern oder ihn vorzeitig aufzukündigen.

Es wird Zeit, daß der Forderung nach einem umfassenden Teststoppabkommen auch in der Friedensbewegung eine zentrale Rolle zukommt. Bisher haben sich die Aktivitäten in dieser Richtung fast ausschließlich auf einen kleinen – Expertenkreis beschränkt. Eine Ausnahme bildet die internationale Ärzteorganisation zur Verhinderung eines Nuklearkrieges (Friedensnobelpreis 1985) die ein umfassendes Teststoppabkommen zu ihrer Hauptforderung erkürt hat.

-------------------------------------------------------------------------------------------------------

Ergänzungen

Bestimmung Sprengkraft aus der seismischen Amplitude

Unterirdische Explosionen und Erdbeben haben nicht nur lokale Auswirkungen: Ein Teil der freigesetzten Energie breitet sich in Form von elastischen Wellen im Erdkörper und an dessen Oberfläche aus.

Das durchlaufende Material wird dabei elastisch verformt, d. h. es kehrt nach der Deformation in seinen ursprünglichen Zustand zurück.

Der Widerstand, den ein Material den beiden Verformungsarten Kompression und Scherung entgegensetzt, wird durch das Kompressionsmodul K und Schermodul G beschrieben: Je weniger ein Körper der Belastung nachgibt, desto größer ist das entsprechende Modul. Für Flüssigkeiten z. B. gilt G = 0, da sie einer Scherung keinerlei Widerstand entgegensetzen.

Diesen beiden Verformungsarten entsprechen die beiden möglichen elastischen Wellen: Kompressionswellen und Scherwellen. Die sich innerhalb des Erdkörpers ausbreitenden Wellen nennt man, im Gegensatz zu den Oberflächenwellen, Raumwellen.

Bei der unterirdischen Explosion einer Atombombe wird, im Gegensatz zu einem Erdbeben, Energie nahezu gleichmäßig nach allen Richtungen hin angestrahlt. Dabei bilden sich im Gestein Kompressionswellen aus, die unabhängig vom Standort des Beobachters einen positiven, ersten Ausschlag im Seismogramm erzeugen. Als Maß für die Stärke eines solchen seismologischen Ereignisses benutzen Seismologen die Magnitude. Diese Größe wird aus der Amplitude der gemessenen Welle und der Entfernung von der Quelle berechnet. Für die verschiedenen Wellentypen gibt es unterschiedliche Magnitudenskalen. Bei der Raumwellenmagnitude (mb) werden die Amplituden jener Wellen gemessen, die durch das Erdinnere gelaufen sind. Für die Berechnung der Sprengkraft W (in Einheiten von 1000 Tonnen des konventionellen Sprengstoffs TNT gemessen, kurz: kt TNT) werden Formeln folgender Art benutzt:

mb = c1 x log (W) + c2

Die Konstanten c1 und c2 hängen davon ab, wie die Gesteine im Untergrund der Testgebiete beschaffen sind (Festgestein, Lockersedimente) und vom Laufweg, den die Wellen zwischen Quelle (Ort der Explosion) und Empfänger (Seismometer) zurücklegen müssen. Um eine genaue Bestimmung der Konstanten zu ermöglichen, sind „Eichsprengungen“ (Zündung einer Bombe mit bekannter Sprengkraft) innerhalb der Testgebiete notwendig. Fehlen diese Testsprengungen, können die auftretenden Unsicherheiten bei der Bestimmung dazu führen, daß ein registriertes Ereignis der Magnitude mb = 5 im ungünstigsten Fall von einer 100 kt Bombe oder im idealen Fall von einer 10 kt Bombe stammt.

Entkopplung (decoupling)

Um einen Kernwaffentest zu verheimlichen, gibt es die Möglichkeit einer „Entkopplung“ der Explosion vom umgebenden Gestein, indem man die Bombe innerhalb eines Hohlraumes (Kaverne) zündet. Stabile Hohlräume können jedoch nur in Festgestein (z. B. Granit) und Salzlagerstätten geschaffen werden. Beispielsweise ist für die Entkopplung einer Bombe mit der Sprengkraft von 50 kt TNT eine Kaverne mit einem Radius von mindestens 60 m notwendig. Der dabei anfallende Aushub erfordert enorme bergmännische Aktivität, die den Spionagesatelliten sicher nicht verborgen bleiben dürfte.

Um sicherzugehen, basiert der deutsche Dreistufenplan zur Kontrolle eines Teststoppabkommens auf einer hoch eingeschätzten Entkopplung. So wird bei der dritten Phase davon ausgegangen, daß es möglich ist, eine Bombe mit 1 kt TNT Sprengkraft auf eine zu beobachtende Stärke von 5 t TNT zu dämpfen, aber auch solche geringen Stärken lassen sich noch von einem regionalen Seismometern in der Nähe des Testgebietes registrieren und entdecken. Allerdings darf der Abstand höchstens 500 – 1000 km betragen. Da die Stationen innerhalb der zu kontrollierenden Länder stationiert werden müssen, kommen nur unbemannte, selbständig arbeitende Seismometer in Frage, die ständig von allen Vertragspartnern abgefragt werden können. Stationen dieser Art sind aber bereits von Spezialisten der amerikanischen Sandia National Laboratories entwickelt worden. 3

Meßtechnik heute

Die seismische Meß- und Interpretationstechnik hat in den letzten Jahren von der Elektronik und den Möglichkeiten der Datenverarbeitung profitiert. Mit Seismometern können noch Bodenbewegungen in der Größenordnung von „Nano-Metern“ (Millionstel Millimeter) erfaßt werden., Ihr Auflösungsvermögen wird nicht mehr durch eine unzureichende Technik begrenzt, sondern nur noch durch die Unruhe des Erdbodens. Diese immer vorhandene „Bodenunruhe“ wird sowohl durch natürliche (z. B. Wind, Meeresbrandung) als auch durch künstliche Quellen (Industrie, Verkehr) hervorgerufen. Die kurzperiodische Bodenunruhe geht mit der Tiefe drastisch zurück. Daher installiert man Seismometer neuerdings bis zu 300 Meter Tiefe (Bohrlochseismometer). Ein „Array“ ist die Anordnung von mehreren Seismometern in einem Gebiet mit der Ausdehnung von einigen Kilometern bis einigen 100 Kilometern. Die Messungen werden auf Magnetband aufgezeichnet und mit Hilfe großer Computer verarbeitet (z. B. „stapeln“). Mit einem einzigen Array ist schon eine sehr gute Lokalisation der Quelle möglich (Richtantenne). Heute sind sogar schon Arrays in Betrieb, die mit Bohrlochseismometern arbeiten. Sie stellen z. Zt. den höchsten technischen Standard dar. Die für die Erdbebenforschung installierten Seismometer messen die Bodenbewegungen meist nur im Bereich von 1 bis 10 Hz. Um besser zwischen Kernexplosionen und Erdbeben unterscheiden zu können (der Frequenzinhalt der erzeugten Wellen ist unterschiedlich), wird der Frequenzbereich auf 0,01 – 10 oder sogar bis 30 Hz ausgedehnt (Breitbandregistrierung).

Mainz, den 21. Februar 1984

Resolution der Deutschen Geophysikalischen Gesellschaft, zur Weitergabe an die Bundesregierung beschlossen von der Mitgliederversammlung anläßlich Ihrer 44. Jahrestagung.

Im Hinblick auf die besondere Verantwortung der Wissenschaftler für den Frieden fordert die Deutsche Geophysikalische Gesellschaft die Bundesregierung auf, ihren ganzen Einfluß auf die Nuklearmächte geltend zu machen, um eine Beendigung des Rüstungswettlaufs durch wirksame und kontrollierbare Verträge herbeizuführen.

Ein Vertrag über ein Verbot aller Kernwaffenversuche hat dabei hohe Priorität und wird seit vielen Jahren in zahlreichen Resolutionen der Vereinten Nationen – auch mit Unterstützung der Bundesrepublik – gefordert. Er scheiterte bisher unter anderem daran, daß eine wirksame Kontrolle eines Verbots unterirdischer Kernexplosionen nicht möglich war.

Nach 25 Jahren intensiver geophysikalischer Untersuchungen sind jetzt die technisch- wissenschaftlichen Voraussetzungen für eine Überwachung der Einhaltung eines Verbots unterirdischer Atombombentests gegeben. Ein weltweit zu errichtendes Netz moderner seismischer Stationen und ein internationales Datenaustausch System würden die Entdeckung und Erkennung unterirdischer Kernexplosionen bis zu sehr kleinen Ladungsstärken herab sicherstellen. Die technischen Kenndaten des seismischen Überwachungssystems können den politisch vorzugebenden Randbedigungen angepaßt werden.

Daher fordert die Deutsche Geophysikalische Gesellschaft die Bundesregierung auf, die beiden Großmächte sowie alle anderen Unterzeichnerstaaten an ihre im Teilteststoppvertrag von 1963 und im Nichtverbreitungsvertrag von 1968 abgegebene Verpflichtung zu erinnern, die Verhandlungen über ein vollständiges Verbot aller Kernwaffentest. bis zum erfolgreichen Abschluß unverzüglich fortzusetzen.

Anmerkungen

1 Wer kann's besser?, Spiegel Ausgabe v. 5. 8. 85.Zurück

2 Aichele, H., Büttgenbach, T., Rademacher, H. Steinbach, V., Wolf, D., 1984, Verbot von Kernwaffenversuchen, Wandzeitung zur Rüstungsforschung Nr. 5, Hrsg.: Forum Naturwissenschaftler für Frieden und Abrüstung, Friedrich- Ebert- Straße 114, 4400 Münster.Zurück

3 Epstein, W, 1985, A Critical Time for Nuclear Nonproliferation, Scientific American, Vol 253 (2). Zurück

4 Hafemeister, D., Romm, J. J., Tsipis, K., 1985 Überwachung der Rüstungskontrolle, Spektrum der Wissenschaft, Mai- Ausgabe, S. 34-42. Zurück

5 Hartes, H.- P., Aichele, H., Rademacher, H., 1983, Es kommt auf den politischen Willen an - Ein seismisches Netz zur Erfassung unterirdischer Kernexplosionen, in: Verantwortung für den Frieden. Naturwissenschaftler gegen Atomrüstung, Hrsg. H. P. Den, H.- P. Hartes, M. Kreck, P. Starlinger, Spiegel-Verlag, Hamburg.Zurück

6 Frankfurter Rundschau, 6. 9. 85. Zurück

7 Abrüstung - Nachrüstung - Friedenssicherung 1983, Hrsg.:J. v. Mönch, M. Klingst, Beck Texte im DTV, München. Zurück

Dipl. Geophys. Thomas Büttgenbach, Dipl. Geophys. Volker Sehbach, Dipl. Phys. Dieter Wolf-Gladrow sind tätig am Institut für Geophysik und Meteorologie der Universität Köln

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1985/5 1985-5, Seite