W&F 2019/4

Ein Wegbereiter der Friedensbewegung

Vor 50 Jahren starb Friedrich Siegmund-Schultze

von Karlheinz Lipp

Vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik Deutschland – über mehrere Jahrzehnte und in äußerst unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Systemen – engagierte sich Friedrich Siegmund-Schultze (1885-1969) sehr intensiv in verschiedenen Organisationen für den Frieden und für soziale Fragen. Wie sah dieses Engagement aus?

Die Zweite Haager Friedenskonferenz von 1907 beflügelte einige christliche Gruppen in Deutschland und Großbritannien in ihrem Friedensengagement. Besonders gegenseitige Besuche, beginnend im Frühjahr 1908, sollten Vorurteile ab- und freundschaftliche Beziehungen aufbauen. Friedrich Siegmund-Schultze erhielt von seinem Patenonkel, dem Hofprediger Ernst von Dryander, direkt nach dem theologischen Examen den Auftrag, diese Reisen zu organisieren – und wirkte bis 1914 als Sekretär des Vereinigten Kirchlichen Komitees zur Pflege freundschaftlicher Beziehungen zwischen Großbritannien und Deutschland. Bereits in dieser frühen Lebensphase entwickelte er ein großes Interesse an internationalen Fragen und Konzepten der Verständigung. Dies prägte Siegmund-Schultze entscheidend, und er unterschied sich dadurch von vielen deutschnationalen und militaristischen Pfarrern und Theologen.

Im Jahre 1910 heiratete der Bürgerliche die adlige Maria von Maltzahn; beide überwanden dadurch soziale Schranken. Aus der Ehe gingen sechs Kinder hervor. Im gleichen Jahr referierte Siegmund-Schultze in der Sektion »Die Religion und der Friede« auf dem Fünften Weltkongress für Freies Christentum und Religiösen Fortschritt in Berlin.

Die Soziale Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost und die Zeitschrift »Die Eiche«

Das Jahr 1911 bedeutete für Siegmund-Schultze eine tiefe Zäsur. Nach nur einem Jahr (1910/11) als Pfarrer an der Potsdamer Friedenskirche verließen seine Frau und er das bürgerliche Ambiente und siedelten um in das proletarische Armutsviertel im Osten Berlins. Dort erfolgte die Gründung der »Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost«, einer Nachbarschaftssiedlung von Arbeiterinnen und Arbeitern sowie Studierenden nach dem Vorbild des englischen Settlements Toynbee Hall, welches der Theologe 1908 bei einem Besuch in London kennengelernt hatte. Sukzessive wurde dieses Projekt zur Versöhnung der Klassen erweitert. So kamen in den nächsten Jahren eine Frauenkolonie, eine Volkshochschule, eine Jugendgerichts­hilfe, Ferienkolonien, ein Kinderheim sowie eine Heilerziehungsstätte für psychisch auffällige Kinder auf dem Ulmenhof (Berlin-Wilhelmshagen) hinzu. Dieses Projekt leitete Siegmund-Schultze bis zur Zerstörung durch den NS-Staat im Jahre 1933.

Das soziale Engagement des Theologen zeigt sich auch in der Gründung des Akademisch-Sozialen Vereins (1912) sowie in seiner Funktion als Sekretär des Christlichen Studentenweltbundes für Sozialarbeit und Ausländermission (1912-1914).

Im Januar 1913 erschien erstmals die Zeitschrift »Die Eiche«, die von Friedrich Siegmund-Schultze herausgegeben wurde. Der US-amerikanische Millionär und pazifistische Mäzen Andrew Carnegie unterstützte das Erscheinen der ersten Jahrgänge finanziell. In den Anfangsjahren führte dieses Organ den aussagekräftigen Untertitel »Vierteljahresschrift zur Pflege freundschaftlicher Beziehungen zwischen Grossbritannien und Deutschland«. Bis zum Verbot durch den NS-Staat im Jahre 1933 gehörte »Die Eiche« zu den wichtigsten deutschsprachigen Zeitschriften im Bereich der internationalen und pazifistischen Ökumene.

Erster Weltkrieg

Anfang August 1914 fand in Konstanz eine internationale kirchliche Friedenskonferenz statt, die Siegmund-Schultze organisierte. Zweck dieser Tagung sollte die Zusammenführung verschiedener Kirchengemeinschaften und Völker sein, um die Bedeutung des Friedens zu betonen und die Kriegsgefahr zu bannen. Ca. 120 Delegierte aus 30 Ländern nahmen an dieser Konstanzer Veranstaltung teil, die wegen des Beginns des Ersten Weltkrieges bereits am 2. August beendet werden musste. Gleichwohl bedeutete die Tagung de facto den Beginn der Arbeit des Weltbundes für Freundschaftsarbeit der Kirchen. Siegmund-Schultze blieb dieser Organisation bis 1948 als Schriftführer eng verbunden.

Die Erinnerung der Tochter Elisabeth Hesse zeigt, dass dieses Friedensenga­ge­ment nicht unproblematisch war: „Mein Vater hatte nämlich, getreu seiner Glaubensüberzeugung, einen pazifistischen Quäkeraufsatz 1914 nach Ausbruch des Weltkrieges verbreitet und wurde von einem Mitglied der Kirchenbehörde bei den Militärs denunziert. Ein Verfahren wegen Hoch- und Landesverrat wurde eingeleitet. Ein Schreiben, das den Dank des Kaisers für den Quäkeraufsatz durch seinen Kabinettschef übermittelte, rettete meinen Vater vor der Füsilierung.“ (Siegmund-Schultze 1990, S. 401)

Die Position des Theologen schwankte während des Ersten Weltkrieges zunächst zwischen Patriotismus und christlichem Pazifismus. Bei Beginn dieses Krieges meldeten sich viele männliche Studierende und Helfer der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost freiwillig zum Kriegsdienst. Siegmund-Schultze kommentierte dies positiv. Im November 1914 wurde der Theologe Mitglied der Friedensorganisation Bund Neues Vaterland. Ende dieses Jahres zählte Siegmund-Schultze zu den führenden Mitbegründern der Auskunfts- und Hilfsstelle für Deutsche im Ausland und Ausländer in Deutschland (Caritas inter arma). Die Arbeit dieser Organisation erstreckte sich auf die gesamte Dauer des Ersten Weltkrieges.

Im Frühjahr 1915 aber zog Siegmund-Schultze eine ernüchternde Bilanz des ersten Kriegshalbjahres. Die Klassengegensätze seien nicht, wie er noch 1914 gehofft hatte, überwunden – im Gegenteil, sie hätten sich durch den Krieg verschärft. Ferner entlarvte der Theologe die Mythen und Lügen der kaiserlichen Propaganda. Ebenfalls 1915 wurde Siegmund-Schultze Obmann der englischen Gefangenenseelsorge in Deutschland (bis 1919) und Mitarbeiter der Bewegung für Praktisches Christentum (bis 1938).

Im Jahre 1916 kritisierte Siegmund-Schultze die zunehmende, kriegsbedingte Verwahrlosung von (männlichen) Jugendlichen. Sein Konzept, wonach Studierende die Berufs- und Arbeitswelt des Proletariats näher erleben sollten, bedeutete für ihn während des Krieges auch, die Arbeit in der Rüstungsindustrie kennenzulernen. Ebenfalls 1916 trat Siegmund-Schultze jeweils den neuen pazifistischen Organisationen Zentralstelle Völkerrecht und Vereinigung Gleichgesinnter bei.

Sein großes Engagement im Sozialbereich fand während des Krieges seinen Ausdruck in der Berufung zum ersten Direktor des Berliner Jugendamtes (1917/18), zum Vorsitzenden des Deutschen Vereins zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen sowie als Präsident des Internationalen Kongresses für Heilpädagogik (1918-1933).

Weimarer Republik und Friedenssonntag

Auch nach dem Ende des Ersten Weltkrieges zeigte sich die internationale und ökumenische Offenheit von Siegmund-Schultze. So arbeitete er von 1919 bis 1932 als Präsident des Internationalen Versöhnungsbundes (Deutscher Zweig), von 1920 bis 1937 als Mitglied eines Ausschusses der Weltkonferenz für Glauben und Kirchenverfassung, von 1921 bis 1930 als Geschäftsführer des Deutschen Komitees der Internationalen Volkshochschule in Helsingör (Dänemark) sowie von 1921 bis 1939 als internationaler Schriftführer des Kirchenkomitees für die Minoritäten der baltischen und südosteuropäischen Länder.

Im Jahre 1925 organisierte Erzbischof Nathan Söderblom (Friedensnobelpreis 1930), der Siegmund-Schultze nach Kriegsende kennengelernt und ihn zu Vorträgen nach Schweden eingeladen hatte, in Stockholm eine Weltkirchenkonferenz der nicht-römisch-katholischen Kirchen. Ein geplanter Vortrag von Siegmund-Schultze über »Die Erziehung zu brüderlicher Gesinnung im eigenen Volk und unter den Völkern« konnte nicht gehalten werden, da die deutsche Delegation ein solches Thema ablehnte und entsprechend blockierte. Auch hier zeigte sich das Aufeinandertreffen einer konservativen, nationalistischen Position und einer weltoffenen Überzeugung. Im gleichen Jahr übernahm Siegmund-Schultze eine Honorar-Professur an der Universität zu Berlin (Jugendkunde und Jugendwohlfahrt, später: Sozialpädagogik und Sozialethik).

Sehr große Sympathien brachte Siegmund-Schultze der Realisierung eines Friedenssonntages entgegen. Ein solcher höchst symbolischer Feiertag fand in Deutschland erstmals 1908 in der Freien Evangelischen Gemeinde Königsberg statt. Am 7. Dezember 1913 folgte erstmals (und bis heute letztmals) die Feier eines Friedenssonntages in einer Landeskirche, nämlich der Landeskirche Elsass-Lothringens.

In der Weimarer Republik versuchten religiös-sozialistische Pfarrer sowie Geistliche des Weltbundes für internationale Freundschaftsarbeit der Kirchen einen Friedenssonntag in Deutschland zu eta­blieren. Nachdem ein erwartetes positives Echo auf den Aufruf des Weltbundes für einen Friedenssonntag ausblieb, versuchte es Siegmund-Schultze in der Endphase der Weimarer Republik eigenständig mit einem erneuten Anlauf. In den Jahren 1930 bis 1932 veröffentlichte er in seinem Organ »Die Eiche« Artikel über den Friedenssonntag, sammelte akribisch ­Feiern von Friedenssonntagen im In- und Ausland und publizierte diese in seiner Zeitschrift. Die intensiven Bemühungen Siegmund-Schultzes brachten nur sehr geringe Erfolge. Im Jahre 1938 scheiterte er im Schweizer Exil nochmals mit dem Versuch, einen Friedenssonntag abzuhalten.

Exil in der Schweiz und die Zeit nach 1945

Im Frühjahr 1933 engagierte sich Siegmund-Schultze für ein Internationales Hilfskomitee für deutsche Auswanderer jüdischer Abstammung. Kurz vor der geplanten Gründung verhaftete die Gestapo den Theologen und zwang ihn am 23. Juni 1933 zur Flucht in die Schweiz. In seiner neuen Heimat wirkte er als Berater für Studierende der Züricher Hochschule (bis 1937), schloss sich (bis 1939) als Geschäftsführer dem Internationalen Kirchenkomitee für Flüchtlingshilfe an und arbeitete als Gastprofessor in verschiedenen Ländern. Im Jahre 1941 führte er Friedensverhandlungen für den deutschen Widerstand (Kreis um den Leipziger Oberbürgermeister Carl-Friedrich Goerdeler) mit den Alliierten.

Die Tochter Elisabeth erinnert sich: „Vor dem Krieg und auch noch während des Krieges traf sich mein Vater bei Konferenzen und zu Hause in Zürich mit führenden Leuten des Widerstandes. Von Goerdeler bekam meine Mutter ein wunderschönes Alpenveilchen geschenkt, das sie jahrelang immer wieder zum Blühen brachte. Der Vater teilte die Ansicht Goerdelers, einen Tyrannenmord nicht verantworten zu können. Er teilte ebenso die Ansicht des Kreisauer Kreises, auch Kommunisten an den Plänen für den Aufbau nach dem verlorenen Krieg zu beteiligen.“ (Siegmund-Schultze 1990, S. 407)

Im Jahre 1946 erfolgte ein Ruf auf eine Professur für Sozialethik und Sozialpädagogik an die Berliner Humboldt-Universität, die Siegmund-Schultze jedoch ablehnte mit dem Verweis auf die Unmöglichkeit einer Fortsetzung der Arbeit der Sozialen Arbeitsgemeinschaft in Berlin-Ost. Ein Jahr später nahm er eine Honorarprofessur an der Universität Münster an und übernahm die Leitung der sozialpädagogischen Abteilung der Forschungsstelle dieser Universität mit Sitz in Dortmund. Ebenfalls in dieser Stadt des Ruhrgebiets gründete Siegmund-Schultze eine Jugend-Wohlfahrtsschule und blieb bis 1954 dortiger Direktor. Generell gilt aber, dass nach dem Zweiten Weltkrieg die sozialpädagogische Arbeit des Exilanten in Wissenschaft und Praxis kaum rezipiert wurde.

Im Bereich der Friedensarbeit erreichte er allerdings Bedeutung. Schon 1946 veröffentlichte Siegmund-Schultze seine grundlegende Schrift »Die Überwindung des Hasses«. Hier zeigt er anhand von Beispielen aus der griechisch-römischen Welt, der Renaissance und Aufklärung, des Hinduismus, des Judentums und des Christentums Wege zur Überwindung des Hasses auf. Auch ein Denken jenseits von Klassen- und Rassenhass wird thematisiert.

In der praktischen Friedensarbeit blieb Siegmund-Schultze weiterhin aktiv. So beteiligte er sich an den Vorarbeiten zum Artikel 4, Absatz 3 des Grundgesetzes („Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden.“), wurde u.a. Präsident der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Friedensverbände sowie Vorsitzender der Zentralstelle für Recht und Schutz der Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen. Diese Funktion wurde umso dringlicher, da das Recht auf Kriegsdienstverweigerung immer mehr zu einem angeblichen Ausnahmerecht degradiert wurde. Er unterstützte Gustav Heinemanns Notgemeinschaft für den Frieden Europas und kritisierte die Wiederaufrüstung der jungen Bundesrepublik durch Kanzler Adenauer.

Siegmund-Schultze baute das umfangreiche Ökumenische Archiv in Soest auf, das inzwischen Teil des Evangelischen Zentralarchivs in Berlin ist – eine formidable Fundgrube zur Geschichte der (christlichen) Friedensbewegung. Sein Schüler und Mitarbeiter Klaus Rehbein äußerte sich zu dem Ökumenischen Archiv so: „Aus der reichen Erfahrung eines konfliktreichen Lebens hatte Siegmund-Schultze ein tiefes Mißtrauen gegen ausschließlich staatliche oder kirchlich verwaltete Institute und Institutionen. Er wollte bis zuletzt selbst über die Zugangsmöglichkeiten zu seinem Material bestimmen können. Die Freigabe für die Verwaltung Dritter sollte erst dann erfolgen, wenn das Material geordnet und dokumentiert war. Und ein zweites kam hinzu. Es gelang Siegmund-Schultze, sein Soester Archiv noch einmal zu einem Zentrum ökumenischer Begegnung zu machen. Alte Freunde und Weggefährten trafen sich mit einer neuen Generation.“ (Siegmund-Schultze 1990, S. 422)

Nach Friedrich Siegmund-Schultze benannte die Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kriegsdienstverweigerung einen Preis für gewaltfreies Handeln (ab 2018 Evangelischer Friedenspreis), der seit 1994 verliehen wird.

Quellen und Literatur

Conway, J.S. (1983): Friedrich Siegmund-Schultze (1885-1969). Evangelische Theologie, Nr 43, S. 221-250.

Dam, H. (2001): Der Weltbund für Freundschaftsarbeit der Kirchen 1914-1948 – Eine ökumenische Friedensorganisation. Frankfurt am Main: Lembeck.

Epting, K.C. (1985): Die erste internationale Konferenz der Kirchen für Frieden und Freundschaft in Konstanz 1914. Ökumenische Rundschau, S. 7-25.

Gaede; R. (2018): Kirche – Christen – Krieg und Frieden. Die Diskussion im deutschen Protestantismus während der Weimarer Republik. Bremen: Donat.

Grotefeld, S. (1995): Friedrich Siegmund-Schultze – Ein deutscher Ökumeniker und christlicher Pazifist. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.

Lipp, K. (2013): Berliner Friedenspfarrer und der Erste Weltkrieg – Ein Lesebuch. Freiburg i. Br.: Centaurus.

Lipp, K. (2014): Der Friedenssonntag im Kaiserreich und in der Weimarer Republik – Ein Lesebuch. Nordhausen: Traugott Bautz.

Nowak, K. (1981): Evangelische Kirche und Weimarer Republik – Zum politischen Weg des deutschen Protestantismus zwischen 1918 und 1932. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Siegmund-Schultze, F. (1990): Friedenskirche, Kaffeeklappe und die ökumenische Vision – Texte 1910-1969. Hrsg. von Wolfgang Grünberg u.a. München: Kaiser Taschbuch.

Tenorth, H.-E. u.a. (Hrsg.) (2007): Friedrich Siegmund-Schultze (1885-1969) – Ein Leben für Kirche, Wissenschaft und soziale Arbeit. Stuttgart: Kohlhammer.

Dr. Karlheinz Lipp ist Historiker und Mitglied im Arbeitskreis Historische Friedensforschung.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2019/4 Ästhetik im Konflikt, Seite 43–45