Eine andere Realität
Fachdialog, Combatants for Peace und forumZfD mit Caritasverband Köln e.V., Melanchthon-Akademie und Kölner Friedensforum, Bürgerzentrum Köln-Ehrenfeld, 19. Dezember 2023.
Ende Dezember in Köln: Der Anlass für die Veranstaltung war alles andere als besinnlich: Rotem Levin und Osama Illiwat von der israelisch-palästinensischen Friedensorganisation »Combatants for Peace« (auf Deutsch: Kämpfer*innen für den Frieden“) hätten bereits zwei Wochen zuvor ihre Vortragsreise durch Deutschland beenden sollen, doch die Ereignisse des 7. Oktober 2023 bewegten die beiden Aktivisten dazu, ihren Aufenthalt zu verlängern und ihre Botschaft weiter zu verbreiten. „Wir machen weiter. Nicht, um die Menschen zu überzeugen, sich auf die palästinensische oder die israelische Seite zu stellen – sondern um sie zu überzeugen, sich auf die Seite der Menschlichkeit zu stellen“, so Osama Illiwat.
Moderiert wurde das Gespräch von Christoph Bongard, Leiter für Kommunikation & Politik des forumZFD. Vom Publikum erwarteten sie nur eins, erklärte Osama Illiwat: „Bitte hören Sie zu, auch wenn Sie anderer Meinung sind; es ist meine Geschichte, wie ich sie erlebt habe.“ Rotem Levin knüpfte an: Dem Gegenüber zuzuhören sei wichtig, denn nur auf der eigenen Seite zu beharren, wäre einseitig. Auf ihrer Vortragsreise teilen sie ihre persönlichen Geschichten mit dem Publikum, berichten vom nicht enden wollenden Kreislauf der Gewalt in Nahost und davon, was ihnen in diesen schweren Zeiten Hoffnung macht und Kraft gibt.
Hoffnung – auf diesen Begriff kam Illiwat bei der Veranstaltung in Köln gleich zu Beginn zu sprechen. „Dass sich so viele Personen für unsere Geschichte interessieren, macht mir Hoffnung. Dieses Mitgefühl gibt mir Kraft.“ Neben Verzweiflung und Trauer sehe er bei sich und vielen Betroffenen auch ein Gemeinschaftsgefühl, nicht als Deutsche, Israelis oder Palästinenser*innen, sondern als Menschen.
Dem vermeintlichen Feind begegnen
Hass und falsche Feindbilder würden ein solches Miteinander erschweren, davon ist Illiwat überzeugt. Das kann auch Rotem Levin bestätigen. Für den Israeli war Osama Illiwat, der heute sein Freund ist, lange nur ein Palästinenser, mit dem er nichts gemein habe. Wie auch? Schließlich waren die einzigen Palästinenser*innen, die der studierte Arzt und Aktivist kannte, die Putzkräfte, die sein Haus reinigten, und die Mechaniker, die das Auto seines Vaters reparierten. Die Geschichten, die er hörte, und das Bild, dass die Medien zeichneten, sorgten für ein einseitiges, eingeschränktes Weltbild, erzählte Levin. „Mir wurde jahrelang beigebracht, wie gefährlich diese Palästinenser*innen seien.“ Mit 17 Jahren hatte er ein Konzentrationslager besucht. Danach habe für ihn festgestanden, dass er sich und sein Land verteidigen müsse.
Er war überzeugt: „Wenn ich nicht kämpfe, werden die Palästinenser*innen uns das Gleiche antun wie die Deutschen.“ Zu dieser Zeit waren die Soldat*innen der israelischen Armee seine Held*innen und sein Eintritt ins Militär erschien ihm alternativlos.
Doch in der Zeit beim Militär geriet er allmählich ins Zweifeln. Besonders eine Situation habe ihn nachdenklich gemacht, berichtete Levin. Bei einem Einsatz erhielt er den Befehl, Tränengas gegen Zivilist*innen einsetzen. „Mein kurzes Zögern reichte aus, um die Ansage zu erhalten: ‚Du bist ein Soldat, du tust, was man dir sagt!‘ Das hat mich aufgewühlt. Ich habe gedacht: Das kann einfach nicht richtig sein.“
Die Erfahrungen, die Levin als Soldat machte, veränderten ihn. Der Aktivist beschrieb die Antriebslosigkeit, die er in der Zeit nach seinem Militärdienst verspürte. Während seines Studiums begann er, sich mit der Geschichte des Nahostkonflikts und der kollektiven Traumata der Israelis zu beschäftigen. Auf eben diesem Weg kam der damalige Student bei einem Seminar in Deutschland vor elf Jahren mit Palästinenser*innen ins Gespräch. „Zum ersten Mal habe ich diese ‚Terrorist*innen‘ getroffen.“ Die »Nakba«, Checkpoints und Flüchtlingslager seien Begriffe, mit denen er bis dahin nicht viel habe anfangen können. Begriffe, die einen Perspektivwechsel bei ihm ausgelöst hätten. Levin sah es nun als seine Aufgabe, sich weiterzubilden. Immer häufiger kam er ins Gespräch mit Palästinenser*innen und Historiker*innen und widmete seine Aufmerksamkeit ganz dem Nahostkonflikt. Schnell stieß er auf Gegenwind: Über die Nakba dürfe in Israel nicht gesprochen werden, bekam er zu hören. „Es gibt Gesetze, die es Lehrkräften verbieten, über die Nakba zu unterrichten.“ Verärgert über die fehlende Anerkennung für die palästinensische Perspektive versuchte Levin, seine Landsleute auf das Thema aufmerksam zu machen. „Das ist der erste Schritt zur Aussöhnung.“ Als Reaktion folgte oft Ablehnung und Unverständnis. „Ich habe kaum Menschen gefunden, die mich in meinem Bestreben unterstützt haben. Diese Menschen habe ich erst bei den Combatants for Peace getroffen.“
Angst wird zu Hass
Osama Illiwat ist einer von ihnen. Er ist Vorstandsmitglied der Combatants for Peace und Gründer der Organisation »Visit Palestine«. „Ich nehme mir jetzt das Wort, weil sonst nur die Israelis das Recht dazu haben“, begann er seine Erzählung in Köln und brachte damit viele der Zuhörenden zum Lachen. Seinen Humor hat der aus Jericho im Westjordanland stammende Aktivist nie verloren. Weitaus bitterer als die Pointe seines Witzes sei jedoch die ernste Geschichte und Lebensrealität vieler Palästinenser*innen, so Illiwat. Als Jugendlicher habe er deshalb Wut gegen den vermeintlichen Feind verspürt. Sein Zorn sei nicht ideologisch geprägt gewesen, sondern vielmehr eine Reaktion auf die Lebensumstände: „Ich habe nicht gegen Menschen jüdischen Glaubens oder Israel gekämpft, sondern gegen die Soldaten, die meine Familie angriffen.“
Bereits als Kind erlebte er Einschüchterungen und Gewalt. „Jeden Tag standen Soldat*innen vor unserer Tür. Wir hatten Angst vor ihnen.“ Der Palästinenser erzählte von Erfahrungen, die ihn geprägt haben: zum Beispiel als Tränengas in seine Schule geworfen wurde oder als Soldat*innen seinen Vater schlugen. „Ich widersetzte mich diesen Soldaten, die meine Lehrer, meinen Vater und mich kontrollierten. Meine Angst wurde zu Hass.“
Durch zivilen Ungehorsam, wie das Besprühen von Wänden oder das Hissen der palästinensischen Flagge, versuchte er sich ein wenig Freiheit zu erkämpfen. Als er die erste Flagge im Wind wehen sah, die er provisorisch mit seiner Schwester bemalt hatte, war er stolz. Das erste Mal empfand er ein Gemeinschaftsgefühl. Doch nur wenige Tage später standen 20 israelische Soldat*innen vor seinem Haus und verhafteten den noch minderjährigen Osama Illiwat – denn die palästinensische Flagge galt zu dieser Zeit noch als gesetzeswidriges Symbol und das öffentliche Hissen stand unter Strafe. Es folgte ein Urteil ohne Anklage, die sogenannte »Verwaltungsgefangenschaft«. Das Resultat: Er musste drei Jahre in ein israelisches Gefängnis. „Als ich aus dem Gefängnis kam, war mein erster Gedanke: Jetzt kämpfe ich erst recht!“ Illiwat nahm daraufhin eine Anstellung bei der palästinensischen Polizei im Westjordanland an. Deren Arbeit empfand er aber eher als Legitimation der Besatzung durch Israel, nicht als Schutz der palästinensischen Bevölkerung.
Versöhnung geht nur durch Begegnung
Während seines Studiums wurde Illiwat 2010 in Bethlehem auf ein Treffen von Friedensaktivist*innen aufmerksam gemacht. Als er dort auf jüdische Menschen traf, war er geschockt. „Ich dachte: ‚Sie haben ihren eigenen Premierminister umgebracht, weil er ein Friedensabkommen aushandelte, wieso sollten sie sich auf einmal für Frieden interessieren?“ Doch er irrte sich. Er lernte Menschen jüdischen Glaubens kennen, die heute seine Freunde sind. Menschen, die ihn inspirierten. Darunter war ein Pilot, der sich weigerte, Häuser in Gaza zu bombardieren. Dieser half Illiwat dabei, sein erstes Visum zu bekommen, sodass er ein ehemaliges KZ besuchen konnte. Der Palästinenser erkannte, dass sein Feindbild nicht das Judentum war, sondern etwas anderes: „Unser Gegner ist das System. Es möchte, dass wir gegeneinander kämpfen, um die Besatzung fortzusetzen. Wenn wir das System aufbrechen, können wir uns versöhnen, und wenn wir uns versöhnen, können wir Freunde werden.“ Illiwat sieht den Prozess der Versöhnung aber auch als persönliche Herausforderung. Damit ein friedliches Zusammenleben möglich werden könne, müsse man sich in sein Gegenüber hineinversetzen und den Schmerz und die Traumata der anderen Seite verstehen.
Selbst nach zwei Stunden detaillierter und emotionaler Erzählungen der Aktivisten war das Interesse des Publikums im ganzen Saal noch zu spüren. In der abschließenden Fragerunde erkundigte sich ein Zuschauer, ob die Aktivisten auch auf Kritik stoßen würden. Levin antwortete darauf: „Bei öffentlichen Auftritten in Israel begegnen wir immer wieder Rechtsradikalen, die uns bedrohen oder anspucken.“ Das war einer der vielen Momente, in denen die Stille im Saal die Betroffenheit des Publikums lauter zum Ausdruck brachte als alle Worte. Illiwat beendete die Veranstaltung mit einem Gedicht des palästinensischen Poeten Mahmoud Darwish:
„Sie fragt: ‚Wann werden wir uns treffen?‘
Ich antworte: ‚Ein Jahr nachdem der Krieg zuende ist.‘
Sie fragt: ‚Wann ist der Krieg zu Ende?‘
Ich antworte: ‚Wenn wir uns treffen.‘“
Gabriel Risse