W&F 2007/4

Eine britische Sicht

Die Europäische Verfassung – der so genannte »Reformvertrag«

von Rae Street

Im Oktober 2007 haben sich die Staats- und Regierungschefs der EU beim Gipfel in Lissabon auf den endgültigen Vertragstext des EU-Reformvertrages verständigt. In der Substanz ist dieser gegenüber dem EU-Verfassungsvertrag nahezu unverändert.

Die Bestimmungen der Verfassung bezüglich der Implementierung einer »gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik« sind nun in den »Reformvertrag« aufgenommen worden und es scheint kein Zweifel am Willen zu bestehen, die EU als Militärmacht zu stärken. Die EU-Politik wird mit der NATO kompatibel sein, die sich noch immer zu strategischen Ansätzen wie »nukleare Mindestabschreckung« und »Ersteinsatz von Atomwaffen« bekennt. Militarismus kommt auch bereits in der 2004 gegründeten Europäischen Verteidigungsagentur zum Ausdruck: immer mehr Geld für Rüstung und die Erforschung von High-Tech-Waffen, ganz zu schweigen von der Förderung der Rüstungsverkäufe.

Viele von uns, die sich darum sorgen, mehr Frieden und Stabilität in die Welt zu bringen, suchen nach Wegen, um ein ent-militarisiertes Europa zu erreichen; ein atomwaffenfreies Europa, ein Europa ohne fremdes Militär und ohne so genannte »Raketenabwehr-Basen« und Nuklearwaffenstützpunkte und eine Reduzierung der Aufwendungen für Rüstung. Bedauerlicherweise ist nicht zu erkennen, dass der Reformvertrag in diesem Sinne Ergebnisse verspricht.

Während der letzten Jahrzehnte haben wir beobachten können, wie die EU zu einer eigenständigen Militärmacht gemacht wurde. Für viele derjenigen, die für Frieden und soziale Gerechtigkeit eintreten, war dies eine Zeit voller Schwierigkeiten und Enttäuschungen. Schließlich gab es nach dem Zweiten Weltkrieg einmal einen großen Traum, als die ursprünglichen Gründer der EU und die durch den Krieg erschütterten Menschen Europas die Schaffung von Institutionen erhofften, durch die die Kriegsursachen beseitigt würden. Es stimmt, dass wir durch das starke Bekenntnis des Europarates zu den Menschenrechten ermutigt wurden und dass heute beispielsweise die Todesstrafe überall in seinen Mitgliedsstaaten abgeschafft ist. Gegenwärtig führt der Europarat entsprechende Kampagnen in Japan und den USA durch, in den einzigen Staaten mit Beobachterstatus beim Europarat, in denen die Todesstrafe noch in Kraft ist. Dies ist ein gutes Beispiel für eine europäische Kooperation gegen eine barbarische Form der Bestrafung.

Allerdings verhält sich die Sache hinsichtlich der EU selbst anders. Ich bin seit dreißig Jahren in der englischen Kampagne für nukleare Abrüstung (CND) aktiv, die international für ihr Friedenssymbol bekannt ist. In den letzten Jahren ist die Opposition der CND und anderer Gruppen für Frieden und soziale Gerechtigkeit, von Gewerkschaftsgruppen und vielen politischen Initiativen – die Opposition der extremen Rechten in Großbritannien lasse ich hier außen vor, da sie ganz anderen Motiven entspringt – gegen die Außen- und Verteidigungspolitik der EU gewachsen.

Die Verträge von Maastricht und Amsterdam führten zur Herausbildung eines europäischen Superstaates mit einer gemeinsamen Verteidigungspolitik und Armee. Es sei daran erinnert, dass im Maastricht-Vertrag von 1992 eine »gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik« vereinbart wurde, die – so hieß es unter Titel V – „sämtliche Fragen [umfasst], welche die Sicherheit der Europäischen Union betreffen, wozu auf längere Sicht auch die Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik gehört, die zu gegebener Zeit zu einer gemeinsamen Verteidigung führen könnte.“ Anlässlich des Gipfeltreffens in Amsterdam im Juli 1997 hatten die Außenminister der EU bereits detaillierter ausgearbeitet, wie die EU in Verbindung mit der WEU (Westeuropäische Union) bei der Entwicklung der gemeinsamen Verteidigung kooperieren könnte. Außerdem, und dies war besonders betrüblich für die CND, wurde die WEU mit ihren Atomwaffen zu einem „integralen Teil der Entwicklung der EU“ erklärt. Zugleich wurde von Seiten der Minister erklärt, dass die WEU einen aktiven Beitrag im Rahmen der Verteidigungsplanung der EU spielen solle. Zwar hat die WEU inzwischen als eigenständige Organisation aufgehört zu existieren, aber eine eindeutige Politik bezüglich der Nuklearwaffen gibt es bisher nicht.

Mit dem Vertrag von Amsterdam 1999 wurde vereinbart, dass die EU auf der Grundlage von Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat eine eigenständige Außenpolitik verfolgt. Beim Gipfel in Köln (2000) erklärte der Europäische Rat, dass die „EU eine umfassende Rolle auf der internationalen Bühne spielen wird. Zu diesem Zweck beabsichtigen wir, der Europäischen Union die notwendigen Mittel und Fähigkeiten zu geben, um den Verantwortlichkeiten für eine gemeinsame Europäische Politik der Verteidigung und Sicherheit entsprechen zu können… Wir sind überzeugt, dass der Rat die Möglichkeit haben sollte, entsprechend der ganzen Bandbreite von Aufgaben der Konfliktprävention und des Konfliktmanagements… den »Petersberg-Aufgaben« zu entscheiden“. Die »Petersberg-Aufgaben« waren ursprünglich als humanitäre und Notfall-Aufgaben, Friedenserhaltung und als Aufgaben für Kampfeinheiten für das Krisenmanagement, einschließlich Friedenserzwingung, definiert worden. Dies kann erstrebenswert sein, es war jedoch immer und wird auch in Zukunft insofern gefährlich bleiben als die Frage auftaucht, wer darüber entscheidet, was als »humanitär« gilt und wo eine Intervention stattfinden soll.

Dies galt beispielsweise für den Beginn der Aufstellung einer Europäischen Armee, besser bekannt als »Schnelle Eingreiftruppe« (European Rapid Reaction, ERR). Die ERR und die »Europäischen Kampfgruppen« wurden beim europäischen Ministertreffen in Helsinki 1999 ins Leben gerufen. Obwohl sie zahlenmäßig klein sind, ihr Auftrag begrenzt sein wird und sie von UN Generalsekretär Kofi Annan positiv bewertet wurden, so legen sie doch die Grundlage für eine stärkere Militärmacht; zudem gibt es keine demokratische Kontrolle über ihre Entsendung.

Zeitgleich hat der Europäische Rat auch deutlich gemacht, dass er „entschlossen ist, die Restrukturierung der Europäischen Verteidigungsindustrien der beteiligten Staaten zu pflegen“ und dass „er sich um weiteren Fortschritt in der Abstimmung der militärischen Bedarfe und der Planung und Beschaffung von Waffen bemühen wird“. Kann eine solche »Pflege« als Hilfe für das Wachstum der europäischen Rüstungsindustrien verstanden werden? Kann die Lobbytätigkeit dieser Industrie gegenüber der EU als ein treibender Faktor für eine europäische Militärmacht angesehen werden? Es hat immer Stimmen gegeben, die – insbesondere unter Verweis auf die Knappheit der Ressourcen – von der Notwendigkeit gesprochen haben, dass Europa für den Schutz seiner Interessen das Militär benötigt. Die Europäische Verteidigungsagentur wurde im Juli 2004 vom Ministerrat ins Leben gerufen – ohne Gedanken an ein demokratisches Mandat. Aber sie hat Eingang in die Verfassung gefunden. Ihre Aufgabe war die „Verbesserung der Verteidigungsmöglichkeiten“. Das mag sein; aber zugleich wurde ein Markt geschaffen mit einem Budget von Euro 30 Milliarden im Jahr. Es gibt eine Abteilung für Forschung und Technologie: im Ergebnis ein Paradies für die europäischen Waffenhersteller und -händler.

EU und NATO

Selbstverständlich gibt es auch zwischen den militärisch ausgerichteten Regierungen Spannungen, wenn es um die Gestaltung der EU-Militärpolitik geht. Die Regierung Großbritanniens mit ihrer engen Beziehung zur US-Administration würde gerne die NATO in den Vordergrund rücken; die französische Regierung möchte im allgemeinen eine europäische Verteidigung, die unabhängig von den USA ist. Dennoch hat die Regierung Großbritanniens nie jemals die Frage aufgeworfen, die »Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik« zu verlassen – wie es etwa Dänemark getan hat. Großbritannien mit seinen großen Rüstungsunternehmen wollte auf jeden Fall wie jeder andere Staat auch an diesem »Markt« teilhaben. Der Militärisch-Industrielle-Komplex mag der Gewinner sein, wer aber sind die Verlierer? Dies ist die Mehrheit der BürgerInnen Europas, besonders jedoch die Unterprivilegierten, die massive Kürzungen bei den Sozialleistungen hinnehmen mussten. Großbritannien, das Land mit dem größten Verteidigungs-(d.h. Militär)-Budget in Europa (gegenwärtig über $ 66 Milliarden) hat eine zunehmende Einkommenslücke zwischen den Reichen und den Armen, die größte seit den 1920er Jahren, wie einige schätzen.

Betrachten wir die Verfassung, wie sie dem Europäischen Rat 2003 vorgelegt wurde. Dort heißt es in Artikel 41 schwarz auf weiß, dass „die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik eine zunehmende Gestaltung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik der EU umfassen soll. Dies führt zu einer gemeinsamen Verteidigung, sofern der Europäische Rat dies übereinstimmend beschließt“. Dies wären jedoch keine echten demokratischen Entscheidungen. Die Entscheidungen würden vom Ministerrat getroffen, der einstimmig auf der Grundlage einer Entschließung der Außenminister der EU oder eines Mitgliedsstaates handeln würde. Die gewählten RepräsentantInnen, die Mitglieder des Europäischen Parlaments, wären an die Seitenlinie verbannt. Im Kern der EU besteht ein Defizit an Demokratie.

Dennoch sind es häufig die Überlegungen und Entschließungen des Parlaments sowie des Europarates, die KriegsgegnerInnen Anlass zur Hoffnung geben. Es ist beispielsweise das Europäische Parlament, das die Mitgliedsstaaten bereits dreimal zu einem Moratorium hinsichtlich des Einsatzes von Uranmunition aufgefordert hat – letztlich mit dem Ziel der Verbannung dieser Waffe. Da es jedoch über wenig realen Einfluss verfügt, wurde dieses Ansinnen von Großbritannien, das neben den USA das erste Land war, das diese Waffen im Kampf eingesetzt hat und auch noch im Golfkrieg 2003 verwendet hat, vollständig ignoriert. Punkt 8 des Artikels besagt: „Das Europäische Parlament soll regelmäßig über die wesentlichen Aspekte und grundlegenden Weichenstellungen der Gemeinsamen Sicherheits- und Außenpolitik konsultiert und über die Fortschritte informiert werden.“ Es hätte auch hinzugefügt werden können: „… aber weder der Ministerrat noch die Mitgliedsstaaten müssen den Resolutionen des Parlaments irgendeine Beachtung schenken“.

Die NATO musste Erwähnung finden und so hält die Verfassung fest, dass die »Verpflichtungen« gewisser Mitgliedsstaaten, die „ihre gemeinsame Verteidigung gemäß des Nordatlantikvertrages in der NATO realisiert sehen, mit der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik abgestimmt realisiert werden sollen.“ Das ist eine nichts sagende Formulierung. Es gibt keine Erwähnung der EU-Position zu Nuklearwaffen, während die NATO-Politik seit der »Strategic Review« von 1999 in der »nuklearen Mindestabschreckung« unverändert einen Grundbaustein „zur Sicherung des Friedens“ sieht. Großbritannien und Frankreich sind beides Atomwaffenstaaten. Und tatsächlich ist das große TRIDENT-Atomwaffen-U-Bootsystem, von dem Großbritannien über vier verfügt, in die NATO »integriert«. Diese hält an einer Politik des »Ersteinsatzes« von Atomwaffen fest. Jedes NATO-Mitglied ist zur Sicherstellung der »Interoperationalität« verpflichtet, so dass alle NATO-Mitgliedsstaaten de facto Nuklearwaffenstaaten sind. Die NATO verfügt über sechs nuklear bestückte Basen in Europa – von Lakenheath im Osten Englands bis hinunter nach Incirlik in der Türkei.

Dies ist der Grund, warum viele BeobachterInnen der Ansicht sind, die NATO verletze Geist und Buchstaben des Atomwaffensperrvertrages. Zudem hat die NATO niemals verlauten lassen, sie wolle mit der nuklearen Abrüstung fortfahren oder gar ihre Politik ändern. Sie fährt angesichts der Dominanz durch die USA mit einer Politik fort, die zum Faktor von Unruhe und Instabilität nicht nur in Europa, sondern in der gesamten Welt wird. Die NATO hat sich nun bis an die Grenze zu Russland ausgedehnt und bereits seit langem aufgegeben, nicht »out-of-area« zu intervenieren.

Diejenigen unter uns, die gegen die NATO und deren Nuklearpolitik sind, fragen sich, was diese Politik für die EU und deren Politik bedeutet. Warum findet all dies in der Verfassung keine Erwähnung? Meinen diejenigen, die das Papier verfasst haben, tatsächlich »Kompatibilität«?

Der Reformvertrag in Großbritannien

Nachdem die Verfassung sowohl in den Niederlanden als auch in Frankreich deutlich abgelehnt worden war, begannen die Minister der EU-Mitgliedsstaaten damit, die Verfassung doch noch durch die Hintertür zu verabschieden. Sie traten nun mit dem »Reformvertrag« auf. Das ist die Verfassung unter einem anderen Namen. Im Bereich der Außenpolitik gibt es tatsächlich wenig Änderungen, außer dass es nun einen Sprecher für die Außenpolitik geben soll: den »Hohen Vertreter für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik«.

Wie wurde dies in Großbritannien aufgenommen? Die Labour-Partei hat in ihrem letzten Programm versprochen, dass es ein Referendum über die Europäische Verfassung geben werde. Nun weist der neue Premierminister Gordon Brown dies zurück. Beständig hat er diese Idee in Radio- und Fernsehinterviews zurückgewiesen. Er und seine Regierung seien, so sagt er, damit zufrieden, dass es im »Reformvertrag« keine Einschränkung der Souveränität Großbritanniens gebe. Allerdings hat gerade dieses Thema im September große Medienbeachtung gefunden. Zu denjenigen, die sich überraschend für eine Volksabstimmung ausgesprochen haben, gehörte die deutschstämmige Labour-Abgeordnete Gisela Stuart, die in dem Steuerungskomitee mitwirkte, das den Verfassungsentwurf produziert hat. Sie wird damit zitiert, dass „der Premierminister gesagt hat, er möchte den Leuten zuhören und sie in die Entscheidungen einbeziehen. Er spricht von der »Erneuerung der Demokratie«… Er kann dies unter Beweis stellen, indem er der Bevölkerung im Rahmen eines Referendums das letzte Wort über den Vertrag gibt“. Auch Gewerkschaften, insbesondere die GMB (Gas Workers and General Union) und die Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes UNISON mit ihren 1,6 Millionen Mitgliedern fordern eine Abstimmung. Eine der besonders aktiven Gruppen, die zunehmend Gehör findet, ist die Organisation »Trade Unions Against the EU Constitution«. Weitere Gruppen sind enstanden, um eine Kampagne für ein Referendum zu beginnen, darunter die rechten Medien mit der Kampagne der Zeitung »Daily Telegraph«.

Andere Tageszeitungen, insbesondere der »Guardian« möchten eine Verabschiedung des Reformvertrages. Merkwürdigerweise enthielt die Argumentation des Chefkolumnisten des »Guardian« am 7. September einen Gedanken, der die Gegner des Vertrages alarmiert, weil er die Sicherheit nicht erhöht, sondern gefährdet. Ihm zufolge gehöre zu den gemeinsamen Anliegen der Europäer „der wieder auflebende russische Nationalismus, die Sicherheit der Energieversorgung, die Klimakrise, Immigration, die Bevölkerung mit Migrationshintergrund“. Dies wird von der gewerkschaftlichen Opposition und von vielen anderen SozialistInnen als ein direkter Aufruf zu einem »Euro-Militarismus« im Rahmen von Ressourcen-Kriegen angesehen.

So ist es denn, dass wir im globalen Norden – wieder einmal – nicht ein Europa des Friedens und der sozialen Gerechtigkeit schaffen, worin die Hoffnung so vieler der Nachkriegsgeneration bestand, sondern ein Europa, das seine Stellung als reiche Region der Welt festigen möchte. Dies erweckt den Anschein eines Europa, das sich nicht in erster Linie für Frieden und soziale Gerechtigkeit einsetzt, sondern eines, das sich darum bemüht, die Kontrolle der Energieversorgung zu sichern, eine bedrohliche Militärmacht mit fortgeschrittener Waffentechnologie zu schaffen und dabei die Notwendigkeit der nuklearen Abrüstung zu missachten sowie die Waffenindustrie zu fördern.

Es wird interessant sein zu sehen, wohin das alles führt. Gewiss, was auch immer passieren wird, wir von den Bewegungen für Frieden und soziale Gerechtigkeit werden unsere Kampagnen für ein weniger militarisiertes und nuklear-freies Europa fortsetzen.

Rae Street ist Vizepräsidentin und Sprecherin der Campaign for Nuclear Disarmament (CND) in Großbritannien

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2007/4 Europäische Sicherheitspolitik, Seite