Eine Demokratie braucht Menschenrechte
von Harald Gesterkamp
Die Türkei, strategisch bedeutendes Bindeglied zwischen Europa und dem Nahen Osten, ist für schwere Menschenrechtsverletzungen bekannt – obwohl das Land über alle Institutionen eines demokratischen Rechtsstaates verfügt. Den Versprechen jeder neu gewählten Regierung, die Situation zu verbessern, folgen jedoch seit Jahren keine Taten.
Wie viele andere Menschen hatte sich auch der Fotograf Metin Göktepe am 8. Januar 1996 auf dem Friedhof eingefunden, um über die Beisetzung von Gefangenen zu berichten, die vier Tage zuvor in der Haftanstalt Ümraniye in Istanbul zu Tode geprügelt worden waren. Doch die Menschen wurden von der Polizei daran gehindert, an der Beerdigung teilzunehmen. Außer dem für die Tageszeitung »Evrensel« tätigen Göktepe wurden noch mehrere hundert Trauergäste festgenommen.
Die Polizei brachte die Festgenommenen zur Sportanlage von Eyüp. Dort wurde Göktepe noch am selben Abend gegen 20.30 Uhr tot aufgefunden. Über die Vorgänge in dem Sportzentrum existiert ein heimlich aufgenommenes Videoband, auf dem zu sehen ist, wie Häftlinge mißhandelt werden. Göktepes Tod, so der Autopsiebericht der Istanbuler Universität, ist durch Schläge herbeigeführt worden.
Die türkischen Behörden versuchten die wahre Todesursache tagelang zu vertuschen. Der Polizeipräsident von Istanbul erklärte, der Journalist sei bei einem Fluchtversuch gestürzt und gestorben. Letztlich aber konnte sich das Innenministerium dem Druck der Öffentlichkeit nicht widersetzen und ordnete eine Untersuchung an. Im Februar 1996 wurde ein Gerichtsverfahrens gegen elf Polizisten wegen Mordes eingeleitet. Drei Jahre später wurden fünf Beamte wegen „unbeabsichtigter Tötung“ zu siebeneinhalb Jahren Haft verurteilt. Trotz des vergleichsweise milden Urteils – eine vorzeitige Haftentlassung nach drei Jahren ist wahrscheinlich – ist es einer der wenigen Fälle, in denen Verantwortliche für Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft gezogen wurden.
Nicht nur bei Metin Göktepe, auch gegenüber anderen einheimischen Journalisten greifen die türkischen Behörden mitunter zu illegalen Methoden, um sie mundtot zu machen. Anfang der 80er Jahre wurden regierungskritische Journalisten zumeist dadurch zum Schweigen gebracht, daß man sie zu langen Haftstrafen verurteilte. Heute müssen sie eher befürchten, getötet zu werden. Für Journalisten ist die Türkei inzwischen zu einem gefährlichen Land geworden. Seit 1992 sind 14 Journalisten, die über die Menschenrechtssituation in den kurdischen Gebieten berichtet hatten, getötet worden, im Gewahrsam der Sicherheitskräfte »verschwunden« oder in der Haft ums Leben gekommen. Bei den Getöteten handelte es sich mehrheitlich um Mitarbeiter der in kurdischem Besitz befindlichen Tageszeitungen »Yeni Ülke«, »Özgür Gündem«, »Özgür Ülke« und »Yeni Politika«, die inzwischen sämtlich ihr Erscheinen einstellen mußten. Alle vier Zeitungen galten bei den Sicherheitskräften als „legale Organe der PKK“. Acht Korrespondenten und weitere elf Personen, die die genannten Zeitungen lediglich ausgetragen oder verkauft hatten, wurden unter Umständen ermordet, die eine Täterschaft des Staates nahelegen. Zwei Redakteure »verschwanden«, zahlreiche andere Mitarbeiter wurden festgenommen und gefoltert. Einige befinden sich bis heute im Gefängnis.
Als 1992 nahezu jeden Monat ein türkischer Journalist ermordet wurde, reagierte die Regierung darauf mit ungetrübter Selbstgerechtigkeit. So erklärte der damalige Ministerpräsident und heutige Staatschef Süleyman Demirel am 11. August: „Bei denjenigen, die getötet wurden, handelte es sich nicht wirklich um Journalisten. Es waren Militante, die sich als Journalisten getarnt haben. Sie bringen sich gegenseitig um.“ Bei amnesty international ist nicht bekannt, daß offizielle Stellen in der Türkei die Morde an Journalisten jemals verurteilt hätten. Statt dessen hieß es in einem vertraulichen Rundschreiben der damaligen Ministerpräsidentin Tansu Çiller vom 30. November 1994 an ihre Kabinettskollegen: „Die Aktivitäten bestimmter Publikationsorgane, insbesondere die von Özgür Ülke bedeuten einen eindeutigen Angriff auf die bleibenden und geistigen Werte des Staates. Um eine solch massive Bedrohung der unteilbaren Einheit des Vaterlandes abzuwenden, ersuche ich das Justizministerium, die entsprechenden Publikationsorgane zu ermitteln und gegen sie vorzugehen.“ Vier Tage später explodierten in den Redaktionsräumen von Özgür Ülke in Istanbul und Ankara Sprengsätze, die beide Büros weitgehend zerstörten. Ein Mitarbeiter von Özgür Ülke wurde getötet und 19 verletzt. Die Regierung reagierte auf den Vorfall mit einer Erklärung, in der sie jeglichen Zusammenhang zwischen dem Rundschreiben von Ministerpräsidentin Çiller und den Sprengstoffanschlägen bestritt und Özgür Ülke erneut des „Separatismus“ bezichtigte.
Paradoxe Entwicklung zur Meinungsfreiheit
An der Frage der freien Meinungsäußerung wird ersichtlich, wie paradox die Entwicklungen in der Türkei verlaufen. Denn es gibt auch positive Tendenzen: So lag die Zahl der amnesty international namentlich bekannten gewaltlosen politischen Gefangenen Ende der 80er Jahre noch bei mehreren hundert, Mitte der 90er Jahre nur noch bei knapp über zehn. In den vergangenen Monaten hat die Zahl derjenigen, die ausschließlich wegen der Äußerung ihrer Meinung inhaftiert wurden, jedoch wieder zugenommen.
Es ist das Verdienst der türkischen Zivilgesellschaft, daß sich nach dem Ende der Militärherrschaft 1984 die Meinungsfreiheit wieder durchgesetzt hat. Unter den Generälen waren alle politischen Parteien wie auch die meisten Gewerkschaften verboten. Hunderte wurden inhaftiert und gefoltert, nur weil sie ihre Überzeugungen gewaltfrei geäußert hatten. Die Propagierung des Kommunismus, des kurdischen »Separatismus« oder einer auf religiösen Prinzipien basierenden Regierungsform wurde mit langjährigen Freiheitsstrafen bedroht.
Proteste von politischen Parteien, Gewerkschaftsverbänden und anderen Organisationen verhallten nicht ungehört: Im April 1991 wurden mehrere politische Paragraphen des Strafgesetzbuches abgeschafft und 29.000 Inhaftierte freigelassen, darunter alle amnesty bekannten gewaltlosen politischen Gefangenen. Die Mutterlandspartei (ANAP) hob Anfang der 90er Jahre das staatliche Rundfunkmonopol auf. Inzwischen existieren in der Türkei Hunderte von unabhängigen Radiostationen und unzählige örtliche oder per Satellit zu empfangende Fernsehsender. In Zeitungen und im Rundfunk werden politische Fragen in einer Offenheit diskutiert, die vor einem Jahrzehnt noch undenkbar gewesen wäre. Die türkischen Medien legen keine Zurückhaltung an den Tag, öffentliche Skandale aufzudecken. Sie nutzen ihre neu gewonnene Freiheit mit scharfzüngiger Kritik an der Politik der türkischen Machthaber.
Bei diesem Bild einer Gesellschaft, in der lebhaft und offen diskutiert wird, mutet es absurd an, daß nach wie vor Menschen rigidesten Beschränkungen in ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung unterworfen werden, wenn der Staat sich in seiner Integrität gefährdet fühlt. Sobald Ehre und Würde der Sicherheitskräfte bedroht erscheinen oder der Kampf gegen den kurdischen »Separatismus« in Frage gestellt wird, nimmt der Staat für sich das Recht in Anspruch, einzuschreiten. Dabei ist die Türkei bereits 1954 der Europäischen Menschenrechtskonvention beigetreten, in dem in Artikel 10 das Recht auf freie Meinungsäußerung garantiert wird. Doch das Land wird bis heute seinen Verpflichtungen aus der Konvention nicht gerecht.
Ein wichtiges Mittel, um Meinungsfreiheit zu unterdrücken, ist der Artikel 8 des Anti-Terror-Gesetzes. Der Paragraph stellt „separatistische“ Äußerungen unter Strafe. Seitdem im Juli 1993 die türkische Ministerpräsidentin und der Generalstabschef der Streitkräfte angesichts der Zuspitzung des Konflikts im Südosten der Türkei die Medien zur Unterstützung in einem „totalen Krieg“ gegen den „Separatismus“ aufriefen, hat Artikel 8 Hochkonjunktur. Artikel 28 der Verfassung, in dem es heißt: „Die Presse ist frei und unterliegt keiner Zensur“, hat seitdem faktisch keine Gültigkeit mehr. Wer gegen das Vorgehen der Regierung im Südosten der Türkei protestiert, riskiert Verfolgung und Inhaftierung.
Zu den nach Artikel 8 oder ähnlich lautenden Artikeln des Türkischen Strafgesetzbuches Inhaftierten zählen Rechtsanwälte und Gewerkschafter, Akademiker und Schriftsteller, Verleger und Journalisten. Die zunehmende Verfolgung hat nicht nur die türkischen Medien in Unruhe versetzt, sondern auch bei führenden Politikern und selbst Regierungsmitgliedern Besorgnis ausgelöst. Der ehemalige Kulturminister Fikri Saglar ging sogar so weit, den inhaftierten Haluk Gerger – ehemals Generalsekretär der Türkischen Gesellschaft für die Vereinten Nationen – und den Hochschuldozenten Fikret Baskaya im September 1994 im Gefängnis zu besuchen: „Mir ist bewußt, wie entwürdigend und beschämend die Situation für Sie sein muß. Ich bitte Sie um Verzeihung„.
Weiterhin systematische Folter
Ende Oktober 1995 wurde – im Vorfeld der Diskussion, ob die Türkei in die Zollunion der Europäischen Union aufgenommen wird – Artikel 8 etwas abgeschwächt. Doch auch in seiner neuen Fassung definiert er „separatistische Propaganda“ als Straftatbestand, selbst wenn der Angeklagte zu keinem Zeitpunkt Gewalt befürwortet hat. Lediglich der Passus „ungeachtet der Mittel, Absichten und Ideen“ wurde gestrichen. Außerdem wurde die Höchststrafe von fünf auf drei Jahre Freiheitsentzug herabgesetzt und den Gerichten ein Ermessensspielraum eingeräumt, gegen erstmals Verurteilte Geldstrafen oder zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafen zu verhängen. Die Mehrzahl der nach Artikel 8 inhaftierten Personen kam mit Inkrafttreten der Gesetzesänderungen vorläufig frei. Doch die meisten der Urteile wurden inzwischen bestätigt. In der Regel wurden bei den Wiederaufnahmeverfahren die Strafen um die Hälfte reduziert oder zur Bewährung ausgesetzt. Die betreffenden Personen bleiben bis zum Abschluß der Berufung in Freiheit.
Auch Yasar Kemal, der bekannteste lebende Schriftsteller der Türkei, mußte sich 1995 unter der Anklage des Verstoßes gegen Artikel 8 vor dem Staatssicherheitsgericht in Istanbul verantworten, weil er für das Nachrichtenmagazin »Der Spiegel« einen Artikel verfaßt hatte. Der Prozeß endete mit einem Freispruch. Aus Protest gegen die strafrechtliche Verfolgung des prominenten Autors trugen 1.080 Intellektuelle, Schriftsteller, Verleger und Künstler ihren Namen in ein Buch »Gedankenfreiheit in der Türkei« ein, ein Band mit Beiträgen von Personen, die wegen ihrer Schriften inhaftiert oder angeklagt sind. Die türkischen Behörden klagten 185 der Unterzeichner nach Artikel 8 an. Ihre Verfahren ruhen zur Zeit für drei Jahre. Danach werden die Akten geschlossen, wenn es keine neuen Vorwürfe gibt. Yasar Kemal jedoch wurde am 7. März 1996 zu einer Bewährungsstrafe von 20 Monaten Haft verurteilt, weil er unter dem Titel »Dunkle Wolken über der Türkei« einen Beitrag für den Sammelband verfaßt hatte. Damit habe er sich gemäß Paragraph 312 des Strafgesetzbuches der „Aufwiegelung zum Haß“ schuldig gemacht, urteilte das Gericht.
Menschenrechtler im Fadenkreuz
Zielscheibe sind auch die Menschenrechtler. Der Türkische Menschenrechtsverein IHD mit inzwischen knapp 16.000 Mitgliedern hat seit seiner Gründung 1986 Menschenrechtsverletzungen konsequent und öffentlich angeprangert. Er hat sich damit in den Reihen von Regierung und Sicherheitskräften erbitterte Feinde gemacht. Zahlreiche Mitglieder sind wegen ihres couragierten Eintretens inhaftiert und gefoltert worden. Zehn IHD-Menschenrechtler sind in den vergangenen sieben Jahren ermordet worden. Auf den IHD-Vorsitzenden Akin Birdal wurde im Mai dieses Jahres ein Attentat verübt. Birdal wurde von sechs Kugeln getroffen, als unbekannte Männer sein Büro in Ankara stürmten und ohne Vorwarnung schossen. Er überlebte schwerverletzt. Wenige Monate später bestätigte ein Berufungsgericht eine über einjährige Haftstrafe gegen den 50jährigen. Birdal ist gerade dabei, bei der medizinischen Rehabilitation Fortschritte zu machen. Sollte er ins Gefängnis müssen, könnte seine medizinische Behandlung nicht fortgesetzt werden. Nach dem jüngsten Urteil darf er bis ans Lebensende keine Funktion mehr in irgendeinem Verein ausüben. Birdal hatte mehrfach die Kurdenpolitik und die schweren Menschenrechtsverletzungen der türkischen Behörden öffentlich kritisiert.
Damit in der Türkei begangene Menschenrechtsverletzungen nicht nach außen dringen, verweigern die türkischen Behörden manchen Kritikern aus dem Ausland die Einreise. Ausländische Journalisten und Mitglieder von Untersuchungsdelegationen wurden gezwungen, die Türkei zu verlassen. Auch Mitarbeiter von amnesty international, die Menschenrechtsverletzungen recherchieren wollten, erhielten ein Einreiseverbot. Ein Vertreter der Organisation wurde in der Türkei einmal sogar festgenommen, 48 Stunden lang in Gewahrsam gehalten und anschließend des Landes verwiesen.
Daß amnesty international in der Türkei nicht gern gesehen ist, überrascht nicht: Seit mehr als zwei Jahrzehnten kritisiert die Organisation die Folter. Weder innerstaatliche noch internationale Rechtsvorschriften haben verhindern können, daß Folter auf türkischen Polizeistationen weiterhin systematisch angewendet wird. Nicht nur amnesty international, auch andere Organisationen sind zu diesem Ergebnis gekommen.
Mitglieder des Europäischen Ausschusses gegen Folter inspizierten im Dezember 1992 unangekündigt das Polizeipräsidium von Ankara und fanden Gegenstände, die eindeutig Folterzwecken dienen. Sie stießen unter anderem auf „ein Bett, ähnlich einer Bahre, an dem acht Gurte befestigt waren. Es entsprach exakt der Beschreibung, die Personen von einem Möbelstück gegeben hatten, an das sie angeschnallt gewesen waren, während man ihnen Stromstöße versetzte. Uns konnte keine plausible Erklärung für das Vorhandensein dieses Bettes in einem Raum, der ersichtlich als »Verhörraum« diente, geliefert werden.“ Auch im Polizeipräsidium von Diyarbakir sahen Ausschuß-Mitglieder Folterwerkzeuge. In Istanbul wurden sie 1996 ebenfalls fündig.
Jeder, der in der Türkei in Polizeihaft genommen wird, ist von Folter bedroht. Eine Vielzahl der amnesty international zur Kenntnis gelangten und glaubwürdig belegten Vorwürfe über Folterungen und Mißhandlungen stammen von Menschen jeden Alters und Geschlechts, von Angehörigen gesellschaftlicher Randgruppen – etwa Transvestiten oder Behinderte –, von religiösen Minderheiten wie den Alewiten, von Rechtsanwälten, Ärzten, Oppositionellen, Flüchtlingen oder auch von Parlamentariern. In der Türkei sind auch Menschen gefoltert worden, deren Verhaftung mit rein kriminellen Delikten in Zusammenhang stand, die lediglich ihren Ausweis nicht vorweisen konnten oder die sich geringfügiger Verkehrsdelikte schuldig gemacht hatten.
Der für das türkische Innenministerium tätige Haldun Hasmet Aysan, der 1992 in Ankara wegen Übertretung der Straßenverkehrsvorschriften festgenommen und im Gewahrsam der Polizei geschlagen worden war, sagte der Tageszeitung »Hürriyet«: „Wenn so etwas schon Menschen wie mir passiert, wird mir angst und bange um den einfachen Bürger.“ Sadik Örsoglu, Mitglied der Mutterlandspartei von Ministerpräsident Mesut Yilmaz, suchte im Dezember 1995 die Polizeistation von Yedikule in Istanbul auf, um sich nach zwei seiner Familienangehörigen zu erkundigen, die unter dem Verdacht der Beteiligung an einer Straftat festgenommen worden waren. Kaum hatte er die Wache betreten, wurde Örsoglu verhört und dabei mit Fußtritten gegen die Genitalien so schwer mißhandelt, daß er anfing zu bluten. Man brachte ihn daraufhin in ein Krankenhaus, wo er operiert werden mußte. Als amnesty international im März 1996 ein Gespräch mit ihm führen konnte, mußte er noch immer einen Katheter tragen. Der betreffende Beamte ist inzwischen vom Dienst suspendiert worden.
Gefoltert wird vor allem, wenn sich die Häftlinge von der Außenwelt isoliert in Polizeigewahrsam befinden. Ziel der Folterungen ist es, Geständnisse zu erpressen oder die Opfer dazu zu zwingen, für die Polizei als Informanten tätig zu werden. Oftmals dienen Folterungen auch der willkürlichen Bestrafung von Kleinkriminellen oder vermeintlichen Anhängern verbotener Organisationen. Zu den häufigsten Foltermethoden zählen neben Schlägen und Tritten das Aufhängen an auf dem Rücken gefesselten oder an Stangen festgebundenen Armen, das Abspritzen mit eiskaltem Wasser aus Hochdruckstrahlern, sexuelle Übergriffe gegen Frauen und gegen Männer, Elektroschocks an Fingern, Zehen, im Mund- und Genitalbereich sowie Schläge auf die Fußsohlen.
Auch Kinder und Jugendliche werden von der Folter nicht verschont. In dem jüngsten ai-Bericht werden zahlreiche Beispiele geschildert, in denen Kinder von staatlichen Beamten mißhandelt wurden. Bei systematischer Folter darf es nicht überraschen, daß mancher Festgenommene zu Tode kommt: Seit 1990 dürften mehr als hundert Menschen an den Folgen der Folter gestorben sein.
Das Problem der Straflosigkeit
Die Folterer kommen fast immer ungeschoren davon. Das System der Straflosigkeit hat den Nährboden für immer neue Folterungen sowie für weitere Menschenrechtsverletzungen geschaffen: So ist in den vergangenen sieben Jahren die Zahl der »Verschwundenen« in der Türkei genauso sprunghaft gestiegen wie die Zahl derjenigen, die politischen Morden zum Opfer gefallen sind.
Seit 1991 haben die Sicherheitskräfte damit begonnen, einen regelrechten Krieg gegen vermeintliche Staatsfeinde zu führen. Im kurdischen Südosten setzte eine bislang nicht gekannte Welle politischer Morde ein, die schließlich auch Ankara und Istanbul erreichte. Viele der Morde im Südosten tragen die Handschrift von »Todesschwadronen«. Schon bald gab es Beweise dafür, daß Armeeangehörige in die Tötungen verwickelt waren. So konnten die Täter unbehelligt Kontrollposten des Militärs passieren und benutzen mitunter Militärfahrzeuge oder Hubschrauber.
Viele der bereits mehr als tausend Mordopfer in den kurdischen Gebieten galten bei den Sicherheitskräften als Staatsfeinde, viele waren Mitglieder der HADEP, einer legalen und im Parlament vertretenden pro-kurdischen Partei.
Die kurdischen Dorfbewohner geraten bei dem Konflikt zwischen die Fronten: „Wenn wir in unser Dorf zurückkehren, können wir wenigstens unser Vieh versorgen und nach unseren Familien schauen. Die Regierung erlaubt uns die Rückkehr, aber nur unter der Bedingung, daß wir als Dorfschützer für sie arbeiten. Lassen wir uns darauf ein, so werden wir von den PKK-Terroristen angegriffen. Lehnen wir es ab, so greifen uns die Sicherheitskräfte an,“ klagt ein kurdischer Dorfbewohner, der aus seinem Heimatort vertrieben worden ist.
Im Südosten gibt es etwa 55.000 paramilitärische Dorfschützer. Teilweise sind sie sogar an Einsätzen gegen Ziele im Nordirak beteiligt. Die Teilnahme am System der Dorfschützer ist freiwillig – auf dem Papier. Mehr als 2.000 Dörfer, deren Bewohner sich weigerten, wurden im Zuge von Strafmaßnahmen der Militärs dem Erdboden gleichgemacht. Zwei Millionen Kurden sind Schätzungen zufolge aus den Dörfern geflüchtet. Die Regierung hat mehrfach versucht, die Dorfbewohner selbst oder die PKK dafür verantwortlich zu machen. Bezeichnend ist die Aussage von Ex-Premier Tansu Çiller: „Selbst wenn ich mit eigenen Augen gesehen hätte, daß staatliche Kräfte ein Dorf zerstören, glauben könnte ich es immer noch nicht.“ Den Krieg im Südosten begründet das Militär immer mit dem Argument der Sicherheit. „Wir werden den Terrorismus besiegen, aber Demokratie und Menschenrechte behindern uns dabei„, beklagte General Ahmet Çörekçi im Juli 1995 gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters.
Auf der anderen Seite sind seit 1993 mehrere hundert Zivilisten und Gefangene von der PKK getötet worden. Die meisten hatten sich den Dorfschützern angeschlossen. amnesty international hat zahlreiche Übergriffe der PKK dokumentiert und die PKK mehrfach – unter anderem bei einem Gespräch mit Vertretern der Organisation im August 1994 in London – aufgefordert, sich an das humanitäre Völkerrecht zu halten. Die PKK hat mehrfach in der Vergangenheit die Gefährdung von Zivilisten in Kauf genommen oder vorsätzlich gemordet, unter anderem 90 Lehrer. Diese werden von der PKK als Vertreter des türkischen Staates angesehen. Die Dorfbevölkerung ist zum Spielball ihrer militärischen Interessen gemacht worden. Es ist bittere Ironie des Konfliktes im Südosten, daß die Mehrzahl der von der PKK getöteten Menschen Kurden waren.
Reformen sind möglich
Bei ernsthaftem politischen Willen könnte die türkische Regierung durchaus Menschenrechtsreformen auf den Weg bringen. Die wirtschaftlichen, sozialen, gesellschaftlichen und kulturellen Voraussetzungen sind geeignet, die Idee der Menschenrechte dauerhaft zu tragen. Seit 1996 wurden auch einige Gruppen von amnesty international in der Türkei gegründet. Die ai-Sektion war 1980 nach dem Militärputsch zwangsweise geschlossen worden.
Die Türkei blickt auf nahezu ein halbes Jahrhundert Mehrparteiendemokratie zurück. Trotz wiederholter Machtergreifung durch das Militär – 1960, 1971 und 1980 – scheinen die parlamentarischen Strukturen fest verankert zu sein. Einige Abgeordnete scheuen nicht länger davor zurück, Regierung und Militär in Menschenrechtsfragen scharf zu kritisieren.
Als die Regierung Demirel nach den Parlamentswahlen vom Oktober 1991 versprach, Maßnahmen zum Schutz der Menschenrechte zu ergreifen, die Polizeistationen mit „Wänden aus Glas“ zu versehen und eine Versöhnung anzustreben, wurde das Land von einer Welle des Optimismus erfaßt. Auf die Einlösung des Versprechens warten die Türken noch heute.
Dennoch sind auch Fortschritte zu verzeichnen. Besonders bei der Todesstrafe: Die letzte Hinrichtung in der Türkei hat im Oktober 1984 stattgefunden, so daß das Land inzwischen zu den Staaten zu zählen ist, die die Todesstrafe zwar nicht per Gesetz, aber de facto abgeschafft haben. Das türkische Parlament hat schon seit geraumer Zeit keine Bestätigung von Todesurteilen mehr ausgesprochen und sämtliche Todesurteile umgewandelt, die für vor April 1991 begangene Straftaten verhängt worden waren. In diesem Jahr hat die Regierung die Abschaffung der Todesstrafe in absehbarer Zeit versprochen.
In anderen Bereichen stehen längst überfällige Reformen aber weiterhin aus. So wären mehrere zu Tode geprügelte Gefangene wahrscheinlich noch am Leben, wenn die Regierung es nicht bis heute unterlassen hätte, sicherzustellen, daß Polizeibeamte niemals Zugang zu Untersuchungshäftlingen und Strafgefangenen erhalten. Zwar hat es nicht den Anschein, als würde in den türkischen Gefängnissen, anders als auf den Polizeistationen, systematisch gefoltert. Gleichwohl hat amnesty international zahlreiche Berichte erhalten, denen zufolge politische Gefangene bei Fahrten von und zu Gerichtsverhandlungen oder ins Krankenhaus von der Gendarmerie mißhandelt worden sind.
amnesty international hat den türkischen Regierungen in den zurückliegenden Jahren immer wieder Reformvorschläge unterbreitet, deren Umsetzung leicht zu realisieren wäre und die dennoch eine grundlegende Verbesserung der Menschenrechtssituation zur Folge haben würden. Die türkische Staatsführung hat alle Möglichkeiten, Veränderungen herbeizuführen. Sie kann sich dabei des Rückhalts weiter Kreise des zivilen Teils der türkischen Gesellschaft sicher sein. Warum also bleiben selbst einfachste, aber dennoch erfolgversprechende Reformen aus?
Die Reaktion der internationalen Gemeinschaft auf Forderungen einiger maßgeblicher gesellschaftlicher Gruppen in der Türkei nach Reformen ist widersprüchlich. Regierungen, die über den meisten Einfluß auf die türkische Staatsführung verfügen – die Mitglieder der NATO und insbesondere der Europäischen Union – nutzen nicht einmal die von ihnen selbst zur Unterbindung von Menschenrechtsverletzungen geschaffenen Mechanismen, wie sie über den Europarat, die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und die Vereinten Nationen gegeben sind. Die Türkei gilt als geschätzter Verbündeter und als strategisches Bollwerk gegenüber der Instabilität in Teilen des Nahen Ostens und Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Darüber hinaus ist die Türkei ein bedeutender Handelspartner und bietet einen lukrativen Markt für den Absatz militärischer Güter.
Eine entscheidende und nach wie vor ungelöste Frage ist, in welchem Maße der Sicherheitsapparat ziviler Kontrolle untersteht. Die Sicherheitskräfte, die sich aus Polizei, Gendarmerie, Militär und Nachrichtendiensten zusammensetzen, bilden faktisch einen Staat im Staate. Für alle Fragen der inneren wie äußeren Sicherheit sind bis heute allein die Streitkräfte zuständig.
Mesut Yilmaz, amtierender Ministerpräsident der Türkei, hat im August 1995, als er noch der parlamentarischen Opposition angehörte, das Problem der Machtverteilung offen angesprochen. Im Oktober 1994 wollte er an einer Untersuchungsdelegation nach Tunceli teilnehmen. Die Militärbehörden hinderten die Parlamentarier aber daran, niedergebrannte Siedlungen aufzusuchen. Gegenüber der Tageszeitung »Cumhuriyet« erklärte Yilmaz im August 1995: „Wenn in einem Land nicht einmal der stellvertretende Ministerpräsident zu evakuierten Dörfern vorgelassen wird, überlasse ich es Ihrer Vorstellungskraft, sich auszumalen, welche Art von Einfluß Oppositionsparteien ausüben können. Zuerst muß die Souveränität der Zivilbehörden hergestellt werden.“
Die türkische Regierung sollte endlich damit beginnen, Armee, Gendarmerie und Polizei ihrer Aufsicht und Kontrolle zu unterstellen. Die Zeit bloßer Absichtserklärungen muß ein Ende haben. Anfang 1995 übermittelte die damalige Ministerpräsidentin Tansu Çiller dem Innenminister ein vertrauliches Schreiben, in dem es hieß: „Verdächtige, gleich welcher Straftat beschuldigt, dürfen nicht mißhandelt werden. Polizeistationen sollten inspiziert und Werkzeuge, die sich für Mißhandlungen eignen, entfernt werden.“ Im April 1995 wurde Sahabettin Özaslaner festgenommen und in Ankaras Polizeipräsidium von Beamten der Anti-Terrorismus-Abteilung verhört. In einem späteren Gespräch, das amnesty international mit ihm führen konnte, berichtete er, an eine Vorrichtung, von seinen Befragern als Foltertisch bezeichnet, angeschnallt und gefoltert worden zu sein. Es handelte sich dabei um dieselbe Vorrichtung, die der Europäische Ausschuß gegen Folter 1993 im Polizeipräsidium von Ankara entdeckt hatte. Vermutlich steht sie noch heute da.
Harald Gesterkamp ist Redakteur des »ai- JOURNALs«, dem von amnesty international herausgegebenen monatlichen »Magazin für die Menschenrechte«.