Einführung
Die Wiederkehr der Rüstungsdynamik und die Renuklearisierung der Welt
von Wolfgang Liebert
Der Forschungsverbund Naturwissenschaft, Abrüstung und internationale Sicherheit (FONAS) besteht seit mehr als zehn Jahren und versteht sich als Fachgesellschaft der naturwissenschaftlich orientierten Friedensforschung, die sich aufgrund eines neuen Schubs des wissenschaftlichen und politischen Engagements bereits seit zwei Jahrzehnten im Aufbau befindet. In der Regel verfolgen wir einen problemorientierten Ansatz. Naturwissenschaftliche und technische Bedingungsfaktoren von politisch brisanten Problemlagen stehen dabei im Fokus. Naturwissenschaftliche Detailarbeit, die sich immer wieder daraus ableitet, bleibt so rückgekoppelt an den außerwissenschaftlichen Ausgangspunkt und das Ziel, zu Problemlösungen in unserer wissenschaftlich-technisch durchwirkten Lebenswelt beizutragen. Damit ist auch eine eindeutige Anwendungsorientierung unserer Arbeit benannt: Politik und die interessierte Öffentlichkeit sollen von unabhängiger Seite (die meisten unserer aktiven Mitglieder arbeiten in Hochschulen oder auch in Instituten der Friedensforschung) nicht nur informiert sowie mit Analysen über Problemzusammenhänge versorgt werden, sondern es sollen auch Handlungsmöglichkeiten empfohlen werden.
Mit den folgenden zehn Beiträgen werden die Expertise und einige wesentliche Themenstellungen von FONAS in allgemein verständlich geschriebenen Aufsätzen vorgestellt. Einerseits hat dies exemplarischen Charakter. Andererseits haben die Artikel auch eine systematische Perspektive. Die Gemeinsamkeit besteht also nicht nur in ihrem Ursprung aus dem FONAS-Kreis, sondern findet seinen Ausdruck auch in einer gemeinsamen hochaktuellen Themenstellung.
Wir beobachten die Wiederkehr der Rüstungsdynamik. Die bestehenden Atomwaffenarsenale werden nicht nur - entgegen allen Abrüstungsversprechungen - instand gehalten, sie werden beständig modernisiert (so werden z.B. die Trägersysteme immer zielgenauer) und ihre militär-strategische Einsatzfähigkeit wird jenseits des Abschreckungspostulats technisch und politisch vorbereitet. Gleichzeitig mehren sich die brisanten Fälle nuklearer Proliferation und die Anzahl »virtueller Atomwaffenstaaten«. Die entscheidenden Wurzeln - neben regionalen Sicherheits- und Prestigeaspekten - werden immer noch nicht zureichend fokussiert: die mangelnde nukleare Abrüstung und die zivil-militärische Ambivalenz nuklearer Technologien und Materialien. Vielmehr wird heute ebenfalls von einer bevorstehenden Renaissance im zivilen Nuklearbereich geredet, ohne die Konsequenzen für die Waffenfrage angemessen zu thematisieren.
So könnte von einer bedrohlichen Renuklearisierung der Welt gesprochen werden. Eine alte Antwort aus den Zeiten der Rüstungsdynamik des Kalten Krieges ist der Aufbau von Raketenabwehrsystemen, der aktuell von den USA mit ersten Stationierungen vorangetrieben wird. Dies hat die Rüstungskontrolle bereits weiter in die Krise getrieben - und erste russische Reaktionen provoziert. Was sind die alten, bereits aufgekündigten, auslaufenden oder geschwächten Abkommen noch wert: ABM-Vertrag zur Raketenabwehr, START-Verträge zur nuklearen Abrüstung, KSE-Vertrag zur konventionellen Abrüstung in Europa, nuklearer Nichtverbreitungsvertrag, Biowaffen-Übereinkommen? Die Diagnose einer Renuklearisierung muss ergänzt werden durch eine Analyse der Dynamik im Bereich der Biotechnologie mit Folgen für mögliche - nunmehr vielleicht realistische - Biowaffenprogramme.
Neben dem Abklopfen übergreifender abrüstungs-, rüstungskontroll- und forschungspolitischer Leitlinien drängen sich zumindest die folgenden konkreten Fragen auf: Wie können nukleare Spaltmaterialien besser geschützt oder aus dem Verkehr gezogen werden? Wie wäre mit proliferationsförderlichen nuklearen Technologien umzugehen? Welche Chancen bestehen für verbesserte nukleare Verifikation und Safeguards? Ist Raketenabwehr die notwendige und funktionstüchtige Antwort auf Proliferationsgefahren? Kann der Bann von Biowaffen »wasserdichter« gemacht werden?
Wir haben als einen übergreifenden Ansatz unserer Arbeit »präventive Rüstungskontrolle« definiert und einige Pilotprojekte durchführen können. Damit ist die Vision verbunden, dass der Automatismus der Einführung von Technologien, deren Möglichkeiten erkannt und erforscht werden, in gewissem Sinne gebrochen werden muss; ebenso die fortgesetzte, unkorrigierte Nutzung von vorhandenen Technologien, deren Gefahrenpotenziale deutlich werden - Chancen für verbesserte Formen der Verifikation treten ggf. hinzu. Ein politischer Regelungsbedarf, der Beschaffungs- und Nutzungsentscheidungen vorgelagert sein muss - oder fortdauernde Nutzung betrifft - soll benennbar werden. Der Glaube an die Unausweichlichkeit der wissenschaftlich-technologischen Dynamik (oder gar Eigendynamik), ihre Alternativlosigkeit ist demgegenüber noch zu weit verbreitet.
Die Wiederkehr der Rüstungsdynamik zeigt sich auch in dem ungebrochenen Drang nach neuen waffentechnischen Möglichkeiten, die mit großem Aufwand wissenschaftlich erforscht werden. Aktuell gehören dazu: Laserwaffen, Weltraumwaffen und militärische Visionen in der Nanotechnologie. Letzteres Beispiel aus dem FONAS-Arbeitszusammenhang wird daher ebenfalls vorgestellt.
Dr. Wolfgang Liebert ist wissenschaftlicher Koordinator der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit (IANUS) der TU Darmstadt und ist Vorsitzender des Forschungsverbundes Naturwissenschaft, Abrüstung und internationale Sicherheit (FONAS).