W&F 2017/4

Eingefrorene Tragödie

Der Kaschmir-Konflikt zwischen Indien und Pakistan ist kaum lösbar

von Jakob Rösel

Schon bei der Sezession Pakistans von Indien 1947 wurde die Region Kaschmir von Bürgerkrieg und Vertreibungen erfasst. Der Kampf um die nationale Zugehörigkeit der muslimischen Mehrheit wird bis heute blutig ausgetragen. Die Situation ist verfahren: Indien reagiert auf alle Autonomiebestrebungen mit harter Repression, Pakistan nutzt den Konflikt für eigene Zwecke.

Der Kaschmir-Konflikt teilt mit dem Konflikt um Israel seine Langlebigkeit, seine Unlösbarkeit und seine großen geopolitischen und potentiell nuklearen Implikationen. Allerdings wird er vom »eurozentrischen« Westen seit 70 Jahren unterschätzt. Russland wurde von Winston Churchill einmal charakterisiert als ein Rätsel, behütet von einem Mysterium, umringt von einem Geheimnis. Kaschmir wäre dann ein Dilemma, am Beginn einer Sackgasse mit einem unausweichlichen Resultat, einer Tragödie.

Kaschmir ist ein Dilemma, weil zwei Konkurrenten, Pakistan und Indien, einmal als islamischer, einmal als säkularer Staat zur moralisch-ideologischen Selbstlegitimierung Kaschmir für sich beanspruchen müssen. Es ist eine Sackgasse, weil diese Konkurrenz nach vier Kriegen und 70 Jahren der Konfrontation kaum Spielraum für dritte Wege, Übergangslösungen, Kompromisse lässt. Und zuletzt ist es eine Tragödie, weil die okkupierte Bevölkerung, die muslimische Mehrheit Kaschmirs, stets Widerstand leisten wird. Dagegen ist der stärkere Akteur, die Regierungs- und Besatzungsmacht Indien, bereit, diesen Widerstand um jeden Preis zu unterdrücken.

Wie konnte es dazu kommen?

Der indische Bundessstaat Jammu und Kaschmir ist aus einem von einer Hindu-Dynastie beherrschten Königreich hervorgegangen. Es wurde im 19. Jahrhundert von der kolonialen East India Company gegen Zahlung einer hohen Anerkennungsprämie bestätigt und anschließend für geostrategische Aufgaben benutzt: eine perfekte imperiale Camouflage. Am Ende des 19. Jahrhunderts umfasste das Königreich ein Terrain von der Größe Großbritanniens und stand formal unter der Herrschaft der Dogra-Dynastie. Die beiden Hauptstädte waren Jammu im überwiegend hinduistischen Süden sowie Srinagar im fast vollständig muslimischen Hochtal von Kaschmir.

Die von Nehru offiziell, von Gandhi »charismatisch« geführte Kongressbewegung entfaltete etwa seit 1920 Massenwirkung und wurde eine politische Partei. Sie forderte ein unabhängiges, säkulares Indien. Aus einer von den Briten angeregten muslimischen Honoratiorenassoziation, der Muslimliga, entstand 1936 eine muslimische Massenpartei, nach dem Modell des Kongress, aber in Feindschaft zu ihm. Die Muslimliga sprach von einem Indien der zwei Nationen, einer Hindu-Nation und einer paritätischen Muslim-Nation. Seit Beginn des Zweiten Weltkrieges forderte sie dafür ein »Pakistan« (Akronym für Punjab-Kaschmir-Sindh-Belutschistan).

Gerade für das riesige und vielschichtige Jammu und Kaschmir wurde dieser Konflikt bedeutsam. Es entstand eine »Jammu und Kaschmir Muslimkonferenz«, die wenig später von Sheikh Abdullah in »National Conference« umbenannt wurde. Abdullah wollte den Widerstand gegen die Dogra-Rajas vereinen. Er sympathisierte seinerzeit mit den Idealen des Kongress und kannte Nehru. Im Winter 1945/46 zeigte eine indische Wahl die Polarisierung an. Der Kongress repräsentierte nun die überwältigende Mehrheit der Hindus. Die Muslimliga hatte die Masse der Muslime hinter sich. Für Jinnah, den Führer der Muslimliga und Wortführer Pakistans, war nun ein Separatstaat unabwendbar. Noch 1946 wurden die Gewaltkreisläufe, die Massaker zwischen Hindus und Muslimen, unkontrollierbar (siehe dazu iz3w 355 über Separatismus, S. 16ff.).

Louis Mountbatten wurde als letzter britischer Generalgouverneur nach Neu-Delhi entsandt. Er sollte das »Endgame« beschleunigen, denn bis zur Jahresmitte 1947 sollte Indien unabhängig und zugleich geteilt sein: in Indien und in West- und Ostpakistan. Damit rückte ein weiteres Problem in das Zentrum der Entscheidungen: Was soll mit den Fürstenstaaten geschehen? Wohin gehen Jammu und Kaschmir?

Das Dilemma

Für Jinnah und die Muslimliga entschied die Religionszugehörigkeit der Mehrheit darüber, ob ein Gebiet Pakistan oder Indien zugeschlagen wird. Pakistan sollte ein Staat für die Muslime werden. Kaschmir als ein mehrheitlich muslimisches Fürstentum an der Grenze gehört für sie natürlicherweise dazu. Für die indische »One Nation«-Theorie bestand ein gegenläufiger Zwang. In der säkularen Nation gab es außer der Inselgruppe der Lakkadiven kein Gebiet mit muslimischer Mehrheit. Kaschmir wurde damit zur Bestätigung des für den Bestand des multireligiösen Indiens unersetzbaren Säkularismus: Auch die Muslime gehören zu uns. Die Zugehörigkeit von Kaschmir stand für Nehru auch demokratisch außer Frage. Der politische Sprecher der Bevölkerung, Sheikh Abdullah, hatte die Muslimkonferenz zur National Conference umbenannt. Die Führer beider Parteien saßen zum Zeitpunkt des »Endgame of Empire« im Gefängnis und waren befreundet.

Die beiden künftigen Staaten, Indien und Pakistan, die säkulare und die muslimische Nation, mussten also aus Gründen ihrer raison d’être auf der Herrschaft über Kaschmir bestehen. Nach dem Teilungsplan des Generalgouverneurs Mountbatten gingen die muslimischen Mehrheitsprovinzen im Westen, Sindh und die North-West Frontier Province, an Pakistan. Das Schicksal Belutschistans wurde 1948 im Rahmen einer pakistanischen Militärintervention erledigt. Die riesigen, bevölkerungsreichsten Provinzen Punjab im Westen und Bengalen im Osten mussten geteilt werden, weil sie jeweils zu einer Hälfte von Hindus und einer Hälfte von Muslimen bewohnt waren. Der Ostpunjab ging an Indien und Ostbengalen bildete Ostpakistan, das künftige Bangladesch. Massenhaft flüchteten Hindus und Sikhs aus dem Westpunjab nach Indien und umgekehrt Muslim*innen aus dem Ostpunjab nach Pakistan. Zwölf Millionen Menschen wurden vertrieben. Die Zahl der Toten kennt niemand; Schätzungen schwanken zwischen einer halben Million und einer Million.

In Punch/Kaschmir begannen im Herbst 1947 Pahari- und Paschtunenkrieger für die muslimische Mehrheitsseite mit der kriegerischen Eroberung kaschmirischer Gebiete. Im Gegenzug drängten Sikh-Eliteregimente die Paschtunen wieder zurück. Nachdem im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ein Waffenstillstand ausgehandelt wurde, wurde die disparate Front bald zur »Line of Control«, zur neuen De-facto-Grenze. Im Südwesten verlor Indien dabei ein Zehntel des Hochtals und von Jammu. Dieses Gebiet bildet das pakistanische Azad Kashmir. Im Norden waren die Verluste weit größer. Wesentliche Teile der geostrategisch wichtigen Grenze zu China fielen nun an Pakistan, welches wiederum ein beachtliches Terrain nördlich der höchsten Karakorum-Gipfel an China abtrat. Des Weiteren fielen die immensen Eiswüsten, weite Strecken der Indus-Gebirgstäler sowie Gilgit und Baltistan an Pakistan. Dort liefern sich seither indische und pakistanische Truppen auf dem 5.000 Meter hoch gelegenen Gletscher Gefechte, bei Atemnot, in unerbittlicher Kälte. Mit China im Rücken kann das kleine Pakistan die indische Großmacht beliebig provozieren. 1962 besiegte China Indien in einem Grenzkrieg und drängte es entlang des verbliebenen östlichen Grenzverlaufs zurück.

Insgesamt hat Indien rund 40 Prozent der Kaschmirregion verloren. Zugleich tappte Nehru innenpolitisch in eine Falle: Um dem »Beitritt« Kaschmirs zu Indien eine demokratische Legitimation zu verschaffen, versprach er eine Volksabstimmung. Seiner Freundschaft mit Sheikh Abdullah sicher, glaubte er 1948, dass der Sheikh und die National Conference künftig den demokratischen Prozess bestimmen und eine proindische Volksabstimmung gewinnen würden. Sheikh Abdullah aber sollte in den kommenden Jahren zum Quälgeist Nehrus, seiner Tochter Indira Gandhi und seines Enkels Rajiv Gandhi werden.

Die Sackgasse

Noch im Überschwang des Beitritts kam der indische Kongress Sheikh Abdullah entgegen. Die Dogra-Monarchie wurde zügig abgeschafft, der neue Bundesstaat Jammu und Kaschmir erhielt außerordentliche Privilegien: Seine Fahne wehte stets neben der Nationalflagge. Bundesgesetze galten hier nur, wenn sie zuvor vom Regionalparlament ebenfalls verabschiedet wurden. Die Urteile des obersten Verfassungsgerichts galten nicht für den Bundesstaat. Mit diesen einzigartigen Sonderrechten schaffte sich der Sheikh ein Sprungbett für eventuelle weitere Autonomieforderungen. Es dauerte Jahre, bis diese Privilegien partiell zurückgenommen werden konnten.

Diese Rücknahme produzierte ein anderes Dilemma: Mit ihr verengte sich der Spielraum für Autonomiekonzessionen, also Konfliktlösungen. Autonomiekonzessionen könnten einen Präzedenzfall für die übrigen Bundesstaaten schaffen. Sheikh Abdullah errichtete derweil seine eigene »National Conference«-Vorherrschaft und brach eine vermeintlich sozialistische Revolution vom Zaun, von der vorrangig seine Familie und Parteigefolgschaft profitierten. Sein Sohn Farooq führte die Partei zunächst erfolgreich weiter.

Bis Ende der 1980er Jahre trat die Kaschmirpolitik auf der Stelle. Es gab keine Volksabstimmung. Stattdessen behauptete Neu-Delhi, dass die regelmäßig abgehaltenen Provinz- und Nationalwahlen das Äquivalent einer proindischen Abstimmung wären. Hinzu komme, dass Pakistan 40 Prozent des Gebiets besetzt halte und dort eine freie Volksabstimmung nicht zulasse oder nicht garantieren könne. Auch an den vielfachen Wahlmanipulationen, Stimmen- und Abgeordnetenkäufen von allen Seiten änderte sich in den kommenden drei Jahrzehnten wenig. Der Protest der Kaschmiri für mehr Autonomie oder für Unabhängigkeit blieb noch friedlich, allerdings nahm er zunehmend außerparlamentarische Formen an.

Während dieser fast vier Jahrzehnte wurden zwei Kriege zwischen Pakistan und Indien geführt, ein direkter 1965 und indirekt der Bangladesch-Krieg von 1971. Mit dem für Pakistan verheerenden Kriegsausgang nutzte Indien seine Position und diktierte Pakistan einen »Bilateralismus«. In der Folge sollte die Kaschmirfrage zukünftig nur zwischen Indien und Pakistan verhandelbar sein, ohne Einmischung etwa der Vereinten Nationen. Das Trauma der Abtrennung Bangladeschs setzte zugleich auf pakistanischer Seite die Suche nach neuen Bündnispartnern und Waffen frei. Zunächst Staatspräsident Bhutto, dann sein Nachfolger, der Putschist Zia-ul-Haq, suchten die finanzielle Unterstützung Saudi-Arabiens und importierten dessen sunnitischen Fundamentalismus. Sie vertieften die Allianz mit China und fädelten für die US-Regierung von Nixon/Kissinger die Liaison zwischen Peking und Washington ein. Vor allem aber trieben sie heimlich durch Einkauf, Spionage und Schmuggel eine eigene Atomrüstung voran, die seit 1998 von Erfolg gekrönt ist. Die Konsequenzen des Sezessionskriegs 1971 lenken die Verhandlungen um Kaschmir also endgültig in eine Sackgasse.

Dabei liegen seit den 1950er Jahren drei Lösungsansätze auf dem Tisch: erstens das Plebiszit, zweitens die Idee der vier regionalen Plebiszite, drittens die Anerkennung der »Line of Control« als legitime internationale Grenze. Zum ersten: Ein Plebiszit wäre nur sinnvoll, wenn alle Bewohner*innen zwischen »Unabhängigkeit«, »zu Pakistan« oder »zu Indien« wählen können. Aber die Unabhängigkeit Kaschmirs wird von Indien und Pakistan kategorisch ausgeschlossen. Eine »Indien oder Pakistan«-Wahl wird von Indien blockiert – mit dem Hinweis, das besetzte pakistanische Azad Kashmir könne nicht frei wählen, während die seit 1953 im Hochtal abgehaltenen Parlamentswahlen Plebiszit genug seien. Pakistan hingegen ließe eine »Indien oder Pakistan«-Entscheidung eventuell zu, je nach politischer Wetterlage.

Zum zweiten Lösungsansatz: Der kanadische UN-Vermittler Owen Dixon hatte die Idee zu vier regionalen Plebisziten, die der ethnischen und politischen Vielfalt Rechnung trügen: im zu 60 Prozent buddhistischen Ladakh, im zu zwei Drittel hinduistischen Jammu, im nahezu vollständig islamischen Azad Kashmir und Gilgit/Baltit-Territorium und im zu 90 Prozent muslimischen Hochtal. Da Jammu und Ladakh für Indien, jedoch der seit 1948 okkupierte Westen für Pakistan votiert hätten, hätte das Vierer-Plebiszit das Problem vorsortiert und auf das Hochtal begrenzt. Allerdings mit der gleichen Blockade wie bei Option 1: Indien hätte weder ein unabhängiges noch ein pakistanisches Hochtal akzeptiert und Pakistan kein indisches. Somit bleibt nur die dritte Option des »aufgeklärten Eigeninteresses«: die Anerkennung der seit 1948 bestehenden »Line of Control«. Doch vor allem Indien würde niemals abschließend den Verlust von mehr als 40 Prozent des ehemaligen Fürstentums akzeptieren.

In den Jahrzehnten seit 1971 (Phase des »Bilateralismus«) und 1998 (Pakistans Nuklearbewaffnung) hat sich die Konfrontation verhärtet. Für den pakistanischen Militärstaat blieb die Forderung nach der Befreiung der Kaschmir-Muslime unverzichtbar. Die indische Annexion des Hochtals demonstriert fortdauernd die existenzielle Bedrohung Pakistans und legitimiert damit die Vorherrschaft des Militärs. Für die seit 1999 auch hindunationalistisch ausgeprägten Großmachtambitionen Indiens gilt wiederum das Gegenteil: Begrenzte Konzessionen an kaschmirische Autonomiebestrebungen wären ein Zeichen der Schwäche. Das gilt nach außen gegenüber Pakistan und China ebenso wie nach innen gegenüber den Oppositionsparteien und Hindu-Wähler*innen, vor allem im Gebietsteil Jammu. Dadurch werde die Einheit Indiens bedroht.

Hinzu kommt, dass der Weg der kleinen Konzessionen diskreditiert ist: 1975 war unter großem Pomp ein »Kashmir Accord« zwischen Indira Gandhi und Sheikh Abdullah ausgehandelt worden. Dieser Accord ermöglichte es Sheikh Abdullah, wieder in das Amt des Chief Ministers zurückzukehren und in Jammu und Kaschmir eine Autokratie zu errichten. Er fabulierte über Zusammenschlüsse wie Azad Kaschmir mit Kaschmir. Alle Minister schworen ihm einen persönlichen Treueeid. Er brachte den Kongress, die Hindumehrheit in Jammu und die Buddhisten in Ladakh gegen sich auf. Der Tod des »Löwen« 1982 war für den Kongress eine Erlösung. Seitdem hält Neu-Delhi nichts von auch nur begrenzten Autonomieexperimenten. Der Konflikt radikalisierte sich zur Tragödie.

Die Tragödie

Zum Zeitpunkt des Todes von Sheikh Abdullah hatten junge Kaschmiris der National Conference den Rücken gekehrt. Sie galt ihnen als obsolet, korrupt und opportunistisch. Bereits 1977 hatte sich im Exil eine Jammu Kashmir Liberation Front (JKLF) gegründet. Sie wurde in den 1980er Jahren zum Experimentierfeld einer nicht nur außerparlamentarischen, sondern bald auch militärisch-terroristischen Opposition. Vor allem die pakistanische Diktatur von Zia-ul-Haq, dessen übermächtiger Geheimdienst Inter-Services Intelligence (ISI) sowie die politische Stütze Zias, die islamfundamentalistische Jamaat-e-Islami Partei, griffen in den Widerstand ein. Die entscheidende Zäsur war das Ende des antisowjetischen Dschihad 1987 in Afghanistan, also die Demobilisierung der »fundamentalistischen Internationale«, etwa der saudi-arabischen, libyschen oder tschetschenischen Mudschaheddin. Diese Krieger stellten für Pakistan ein innenpolitisches Problem dar.

Jamaat-e-Islami und ISI fanden eine Lösung: Die Krieger wurden nicht mehr nach Westen über die Khaibergrenze, sondern nunmehr nach Osten über die »Line of Control« nach Kaschmir geschickt. Von einem Dutzend seit längerem in Pakistan und Azad Kashmir operierenden Terrorgruppen weitergereicht, ausgebildet und mit Waffen versehen, wurden sie ins Hochtal geschickt. Entsprechend radikalisierte sich nun der Widerstand gegen die indische Besatzungsmacht, die Regionalparteien und die innenpolitischen »Verräter«. Es ist müßig darüber zu spekulieren, ob ein eigener, spezifisch kaschmirischer militanter Widerstand politisch rationaler und weniger tödlich gewesen wäre. Der pakistanische Faktor veränderte alles. Den pakistanischen oder internationalen Kombattanten ging es um das Große und Ganze. Einer der Anführer, Azam Inquilabi, erklärte: „Wir haben gesehen, wie das kleine Land Afghanistan gegen eine Supermacht kämpfte, sie zum Rückzug zwang, ihren Niedergang und ihre Auflösung auslöste. Wir sahen, wie am Ende fünf neue islamische Staaten entstanden. Weshalb sollten wir das Gleiche nicht in Kaschmir mit Indien versuchen?“ (Schofield 2002, S. 126)

Diese eigentlich marginalen islamistischen Akteure wollten eine unüberbrückbare Kluft zwischen Hindus und Muslim*innen schaffen. Dies zeigte sich auch bei anderen vergangenen Terrorangriffen auf das indische Parlament, auf das Taj Mahal Hotel in Mumbai und weitere spektakuläre Ziele. Der Zweck der Terrorstrategie ist es, die Panik der Hindus zu schüren, eine kollektive Vergeltung seitens der indischen Sicherheitskräfte und am Ende den Glaubens- und Bürgerkrieg herbeizuführen. Die Dschihadisten kannten und befürworteten den Preis an Menschenleben, den die indische Repression fordert. Denn vor der Haustür Pakistans, im (Ost-) Punjab, hatte die Regierung Indira Gandhi in den 1980er Jahren die Sezessionsbewegung der Sikhs niedergeschlagen, mit mindestens 60.000 toten Zivilist*innen. ISI und Jamaat, bald flankiert von zwei weiteren fundamentalistischen Parteien, sowie die von ihnen geförderten Terrorgruppen trugen im Hochtal ebenfalls ihre Rivalitäten aus. Sie bedrohten und töteten jene Kaschmiris, Journalist*innen, Politiker*innen und Intellektuellen, die ihre Methoden – Geiselnahme, Autobomben, Selbstmord­attentate – oder ihre pro-pakistanische Haltung und Finanzierung kritisierten.

Dieser neue, seit 1987 einsetzende und bis heute andauernde »Dreißigjährige Krieg« kann hier nur grob skizziert werden. Die erste genuin kaschmirische Aufstandsorganisation, die JKLF, war bald fraktioniert, von pakistanischen Gruppen dominiert und diskreditiert. Die Vermehrung der Terrorgruppen und ihre brutale Konkurrenz steigerten das Chaos und die Repression. 1993 entstand eine All Parties Hurriyat Conference, eine Dachorganisation von 26 Gruppierungen unterschiedlichster Orientierung. Terrorgruppen existierten Seite an Seite mit kaschmirischen Kultur-, Partei- oder Propagandaorganisationen. Zweimal gespalten und wiedervereinigt, galt diese von Pakistan und ISI geförderte Dachorganisation als reine »Adressenkartei«. Für Indien ist die »Conference« kein Ansprechpartner. Indien hat aber auch keinen anderen gefunden – oder gesucht.

Vielmehr verfolgt Neu-Delhi seit fast 30 Jahren eine Komplementärstrategie formaler »demokratischer« Repräsentation, ergänzt durch Repression. Die regionale Politik stützt sich auf ein Vierparteiensystem: Die National Conference wird dynastisch vom Enkel Abdullahs, Omar, geleitet. Daneben stehen die regionale Kongresspartei; eine starke hindu-nationale, auf die Jammu-Hindus gestützte BJP [Indische Volkspartei] und eine Abspaltung der indischen Kongresspartei, die dynastisch geleitete PDP [People’s Democratic Party]. Seit 1947 haben elf Regionalwahlen stattgefunden. Seit 2014 regiert eine PDP/BJP-Koalition. Diese formale Kontinuität (elf Regierungen in 65 Jahren) und Stabilität (fünf Familien stellen 16 der 19 Chief Minister) verdeckt die inzwischen unüberwindbare Polarisierung zwischen Hindus und Muslim*innen. Vor allem verschwimmt dabei die Entfremdung zwischen den Muslim*innen, insbesondere der Jugend, und dem indischen Staat.

Auf Ladenschließungen, Straßenblockaden, gewalttätige Proteste sowie insbesondere auf Terroranschläge antwortet Neu-Delhi stets mit Repression. Dabei kann die Großmacht auf die Ressourcen des weltweit drittgrößten Armee- und Sicherheitsapparates zurückgreifen. Zwischen 200.000 und 300.000 Soldaten und Sicherheitskräfte sind im Hochtal stationiert. Über genaue Zahlen und die Kosten, vor allem an Menschenleben, herrscht Ungewissheit. Die Opfer­angaben schwanken zwischen 30.000 und 60.000 Toten. Sicher ist, dass Indien auch künftig diesen Preis in Kauf nehmen wird.

Die Zahl, die Identitäten und die Ziele der Aufstandsbewegungen sind unüberschaubar. Die Spaltungen und Fusionen sowie vielfältige interne Machtkämpfe haben zu einem Schattenkrieg im Schattenkrieg geführt. Einzelne Fraktionen arbeiten für den indischen Geheimdienst und Sicherheitsapparat. Die Grenzen zwischen ethnonationalistischem Irredentismus [Bestrebungen für einen Anschluss an das Mutterland; W&F], Islamismus, Kaschmir-Patriotismus, Mafiatum und bezahltem Verrat sind fließend.

Status quo zu beider Vorteil

Die große Politik, vorrangig der indischen BJP-Regierungen, hat sich von dem unlösbaren Problem abgewendet und verhandelt, wenn überhaupt, über Verbesserungen der Verkehrs-, Wirtschaft- und Handelsbeziehungen zwischen den beiden Staaten. Aber auch Initiativen im »erleichterten Grenzverkehr« werden durch Terroranschläge sabotiert. Sie demonstrieren der indischen Seite stets auf das Neue, dass das pakistanische Militär, ISI, Jamaat-e-Islami und die Terrorgruppen jenseits politischer Kon­trolle stehen. So zettelte das pakistanische Militär unter dem späteren Militärdiktator Pervez Musharraf 1999 einen vierten Krieg um Kaschmir, den Kargil-Krieg an, während Regierungschef Nawaz Sharif in erfolgversprechenden Verhandlungen mit der BJP-Regierung stand.

Seitdem ist das Interesse Indiens selbst an einer minimalen Verhandlungsstrategie geschwunden. Der Status quo, die fortdauernde Tragödie bildet damit nach sieben Jahrzehnten die goldene Mitte, in der die innenpolitischen und geostrategischen Interessen der beiden Kontrahenten konvergieren. Er verschafft der indischen Großmacht innenpolitische Ruhe (keine Autonomiepräzedenz) und schützt ihre geostrategischen Ambitionen. Dem pakistanischen Militär dient der Konflikt als Nachweis für die Unverzichtbarkeit seiner Schutzherrschaft. Zudem kann das Militär nur im Kaschmirkonflikt mit minimalem Einsatz und Risiko den übermächtigen Gegner nach Belieben düpieren.

Literatur

Lamb, A. (1991): Kashmir – A Disputed Legacy, 1846-1990. Hertingfordbury: Roxford Books.

Schofield, V. (2002): Kashmir in Conflict – India, Pakistan and the Unending War. London: I.B. Tauris

Jakob Rösel ist Autor des Buches »Pakistan – Kunststaat, Militärstaat und Krisenstaat«. (Berlin: LIT). Der Artikel wurde für iz3s, Juli/August 2017 geschrieben; eine Langfassung findet sich auf iz3w.org, Ausgabe 361.
W&F dankt dem Autor und dem Informationszentrum Dritte Welt für die Nachdruckrechte.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2017/4 Eingefrorene Konflikte, Seite 13–17