W&F 1987/1

Elektromagnetische Beschleunigung von Projektilen

von Wolfgang Demtröder

I. Einleitung

Wenn man einen Körper von der Erdoberfläche in den Weltraum bringen will, so muß dieser zur Überwindung der Erdanziehung eine Mindestgeschwindigkeit, die sogenannte Fluchtgeschwindigkeit v=11,3 km/s haben. Verwendet man konventionelle Geschosse, die durch Explosion bestimmter Chemikalien (z.B. Schwarzpulver) angetrieben werden, so wird die Endgeschwindigkeit des Geschosses durch die maximale Geschwindigkeit der bei der Explosion entstehenden Treibgase auf maximal 2 km/s begrenzt. Sie erreicht daher nicht die Fluchtgeschwindigkeit, obwohl die beim Abschuß auftretenden Beschleunigungen bis zu 1,5 Millionen m/s² betragen und damit dem 150.000fachen der Erdbeschleunigung entsprechen können.

Einen Ausweg brachte das Raketenprinzip, bei dem die Geschwindigkeit und die Beschleunigung der Rakete beim Start relativ klein sind, aber über längere Zeit hinweg dauernd vergrößert werden durch den Rückstoß eines Treibgases, das mehrere Minuten lang durch Verbrennen von Treibstoff nach hinten ausgestoßen wird, bis die Rakete die erforderliche Geschwindigkeit erreicht hat. Der große Nachteil aller bisher verwendeten mehrstufigen Raketen ist das kleine Verhältnis von Nutzlast zu Treibstoffgewicht. So beträgt z.B. bei der europäischen Rakete Ariane die Nutzlast m weniger als 1 % der Startmasse m0. Will man also größere Massen z.B. in eine Umlaufbahn um die Erde bringen (wie dies bei der Realisierung der SDI-Pläne notwendig wäre), so muß man dafür so große Anfangsmassen starten, daß dieser Plan aus Kostengründen utopisch wird.

Die Frage ist nun, ob man nicht durch andere als chemische Antriebe doch erreichen kann, daß die gesamte Anfangsmasse m0 auf die Fluchtgeschwindigkeit beschleunigt wird. Dieses Ziel, das bereits von Jules Vernes in einem seiner Zukunftsromane als „Schuß zum Mond“ aufgegriffen wurde, läßt sich in der Tat realisieren, wenn man elektromagnetische Kräfte zur Beschleunigung heranzieht. Allerdings liegen die bisher verwendeten „Geschoß-Massen“ nur im Bereich weniger Gramm und die Schußfolgefrequenzen sind so niedrig, daß der Traum der Militärs von „elektromagnetischen Geschützen“ als neuen Wunderwaffen bisher jedenfalls nicht realistisch erscheint, zumal auch die Zielgenauigkeit nicht den Anforderungen entspricht.

In diesem Artikel sollen das Prinzip der elektromagnetischen Beschleunigung, einige technische Realisierungsmöglichkeiten und zwei interessante nichtmilitärische Anwendungsbeispiele „elektromagnetischer Geschütze“ kurz diskutiert werden.

II. Prinzip der elektromagnetischen Beschleunigung

Der elektromagnetische Antrieb kann zwei verschiedene physikalische Prinzipien benutzen:

1. Die Lorentzkraft

F=q(v x B),

welche auf eine Ladung q wirkt, die sich mit der Geschwindigkeit v in einem zeitlich konstanten Magnetfeld B bewegt. Auf diesem Prinzip beruht die „Schienen-Kanone“ (Railgun).

2. Die elektromagnetische Induktion, die aufgrund zeitlich schnell veränderlicher Magnetfelder zu großen Abstoßungskräften zwischen kurzzeitig von Spitzenströmen durchflossenen Leitern führt. Darauf basiert die Induktionsschleuder.

Wir wollen beide Varianten kurz erläutern:

In Abb. 1 sind zwei elektrisch leitende parallele Schienen gezeigt, die links an einen Stromgenerator angeschlossen sind, der die Spannung U erzeugt, und die durch einen auf den Schienen gleitenden Kontakt kurzgeschlossen werden. Dieser Gleitkontakt enthält das „Projektil“, das beschleunigt wird. Senkrecht zur Zeichenebene sei ein konstantes Magnetfeld B erzeugt. Fließt ein Strom I wie gezeichnet durch das System, so wirkt auf das Projektil die Lorentzkraft nach rechts. Wir wollen uns an einem Zahlenbeispiel die Größenverhältnisse klarmachen:

Um ein Geschoß auf eine Geschwindigkeit von 10 km/s zu beschleunigen, steht bei einer Schienenlänge L = 10 m nur eine Zeit von etwa 2 Minisekunden zur Verfügung. Bei einer Geschoßmasse von 100 g ist dafür eine Kraft

F = 0,1 kg x 1000 m/s / 0,002 s

notwendig. Bei einem mit Supraleitern erreichbaren Magnetfeld von 10 Tesla (105 Gauß!) und einer Dicke des Gleitbügels von d=5 cm muß dann ein Strom von 1 Million Ampere (!) fließen. Die vom Geschoß aufgenommene Energie ist

Ekin = 1/2 m v2 = 5

Bei einem Wirkungsgrad von 30 %, mit dem die elektrische Energie des Generators in Geschoßenergie umgewandelt wird, müßte der Generator für 2 Minisekunden eine elektrische Leistung von 8 Gigawatt (!) aufbringen. (Das ist viermal soviel wie die elektrische Leistung von Biblis.) Man sieht, daß selbst bei kleinen Massen ein sehr großer technischer Aufwand betrieben werden muß. Der Vorteil gegenüber der Beschleunigung durch chemische Treibstoffe ist jedoch, daß man diese Beschleunigung über die ganze Schienenstrecke wirken lassen kann, während bei der Explosion der beschleunigende Druck des Treibgases mit zunehmender Expansion der Treibgase abnimmt. (Abb. 2).

Als Generator, der kurzfristig die erforderliche hohe elektrische Leistung erbringen kann, wurde z.B. ein homopolarer Generator verwendet, der aus einer großen, elektrisch leitenden Schwungscheibe besteht, die sich in einem starken Magnetfeld parallel zur Drehachse mit einer Frequenz von etwa 100 Hz um diese Achse dreht. Die Elektronen in der Schwungscheibe werden aufgrund der Lorentzkraft getrennt, und es entsteht eine Spannung zwischen Achse und Rand der Scheibe. Die in der Scheibe gespeicherte mechanische Rotationsenergie kann viele Mega-Joule betragen und der mit Gleitkontakten vom Homopolargenerator annehmbare Strom kann mehr als 1 Mega-Ampere erreichen. In Canberra, Australien wurde z.B. ein solcher Generator gebaut, der zwei Stockwerke hoch ist und bei einer Rotationsenergie von 500 MJ einen Strom von 1,6 MA liefern kann.

III. Realisierung einer »Railgun«

Die Anordnung einer „Railgun“ mit Homopolargenerator, die in Canberra gebaut wurde, ist in Abb. 3 gezeigt, wo der vom Generator erzeugte Strom zuerst durch eine große Spule fließt, die als magnetischer Energiespeicher dient. Wird der Kurzschlußgleitschalter S, plötzlich nach links geschoben, so fließt der gesamte Strom durch die Schienen der Railgun bis zum Projektil, das im Gleitbügel steckt. Die elektrische Energie, die kurzfristig zur Verfügung stehen muß, wird vom Homopolargenerator und zusätzlich von dem Magnetfeld der stromdurchflossenen Spule geliefert. Das in Abb. 1 gezeichnete Magnetfeld zwischen den Schienen der Railgun wird hier von dem durch die Schienen fließenden Strom automatisch mit erzeugt.

Bei einer solchen „Railgun“ treten folgende technische Probleme auf:

  1. Die magnetischen Kräfte zwischen den beiden Schienen sind sehr groß und müssen daher mechanisch aufgefangen werden. Eine Lösung zeigt Abb. 4, wo beide Schienen in ein isolierendes Material eingebettet sind und durch ein äußeres zylindrisches Rohr die mechanische Stabilität verbessert wird.
  2. Bei Stromstärken von 1 Million Ampere verschmoren alle Gleitkontakte, insbesondere die des Kurzschlußbügels, der das Projektil trägt und der deshalb leichtgängig sein soll, um Reibungsverluste gering zu halten. Man kann als Abhilfe durch Entladungsspitzen an der Rückseite des Bügels, die durch Verbrennen des dünnen Drahtes S. 2 gebildet werden, erreichen, daß der Kurzschlußstrom als Plasmastrom hinter dem Bügel zündet (Abb. 3). Dies vermeidet ein Festfressen des Gleitkontaktes, verhindert aber nicht eine zunehmende Korrosion der Schienen, die nach wenigen Schüssen (oft nach jedem Schuß) nachpoliert werden müssen.
  3. Je länger die Schienen sind, umso größer werden ihr elektrischer Widerstand und ihre Induktivität. Dies begrenzt bei vorgegebener Generatorspannung U die maximal mögliche Stromstärke und damit die beschleunigende Kraft. Als Lösungsmöglichkeit wurde vorgeschlagen, die Schienen in elektrisch voneinander isolierte Teilstrecken aufzuteilen, an die dann über Kondensatorentiadungen zum richtigen Zeitpunkt (wenn das Projektil den Beginn einer Teilstrecke erreicht hat) Spannungen angelegt werden (Abb. 5a). Auch hier hat man jedoch das Problem von Lichtbögen zwischen den Teilstrecken. Deshalb ist der Vorschlag einer Wanderwellenbeschleunigung sehr vielversprechend, wo an eine lange Schienenstrecke in definierten Abständen und synchron mit dem Vorbeiflug des Projektils elektrische Energie aus Kondensatoren eingespeist wird, so daß sich eine elektrische Wanderwelle entlang der Schiene ausbreitet, die immer am jeweiligen Ort des Projektils ein Maximum des Stromes und damit der beschleunigenden Kraft hat (Abb. 5b).
  4. Um eine Masse in 1 ms auf 10 km/s zu beschleunigen, muß die mittlere Beschleunigung 107 m/s2, also etwa 1 Million mal so groß wie die Erdbeschleunigung sein. Dies stellt hohe Anforderungen an die Festigkeit des zu beschleunigenden Materials, damit es während der Beschleunigung nicht zerreißt. Man hat bisher, soweit das aus der zugänglichen Literatur ersichtlich ist, mit Projektilen von wenigen Gramm (» 109) Endgeschwindigkeiten von 11 km/s erreicht. Als zerreißfestes Material wurde eine Tantal-Plastik-Kombination verwendet. Massen von 0,5 kg wurden bis auf 4 km/s beschleunigt.

Bei der Verwendung solcher „Railguns“ als Geschütze stellt die Zielgenauigkeit ein großes, bisher noch nicht völlig gelöstes Problem dar. Anders als bei Raketen lassen sich Richtung und Flugbahn des Geschosses nach dem Abschuß nicht mehr korrigieren. Beide werden aber nach dem Abschuß von der Erde aus massiv beeinflußt durch Luftreibung. Ein Geschoß mit einer Geschwindigkeit von 10 km/s, die groß gegen die thermischen Geschwindigkeiten der Luftmoleküle ist, erzeugt eine Stoßwelle, die zur Aufheizung und Plasmabildung im durchlaufenden „Luftschlauch“ führt. Die Aufheizung der Geschoßoberfläche führt zu teilweiser Verdampfung des Geschoßmaterials, wodurch sich die Reibungskräfte ändern. Nach den bisherigen Ergebnissen ist es sehr zweifelhaft, ob man mit solchen „Geschützen“ einen Satelliten oder eine Interkontinentalrakete mit genügender Sicherheit treffen kann. Auch der Vorschlag, solche Geschütze außerhalb der Erdatmosphäre in einer Umlaufbahn um die Erde zu stationieren, scheitert wohl am Gewicht von Railgun und Generator.

IV. Induktionsschleuder

Jede stromdurchflossene Spule erzeugt ein magnetisches Feld B. Werden zwei parallele benachbarte Spulen Sp1 und Sp2 gegensinnig von Strömen I1 und I2 durchflossen, so stoßen sich beide Spulen ab mit einer Kraft, die vom Produkt I1I2 und von der magnetischen Kopplung L12 zwischen beiden Spulen abhängt. Auf diesem Prinzip beruht die in Abb. 6 gezeigte Induktionsschleuder. Die Spule Sp1 wird über einen Schalter mit einem Energiespeicher (z.B. Kondensatorbank oder Homopolargenerator) verbunden. Beim Schließen des Schalters S1 steigt der Strom I1 an, das sich ändernde Magnetfeld B(t) erzeugt in der 2. Spule eine Induktionsspannung U, die zu einem Strom I2 durch die Spule 2 fuhrt, der entgegengerichtet ist zum Strom I1 und daher eine abstoßende Kraft zwischen den beiden Spulen erzeugt. Ist Spule 1 fest auf einem Eisenschaft montiert, Spule 2 aber beweglich, so wird Spule 2 fortgeschleudert.

Diese Anordnung hat den Vorteil, daß sie technisch einfach zu realisieren ist und keine Gleitkontakte hat. Das Verschmorungsproblem tritt daher nicht auf. Der Nachteil ist, daß die abstoßende Kraft mit wachsender Entfernung zwischen den Spulen abnimmt und daher die Beschleunigung nur über eine kurze Strecke wirksam ist. Die erreichte Endgeschwindigkeit ist deshalb viel kleiner als bei der „Railgun“. Man, kann jedoch beide Methoden kombinieren und die Induktionsschleuder als Vorbeschleuniger für die Railgun verwenden. Dann tritt das Projektil bereits mit großer Geschwindigkeit in die Railgun ein und das Kontaktverschmoren wird dadurch stark reduziert.

Es gibt inzwischen eine große Zahl verschiedener Varianten dieser beiden Grundprinzipien der elektromagnetischen Beschleunigung, die auf technisch unterschiedlichen Realisierungen von Railgun, Induktionsschleuder oder deren Kombination beruhen. In den USA wird wohl das Prinzip der Railgun bei den Entwicklungsarbeiten bevorzugt.

V. Anwendungen

Obwohl zukünftige militärische Anwendungen sicher ein wichtiges Ziel der Entwicklung elektromagnetischer Geschütze gewesen sind, muß man bei realistischer Einschätzung des bisher Erreichten doch sagen, daß der militärische Nutzen wohl sehr gering sein wird. Es gibt jedoch eine Reihe nichtmilitärischer Anwendungen, die z.B. für wissenschaftliche Grundlagenforschung von großem Interesse sind.

Schießt man ein Projektil mit der sehr großen Geschwindigkeit von 10 km/s auf feste Materie, entstehen beim Aufprall extrem hohe Drucke und Temperaturen, wie man sie mit anderen Methoden im Labor kaum erzeugen kann. Untersuchungen der Materie unter solchen extremen Bedingungen, wie sie in der Natur nur im Inneren von Sternen vorkommen, könnten unser Verständnis von „entarteter“ Materie sehr verbessern. Beim Aufprall entstehen Stoßwellen. Auch hier sind eine Reihe interessanter Probleme der Stoßwellenphysik experimentell lösbar, die für Festkörperphysiker, Plasmaphysiker, Geologen und Astrophysiker von Bedeutung sind.

Es gibt auch ernsthafte Vorschläge, die beim Aufprall erreichbaren hohen Dichten und Temperaturen zur Zündung kontrollierter Fusionsreaktionen in zukünftigen Wasserstoff-Fusions-Reaktoren einzusetzen. Man denkt an Beschleunigungsstrecken bis zu 1 km Länge, auf der Teilchen von unter 1 g auf Geschwindigkeiten von bis zu 200 km/s beschleunigt werden sollen. Ob sich dies jedoch realisieren läßt, ist noch ungewiß.

Man muß aber bedenken, daß die wesentlichen Probleme, welche das Erreichen sehr großer Geschwindigkeiten für große Massen bisher verhindert, mehr technischer oder finanzieller Natur sind, aber nicht durch prinzipielle physikalische Grenzen bedingt sind. Für friedliche Anwendungen im wissenschaftlichen Grundlagenbereich fallen auch Nachteile, wie langsame Schußfrequenz oder Zielgenauigkeit nicht ins Gewicht. Ob die elektromagnetische Beschleunigung für die Raumfahrt von technischer Bedeutung wird, ist noch völlig ungewiß. Es bleibt zu hoffen, daß die sicher kostspielige Weiterentwicklung eines an sich interessanten physikalischen Prinzips nur auf die friedliche Nutzung und nicht auf so abenteuerliche Pläne wie SDI hin ausgerichtet wird.

Literatur

(1) K. von Laar, H. U. Finzel: Elektromagnetische Beschleunigung von Projektilen (Wehrtechnik 3, 78 (1983))
(2) W. F. Weldon: Pulsed power packs a punch (IEEE Spectrum, März 1985)
(3) J. V. Parker: Electromagnetic Projectile Acceleration (J. Appl. Phys. 53, 6711 (1982))
(4) H. Kolm P. Mongeau: An alternative launching medium (IEEE Spectrum, April 1982, S. 30-36)

Wolfgang Demtröder ist Professor am Fachbereich Physik der Universität Kaiserslautern

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1987/1 1987-1, Seite