W&F 1992/3

Ende der Nachkriegszeit

von Johannes M. Becker

Unabhängig von der Demokratie-Posse um den Jäger 90 und um die mit viel Medienwirbel verkaufte Beschneidung des Einzelplans 14 um gerade einmal 2,5 Prozent geht die Diskussion um die Handlungsoptionen der Bundeswehr weiter. Die Kritiker des derzeit praktizierten Vollzugs der deutschen Einigung im Inland und – noch eindringlicher – im Ausland haben es vorausgesagt: Nun wird von den gesamtdeutschen Politikmachern auch in der Militär- und Sicherheitspolitik das Ende der Nachkriegszeit gefordert.

Der konservative Bonner Professor Jacobsen, Leiter der „Unabhängigen Kommission für die künftigen Aufgaben der Bundeswehr“, gab in seinem Bericht zum Jahresanfang bereits die Richtung an (FAZ vom 17.01.92).

Die FAZ ihrerseits bekräftigte die Auffassung der Jacobsen-Kommission, „daß Deutschland in seinen Bündnissen und in den Vereinten Nationen politisch und gegebenenfalls auch militärisch handlungsfähig bleiben müsse. Das Grundgesetz lege Deutschland hier keine Beschränkungen auf.“ Und weiter heißt es mit feiner Ironie: „Daß man in Bonn über Verfassungsänderungen streitet, hängt damit zusammen, daß die Beschränkungen deutscher Außenpolitik aus vier Nachkriegsjahrzehnten in den Köpfen der Politiker gewissermaßen Verfassungsrang bekamen.“ Die Bundesregierung und die konservativen Parteien werden gelobt; sie „haben sich nach schmerzhaften Lektionen aus dem stillen Winkel westdeutscher Provinz verabschiedet“.

Die „schmerzhaften Lektionen“ meinen die Schelte von seiten der US-Regierung und anderer westlicher Verbündeter für die Nichtteilnahme am als so glorreich verkauften letzten Golf-Krieg. Und provinziell verhält man sich, wenn man keine Truppen in den Krieg schickt. Die Leipziger Kommandeurstagung der Bundeswehr hat hier jüngst klare Worte gefunden. Von einem neuen Selbstbewußtsein der Soldaten war da fordernd die Rede, und daß man die Soldaten kriegsnaher ausbilden müsse.

Es reicht großen Teilen der Herrschenden nicht mehr aus, daß sich das reiche Deutschland auf andere als militärische Demonstrationen seines weltpolitischen Einflusses stützt. Die eigentlich geniale Lösung à la Kohl wird nicht mehr gewürdigt: das Kriegführen der anderen zu finanzieren – unter anderem geschmackvoll durch die Schenkung von Rüstungsgut der gerade eben mit genau den nichtkriegerischen westdeutschen Hegemonie-Mitteln zur Strecke gebrachten DDR.

Bei alledem wird hier leichtfertig vergessen, daß dieser letzte Golf-Krieg vor seinem Beginn durchaus als nicht völlig risikolos gelten konnte:

  • militärisch nicht, da hier bekanntlich namhafte Großunternehmen bis hin zum High-Tech-Konzern Daimler-Benz die Hände bei der Verbesserung u.a. der Scud-Rakete im Spiel hatten;
  • noch weniger ökologisch, da weiß man bis heute nicht recht, wem man glauben soll – den Beschwichtigern, die sagen, es sei noch einmal gut gegangen, oder den (zu befürchten: realistischeren) Ökologisten, die sagen, die Spätschäden seien unausweichlich;

Abgesehen davon hat die Kohlsche Variante immerhin der Friedensbewegung den Schneid genommen. Die Tatsache, daß die Bundeswehr nicht an den Kampfhandlungen in Irak und Kuweit beteiligt war, ist wesentlich verantwortlich dafür, daß sich heute auf Deutschlands Straßen fast nichts regt gegen den grausamen Krieg in Jugoslawien. Walter Jens' Schelte gegen die Friedensbewegung geschieht völlig zu Recht.

Zurück zur militärischen Handlungsfähigkeit. Was reitet die FAZ bei ihrem Kurs? Und warum pochen namhafte Teile der deutschen classe politique darauf, die vier Nachkriegsjahrzehnte hic et nunc enden zu lassen? Warum wird heute akzentuiert, was Helmut Schmidt als sozialdemokratischer Kanzler bereits in den 70er Jahren mit seiner Rede vom ökonomischen Riesen und politischen Zwerg und der unakzeptablen Schere zwischen beiden, wenngleich mehr als machtpolitische Utopie denn als konkrete Tagesaufgabe, anzumerken pflegte?

Mir fallen vier Gründe ein, die nicht unbedingt voneinander zu trennen sind.

  • Zum ersten will die herrschende Klasse die deutsche Vereinigung nutzen, um mit der Teilung, mit Besatzungsmächten und Rüstungsbeschränkungen, mit der verqueren Hauptstadtfrage etc. das Stigma Auschwitz abzulegen. Der deutsche Hegemoniedrang, der zwei grausame Kriege provozierte, soll vergessen gemacht werden. Dadurch wird nicht zuletzt das internationale Investitionsklima weiter verbessert. Deutschland, so der fromme Bonner Wunsch, fängt am 3. Oktober 1990 bei Null an. Warum von diesem Stigma befreit nicht mit dem militärischen Attributen einer ökonomischen Großmacht? lautet die logische Konsequenz. Was der Historikerstreit wohl doch nicht in seiner Gänze erreichte, wird nun auf's Neue angegangen.
  • Zum zweiten ist da der weltweite Abrüstungsdruck, der zwar bislang lediglich zu kleinen Makulaturen geführt hat, dessen Eigendynamik jedoch, gewinnen die eh unsicheren Kantonisten wie Dänemark, die Niederlande oder andere Staaten, gewinnen auch namhafte ausländische Industriekreise Spaß an einer grundlegenden Umleitung der Staatsressourcen und Spaß an der Rüstungskonversion, für die neuen bundesdeutschen Rüstungsgiganten bedrohlich werden kann. Man betrachte nur einmal den politischen Eiertanz des Gespanns Kohl/Stoltenberg-Rühe/Riesenhuber um das gigantomanische Investitionsgeschäft Jäger 90 oder um die bemannte/befraute Raumfahrt: hier handelt es sich um Lehrbeispiele von Lobbypolitik.
  • Drittens ist da die Option »Euro 93« zu berücksichtigen. Das politische Zusammenwachsen Europas nimmt Formen an. Sollte eine konservative Bundesregierung und ihr autorisierter Medienvertreter FAZ da Signale aus Paris, die französischen Atomwaffen könnten unter gewissen Umständen auch dem Schutz des neuen Europa dienen, mit Ignoranz begegnen. Schließlich ist auch der Wunsch der USA, sich aus Europa zurückzuziehen und die Rüstungslasten auf europäische Geldbeutel abzuwälzen, um ihrer neuen Rolle als unumstrittener Weltpolizist genügen zu können, nicht neu. Der jüngste Beschluß zum Aufbau eines „europäischen Korps“ mit deutsch-französischem Kern – eingeschlossen seine operativen Potenzen – bedeutet eine andere Qualität als seinerzeit der politische Versuchsballon deutsch-französische Brigade.
  • Schließlich, das wohl dringlichste politische Problem: die Akzeptanz der Bundeswehr ist an einem neuen Tiefpunkt angelangt. Nach den Erschütterungen der Phase der Friedensbewegung und des Aufstiegs der GRÜNEN Anfang der 80er Jahre hat die Auflösung des Feindbildes Sowjetunion/Sozialismus die Erosionen unübersehbar gemacht: nur noch zehn Prozent der deutschen Bevölkerung, so namhafte Forscher von der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg, akzeptierten die Armee in ihrer heutigen Gestalt. Die Akzeptanz der Streitkräfte hat im vergangenen Jahrzehnt um über 50 Prozent abgenommen; nicht zuletzt die eskalierenden Zahlen der Wehrdienstverweigerer (1991 über 150.000) dokumentieren dies.

„Bundeswehr ohne Auftrag“, wie es Ex-General Bastian im »Freitag« (5/92) formulierte, und das Ende der Nachkriegszeit lauten also die beiden kardinalen sicherheitspolitischen Problemfelder.

Das Bonner/Frankfurter Argument zu ihrer Lösung lautet: Verantwortung übernehmen! Die neugewonnene Identität als endlich vereintes Volk nicht weiter selbst beschneiden oder beschneiden lassen um einen wesentlichen Ausweis nationaler Souveränität – eben die weltweite militärische Handlungsfähigkeit.

Die Stimmung in der Bevölkerung ist, glaubt man dem Allensbacher Barometer vom Jahresbeginn (FAZ vom 15.1.92), nicht schlecht derzeit: Auf das Schmidtsche Amputationssyndrom angesprochen, erklärten sich 45 Prozent der westdeutschen Bevölkerung im Dezember 1991, daß „Deutschland auch eine Führungsrolle in Europa übernehmen solle“ – im Oktober 1990 hatte dieser Wert lediglich bei 30 Prozent gelegen. Die ostdeutsche Bevölkerung war im dem selben Zeitraum in ihrer Befürwortung nur von 28 auf 35 Prozent angestiegen; entweder sie plagt sich noch mit anderen Problemen herum, oder ihre großdeutsche Versuchung ist doch nicht so groß, wie es der terminus technicus »Hoyerswerda« vorschnell nahelegte. (Der Kanzler hätte die Allensbacher Frage übrigens anders formuliert: er hätte vom Erwartungsdruck der Weltöffentlichkeit und von der unausweichlichen Übernahme von Verantwortung gesprochen, nachdem die Welt Deutschland die Vereinigung »geschenkt« habe.)

Da sich aber die deutschen Jungmänner durch solche Argumente und Kalküle vermutlich nicht dazu bringen werden lassen, ihre Verweigerungsanträge zurückzuziehen, wird zum wiederholten Male der Testballon Berufs-/Freiwilligenarmee steigen gelassen. Durch die Ausschaltung der Allgemeinen Wehrpflicht, der zu Beginn des Jahrhunderts schon Jean Jaurès einen demokratisierenden Charakter zusprach, spekuliert man auf die Eliminierung von kritischen Stimmen der von möglichen Kriegseinsätzen Betroffenen. Für Zeit- und Berufssoldaten wäre derartiges halt deren »Job«! Und den zu hinterfragen, liegt nach dem geleisteten Eid nicht auf der Tagesordnung, wie nicht zuletzt der aktuelle Umgang von seiten der Hardthöhe mit kritischen Offizieren zeigt. In der Tat ließe sich mit einer derartigen Armee der militärpolitische Krähwinkel leichter verlassen.

Der eskalierende Balkan-Konflikt gibt der Bonner politischen Klasse nun erneut und ernsthafter Anlaß, die Tiefe des »Wehrwillens« in der gesamtdeutschen Bevölkerung zu testen. Die Debatte ist selbst für die/den eingeweihte/n BeobachterIn unübersichtlich – wie mag's da erst im Hirn des »normalen« Wählers spuken? Was aber unmittelbar zur Durchleuchtung der Debatte beitragen mag: es ist weithin keine soziale Bewegung auszumachen, die sich über wohlklingende Appelle an die Bestimmungen unseres Grundgesetzes hinaus Gedanken macht zum ersten über die Genese des jugoslawischen Konfliktes (und über seine Profiteure) und zum zweiten über andere als militärische Formen der Konfliktregelung auf dem Balkan. Wobei doch das Beispiel Irak-Kuwait viele Menschen gelehrt haben müßte, daß militärische Gewalt, selbst von der UNO abgesegnet, hierbei höchst ungeeignet ist.

Dr. habil. Johannes M. Becker ist Privatdozent und Friedensforscher an der Philipps-Universität Marburg und Gastdozent an der Humboldt-Universität zu Berlin.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1992/3 Zerbrochenes Europa, Seite