W&F 1990/1

Entmilitarisierung der DDR

von Studiengruppe Entmilitarisierung der Sicherheit (SES)

Auf Initiative der »Studiengruppe Entmilitarisierung der Sicherheit (SES)« fand am 27. März in der Militärpolitischen Hochschule in Berlin eine Konferenz zu dem Thema »Notwendigkeiten, Möglichkeiten, Bedingungen und Folgen einer Entmilitarisierung der DDR« statt. In der SES arbeiten Militärs, Politiker und Friedensforscher zusammen. Aufgerufen hatten auch der Wissenschaftliche Rat für Friedensforschung, die Unterzeichner des Appells `89 und die Initiativgruppe für Friedens- und Konfliktforschung (UIFK). In seinem Grundsatzreferat formulierte Kapitän zur See Dr. Siegfried Fischer die bisher erarbeiteten Positionen der SES und nannte offene Fragen.

Die SES geht davon aus, daß die militärischen Potentiale heute eine irreversible Zerstörung dessen, was geschützt werden soll, bewirken, und daher dysfunktional geworden sind. Zugleich sei eine wachsende Bedeutung nichtmilitärischer Faktoren für die Sicherheit und die Begrenztheit der Mittel, sie zu bewältigen, festzustellen. Daraus wird die Notwendigkeit abgeleitet, konsequent zum Primat nichtmilitärischer Denk- und Handlungsweisen überzugehen. Dieser Prozeß könne einseitig – unter internationaler Akzeptanz – begonnen werden.

In der DDR als ehemaligem »Frontstaat« ist die höchste militärische Konzentration im Rahmen des Warschauer Vertrages zu verzeichnen. Wenn das Militärische zusehends dsyfunktional wird, ist die Entmilitarisierung der DDR eine vordringliche Aufgabe. „Unter diesen Bedingungen hat die Nationale Volksarmee keine militärpolitische Funktion mehr, zumal durch die Beendigung des West-Ost-Konflikts kein militärischer Gegner mehr auszumachen ist, der abzuschrecken wäre“.

Sich besonders mit der Entmilitarisierung der DDR zu beschäftigen, sei aus weiteren Gründen geboten: Die DDR sei nach den Wahlen vom 18. März der einzige europäische Staat, dessen Existenz in Frage gestellt ist. „Der deutsche Vereinigungsprozeß ist eine europäische Realität geworden.“ Daher sei die Frage von grundsätzlicher Bedeutung, ob sich eine territoriale Verschiebung der Blockkonfrontation an die deutsch-polnische Grenze, ein neues europäisches Staatensystem auf NATO und EG-Basis mit außerordentlich starker Militärpräsenz oder eine neue, weitgehend entmilitarisierte Europäische Friedensordnung ergäbe. „Insofern ist es wichtig, welches militärische und sicherheitspolitische Erbe, die DDR in diesen Vereinigungsprozeß einbringt.“ Schließlich sei die in nahezu allen Ländern Europas festzustellende Legitimations- und Motivationskrise der Streitkräfte in der DDR längst in eine Existenzkrise der NVA hinübergewachsen. Alle bisher diskutierten Reformvarianten seien mit dem 18. März hinfällig geworden. „Eine Bevölkerung, die ihren Staat abwählt, wählt indirekt auch die Nationale Armee ab.“

Heute gäbe es folgende Optionen: Übernahme der NVA durch die Bundeswehr, oder die Schaffung eines neuen, deutschen Bundesheeres oder die stufenweise bzw. vollständige Auflösung der NVA.

Zur Entmilitarisierung der Streitkräfte führte Fischer aus:

Zwar habe die Abrüstung begonnen, aber noch halte deren Tempo nicht Schritt mit der allenthalben sich vollziehenden Modernisierung und Effektivierung der verbleibenden Gewaltpotentiale. Dadurch würden weiterhin Mittel für die Lösung der eigentlichen Menschheitsprobleme blockiert. Im Übergang zum nächsten Jahrtausend gehe es aber um »Abrüstung für Entwicklung«.

Die DDR habe angefangen, einseitig abzurüsten, aber die bisherigen Schritte seien eher symbolischer Natur gewesen. Zumindest fehle ein durchdachtes Gesamtkonzept. Hinsichtlich des radikalen Abbaus der Streitkräfte und der Schaffung neuer Europäischer Sicherheitsstrukturen gäbe es bislang einen Konsens unter den wählerstärksten Parteien der DDR. Noch bestünden allerdings Differenzen über den genauen Zeitplan und fehle ein Umsetzungsprogramm.

Im Februar hat der »Runde Tisch« neue militärpolitische Leitlinien angenommen, in denen auf Abrüstung und Vertrauensbildung und die schrittweise Auflösung der bisherigen Sicherheitsstrukturen orientiert wird. Zu Recht warf der NVA-Kapitän die Frage auf, ob diese »Harmonie« weiter Bestand habe. Schließlich halten maßgebliche politische Kräfte in der Bundesrepublik an der Abschreckungskonzeption fest; wird es nicht ein Umschwenken der konservativen Mehrheit in der DDR-Volkskammer geben?

Die SES hat vor diesem Hintergrund zwei grundsätzliche Forderungen entwickelt: Durchführung eines Volksentscheids über die Einleitung des Entmilitarisierungsprozesses und die Schaffung eines Amtes für Abrüstung und Rüstungskonversion bei der Regierung der DDR.

Diese Behörde soll rasch mit der Erarbeitung eines Programms und der Umsetzung befasst werden. Bestandteile eines solchen Programms müssten sein:

  1. Einstellung, Ablösung und Umstellung aller militärischen Beschaffungs- und Ausbildungsprogramme
  2. schrittweise Auflösung des Ministeriums f. Nationale Verteidigung und der NVA bei konkreter Bestimmung ihrer Übergangsfunktion
  3. die ökologisch verträgliche und wirtschaftlich effektive Vernichtung von Waffen, Munition und Kampftechnik, sowie die Umrüstung militärischer Sicherungstechnik auf zivile Nutzung
  4. die territorial zweckmäßige Umstellung militärischer Objekte in Produktions- Dienstleistungs- und Kultureinrichtungen.
  5. die Aufhebung der Wehrpflicht und der Abschluß zeitlich befristeter Dienstverträge mit Berufssoldaten bis zur Demobilisierung.
  6. die Einstellung der Offiziers- und Unteroffiziersausbildung, sozial gesicherte Umschulung auf zivilen Einsatz.“

Die SES hat dem »Runden Tisch« beim Ministerium für Nat.Verteidigung ihre Vorschläge unterbreitet; der zentrale Runde Tisch beschloß am 26.2.90 die Schaffung eines Amtes für Abrüstung und Konversion. Diese Überlegung wurde von der Modrow-Regierung übernommen, aber die konkrete Verwirklichung des Projekts lässt noch auf sich warten. Wird die neue Regierung diese Sache angehen?

Fischer setzte sich auch mit Vorbehalten auseinander, die einer totalen Entmilitarisierung der DDR im Wege stehen könnten. Da gibt es noch immer das traditionelle »Stabilitätsdenken«. Zu dieser Konzeption gehören Streitkräfte und Militärbündnisse. Fischer verwies auf die großen »Stabilitätsreserven« unter den Bedingungen aufgeblähter Militärpotentiale einerseits und ihrer vorangaloppierenden Dysfunktionalität andererseits. Wie ist es mit der »Bündnisverträglichkeit« der angestrebten Lösungen bestellt? Nach Fischer garantiert nur ein entmilitarisierter Status des DDR-Territoriums eine einvernehmliche Regelung zwischen den beiden Militärbündnissen. Nur so würde von einer Reihe europäischer Länder eine etwaige NATO-Mitgliedschaft Deutschlands akzeptiert werden. Schließlich gehe es nicht um einen »deutschen Sonderweg«. Militärische Neutralisierung sei nicht gleichbedeutend mit politischer Neutralisierung. Und der länger andauernde Entmilitarisierungsprozeß müsse ja völkerrechtlich abgesichert und international kontrolliert werden. So könne die Beseitigung des Militärs auf dem DDR-Gebiet einen wichtigen Anfang für neue blockübergreifende Sicherheitsstrukturen und die Europäische Einigung bilden.

Bericht von Paul Schäfer

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1990/1 1990-1, Seite