W&F 2017/3

Erdogans Reichstagsbrand

von Jürgen Nieth

„Hat es in der Türkei am 15. Juli 2016 einen Putsch gegen die Staatsführung gegeben? Ja, den gab es wohl – so wie es am 27. Februar 1933 in Berlin einen Brandanschlag auf den Reichstag gab […] [Dieser] war willkommenes Vehikel zur Etablierung der Nazi-Barbarei. Sehr Ähnliches hat sich in den abgelaufenen zwölf Monaten in der Türkei abgespielt. Nach einem Umsturzversuch, dessen Dilletantismus im Nachhinein viele Fragen aufwirft, folgten Ausnahmezustand, die Entmachtung des Parlaments, die Entlassung und/oder Verhaftung Hunderttausender, schlicht: Terror.“ (Roland Etzel, ND, 17.7.17., S. 1)

Staatsterror

Die Bilanz, die in der deutschen Presse ein Jahr nach dem Putschversuch gezogen wird, ist übereinstimmend kritisch. Kein Wunder, denn die Handlungen Erdogans und seiner Getreuen sprechen für sich: „Nach offiziellen Angaben sind bislang 50.510 Menschen verhaftet worden […] Gegen insgesamt 169.013 Menschen laufen Ermittlungsverfahren, knapp 150.000 Menschen sind aus dem öffentlichen Dienst entlassen worden. Über die Hälfte davon sind Lehrer, Dozenten und Professoren. Rund 150 Journalisten […] sitzen im Gefängnis, über hundert Zeitungen, TV-Sender und Radios wurden geschlossen oder aus dem Äther verbannt.“ (Jürgen Gottschlich, taz, 17.7.17., S. 3)

Andere Presseorgane nehmen Details der Verfolgungen unter die Lupe: „Bis heute wurden 4.424 Richter und Staatsanwälte suspendiert, 2.584 inhaftiert, 680 sind in Einzelhaft. Rund ein Viertel der staatlichen Justiz wurde ausgeschaltet.“ (Frank Nordhausen, BZ, 15.7.17., S. 3) „563 Mütter [sind gezwungen] […] mit ihren Säuglingen und Kindern gemeinsam die Haft zu verbringen.“ (Cüneyt Dinc, Freitag, 27.7.17., S. 8). „Ein Dutzend Universitäten und über tausend Privatschulen wurden geschlossen. Die Regierung zog die Pässe von mehreren zehntausend Menschen ein […] Fast tausend Unternehmen mit einem Gesamtumsatz von fast 20 Milliarden Dollar, deren Inhaber als Gülen-Anhänger galten, wurden verstaatlicht.“ (Markus Bernath und Susanne Güsten im Tagesspiegel, 15.7.17., S. 2) „Die Listen der jeweils neuesten Entlassungen erscheinen meist nach Mitternacht im »Resmi Gazete«, dem offiziellen Organ der Regierung […] Fieberhaft suchen Hunderttausende Türken dann nachts in den neuen Listen ihre Namen. Wenn sie ihn finden, wissen sie, dass vielleicht schon im Morgengrauen die Polizei kommen wird. Selbst wenn man sie nicht verhaftet, wird ihnen niemand mehr einen Job geben, verlieren sie ihre Krankenversicherung, werden […] ihre Kinder in der Schule gemobbt.“ (Boris Kálnoky, WaS, 16.7.17, S. 2) „Ein Abgeordneter der republikanischen Volkspartei und elf Mandatsträger der Demokratischen Partei der Völker (HDP) befinden sich seit Monaten im Gefängnis, darunter die beiden Ko-Vorsitzenden der HDP […] Außerdem wurden 74 Bürgermeister der HDP inhaftiert. Für 89 Kommunen, vor allem im kurdischen Südosten, wurde von der Regierung ein Treuhänder statt des gewählten Bürgermeisters eingesetzt.“ (Jan Keetmann, ND, 21.7.17., S. 5)

Der angekündigte Putsch

„Bereits wenige Tage nach dem Putsch sprach Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu von einem »kontrollierten Putsch«, was bedeutet, Erdogan habe zwar den Putschversuch gegen sich nicht selbst geplant, er habe jedoch die Kontrolle über ihn gehabt. Eine neue Chronologie der Ereignisse […] stützt diese These […] [sie zeigt], dass Erdogans Leute die Putschisten infiltriert hatten und über die Abläufe im Bilde waren.“ (Rainer Hermann, FAZ, 15.7.17., S. 8) Hermann zeigt auf, dass der pensionierte Oberst Attila Ugur bereits am 14. Juli in der regierungsnahen Zeitung »Yeni Safak« von einem bevorstehenden Putsch gesprochen habe. In der SZ (15.7.17., S. 2) verweist Christiane Schlötzer darauf, dass der „Geheimdienst (MIT) am 15. Juli bereits um 14,30 Uhr von einem Hubschrauberpiloten über einen unmittelbar bevorstehenden Staatsstreich informiert [wurde] – sieben Stunden bevor Panzer auf die Bosporusbrücke rollten.“ Gleich mehrere Zeitungen weisen darauf hin, das Erdogan selbst noch in der Nacht des Aufstandes von dem Putschversuch als einem „Geschenk Gottes, das es ermöglicht, die Armee zu säubern“ gesprochen habe, dass die Listen für zehntausende Verhaftungen vorbereitet waren und dass innerhalb von 48 Stunden 50.000 Menschen festgenommen wurden.

Erdogans Machtdemonstration

Am 15. Juli 2016 wehrten die Türken gemeinsam den Staatsstreich ab, waren Regierungs- und Oppositionspolitiker gemeinsam im Parlament Angriffen ausgesetzt. Am Jahrestag des Putsches erlebte die Türkei eine riesige Machtdemonstration Erdogans: „Sämtliche Reklametafeln waren mit Plakaten gepflastert, die Erdogans Palast gestaltet hatte, von den Minaretten erklang Sela, der Ruf zum Totengebet. Sogar auf unseren Mobiltelefonen waren Botschaften, die den Putschversuch verdammten: Wenn wir am 15. Juli 2017 eine Nummer wählten und sei es die Notrufnummer 112, dann erklang zunächst die von Erdogan persönlich eingesprochene Botschaft zum 15. Juli. Erst danach konnte man einen Krankenwagen anfordern […] Die Opposition blieb [bei den Feierlichkeiten] außen vor […] Bei der Parlamentszeremonie wurde der Opposition kein Rederecht gewährt.“ (Bülent Mumay, FAZ, 20.7.17, S. 14)

Es redete Erdogan. Er „kündigt in Istanbul unter Applaus des Publikums an, die Wiedereinführung der Todesstrafe voranzutreiben. Er schlägt vor, mutmaßliche Putschisten vor Gericht in orange Overalls zu stecken wie die Häftlinge in Guantanamo. Er ruft: »Wir werden den Verrätern den Kopf abreißen«.“ (Spiegel Nr. 30/2017, S. 27)

Fazit

Daniel Steinvorth zieht in der NZZ die Bilanz: „Währte der Putschversuch nur eine Nacht, so währt der Putsch nach dem Putsch bereits ein Jahr.“ (15.7.17., S. 12) Doch erst nach den Festnahmen des deutschen Menschenrechtlers Peter Steudtner hat der deutsche Außenminister eine »Neuausrichtung« der deutschen Türkeipolitik gefordert. Von Taten ist außer einer Reisewarnung bisher allerdings nichts zu sehen.

Zitierte Zeitungen: BZ – Berliner Zeitung, Der Spiegel, Der Tagesspiegel, FAZ – Frankfurter Allgemeine, Freitag, ND – neues deutschland, NZZ – Neue Zürcher Zeitung, SZ – Süddeutsche Zeitung, taz – die tageszeitung, WaS – Welt am Sonntag.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2017/3 Ressourcen des Friedens, Seite 4