W&F 2020/2

Erosion der UN-Charta

von Andreas Zumach

Wir, die Völker der Vereinten Nationen – fest entschlossen, künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat, […]

Mit diesem friedenspolitischen Bekenntnis beginnt die Präambel der Gründungscharta der Vereinten Nationen (United Nations, UN). Die Charta wurde nach achtwöchigen Verhandlungen im Opernhaus von San Francisco am 26. Juni 1945 verabschiedet von Delegierten aus 50 Staaten, die rund 80 Prozent der damaligen Weltbevölkerung repräsentierten. Vor Inkrafttreten der Charta am 24. Oktober 1945 kam als 51. Gründungsmitglied noch Polen hinzu.

Zur konkreten Umsetzung dieses friedenspolitischen Bekenntnisses wurden erstmals in der Geschichte des Völkerrechts das Verbot zwischenstaatlicher Gewalt (Art. 2,4) – mit Ausnahme der Selbstverteidigung gegen einen militärischen Angriff (Art. 51) – sowie Entscheidungsstrukturen, Regeln und Institutionen für kollektive Maßnahmen zur Bewahrung und Wiederherstellung des Friedens und der internationalen Sicherheit vereinbart (Art. 39-50).

Gemessen an dem Anspruch, „künftige Generationen vor der Geißel des Krieges zu bewahren“, sind die UN – oder besser: sind ihre inzwischen 193 Mitgliedstaaten – gescheitert. Fast 280 bewaffnete Konflikte fanden in den letzten 75 Jahren statt, oftmals verbunden mit Völkermord und anderen schweren Menschenrechtsverletzungen.

Doch ohne die UN und ihre Bemühungen zur Beilegung gewaltsamer Auseinandersetzungen hätten viele dieser Konflikte noch länger gedauert, noch mehr Tote und Verwundete gefordert und noch mehr Zerstörungen hinterlassen. Ohne die UN wäre es wahrscheinlich zu einem dritten Weltkrieg gekommen, möglicherweise sogar unter Einsatz atomarer Waffen. Zahlreiche Situationen, in denen die Welt sehr kurz vor dem Abgrund eines atomaren Krieges stand, wie im Oktober 1962 während der Krise um die sowjetischen Atomraketen auf Kuba, wurden im UN-Sicherheitsrat entschärft. Und ohne die UN und ihre humanitären Unterorganisationen wären in den letzten 70 Jahren Hunderte Millionen Opfer von Naturkatastrophen, Hungersnöten und gewaltsamen Vertreibungen nicht versorgt worden. Schließlich boten die UN den Rahmen für die Vereinbarung zahlreicher internationaler Normen, Regeln und Verträge zu Rüstungskontrolle und Abrüstung, Menschenrechten, Umweltschutz, Sozialstandards sowie zahlreichen anderen Themen. Diese Vereinbarungen haben die Erde zwar nicht in ein Paradies verwandelt, sie trugen aber immerhin dazu bei, die Lebensbedingungen für viele der inzwischen über sieben Milliarden Erdbewohner*innen zu verbessern. All das ist auch von friedenspolitischer Bedeutung.

Zu den friedenspolitischen Defiziten gehört, dass einige der in Art. 39-50 der UN-Charta (Kapitel VII, Maßnahmen bei Bedrohung oder Bruch des Friedens und bei Angriffshandlungen) vorgesehenen Strukturen, Maßnahmen und Institutionen nie realisiert wurden. Die Verantwortung dafür tragen in erster Linie die fünf ständigen Mitglieder (und Vetomächte) des Sicherheitsrats.

Darüber hinaus wird seit dem Ende des Kalten Krieges von vielen Staaten das zwischenstaatliche Gewaltverbot (Art. 2,4) ausgehöhlt, indem sie das Recht zur Selbstverteidigung (Art. 51) immer stärker ausweiten.

In den 1990er Jahren reklamierte zunächst die NATO in ihrer neuen Strategie das »Recht« auf weltweite militärische Intervention, gegebenenfalls auch ohne Mandat des Sicherheitsrates. Seit den »Verteidigungspolitischen Richtlinien« von 1992 macht auch die deutsche Bundesregierung Auslandseinsätze nicht mehr von einem Mandat des UN-Sicherheitsrates abhängig. 1999 markierte der völkerrechtswidrige Luftkrieg der NATO gegen Serbien/Montenegro einen gravierenden Bruch. Dieser Krieg und die nach dem Sieg der NATO durchgesetzte Abspaltung des Kosovo von Serbien schufen einen Präzedenzfall, auf den sich seitdem andere Völkerrechtsbrecher, wie Russland im Krimkonflikt, berufen.

Nach den Terroranschlägen vom 11.9.2001 wurde das Recht zur Selbstverteidigung von der US-Administration bemüht, um im »Krieg gegen den Terror« militärische Interventionen, Folter und Drohnenmorde zu rechtfertigen. Inzwischen sind andere Länder dem schlechten Vorbild gefolgt; aktuelles Beispiel ist die völkerrechtswidrige Besatzung der Türkei in Syrien.

Wie machtlos die UN häufig sind, zeigt der verzweifelte Appell von Generalsekretär Guterres, die Waffen mögen doch wenigstens während der aktuellen Coronapandemie ruhen. Bleibt mehr Hoffnung als die, dass uns die Regierungen, die für die Erosion der friedenspolitischen Normen des Völkerrechts verantwortlich sind, wenigstens mit verlogenen Reden zum 75. Geburtstag der UN-Charta verschonen?

Andreas Zumach ist Journalist und lebt in Berlin.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2020/2 Frieden begreifen, Seite 5