Erwartungen. Was eine neue Bundesregierung tun könnte
von Jürgen Altmann
In den letzten Jahren beobachten wir eine gefährliche Aufrüstungswelle. Seit Amtsantritt Präsident Reagans haben die USA ihre Militärausgaben verdoppelt: ein völliger Zusammenbruch der Rüstungskontrollverträge droht. Die Bundesregierung hat sich zwar in Worten zur Rüstungsbegrenzung bekannt, tatsächlich aber hat sie die USA-Politik unterstützt. Mehr noch, sie ist ein eigenständiger Motor der Aufrüstung gewesen. Die sichtbarsten Zeichen davon sind die Stationierung von Pershing II und Marschflugkörpern sowie der SDI-Kooperationsvertrag, aber in vielen anderen Bereichen gilt dasselbe. Die nächsten Aufrüstungsschübe wie Air-Land-Battle/Follow-on-Forces-Attack oder eine westeuropäische Raketenabwehrinitiative sind im Gang bzw. werden vorbereitet. Kleine Lichtblicke wie der erfolgreiche Abschluß der Konferenz für vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen und Abrüstung in Europa oder das Zustandekommen eines (Vor-)Gipfels ändern noch nichts an der grundsätzlichen Richtung der internationalen Politik.
Was könnte und sollte eine neue Bundesregierung tun, um dieser Grundrichtung eine Wende zu geben, eine Regierung, die sich ernsthaft an den Zielen: Erhaltung der Rüstungskontrollverträge, strategische Stabilität, „Frieden schaffen mit weniger Waffen“ orientieren würde? Im folgenden möchte ich einige Aspekte aus der Sicht eines um den Frieden besorgten Naturwissenschaftlers darstellten.
Vollständiger Stopp von Kernwaffentests
Geophysiker weisen seit Jahren nach, daß unterirdische Atomtests sicher von Erdbeben unterschieden werden können. Die jetzige Bundesregierung hat im Genfer Abrüstungsausschuß (Conference on Disarmament, CD) den Aufbau eines weltweiten Meßsystems vorgeschlagen, das im Verlauf von zehn Jahren die Nachweisschwelle auf 1 Kilotonne TNT (Hiroshima: ca. 15 kt) senken soll. Kerntests könnten aber von heute auf morgen gestoppt werden, wenn die USA sich dem Moratorium der UdSSR anschließen würden. Eventuelle Verstöße könnten mit Meßgeräten in der Nähe der jeweiligen Testgebiete festgestellt werden, wie die Vereinbarung zwischen dem Natural Resources Defense Council, USA, und der Akademie der Wissenschaften der USA zeigt (seit August 1986 laufen solche Messungen in der UdSSR, in den USA sollen sie folgen). Eine neue Bundesregierung könnte öffentlich erklären, daß ein vollständiger Teststop sofort möglich ist; sie könnte intern wie auch öffentlich auf die US-Regierung einwirken, damit diese ihre Position ändert. (Das würde im US-Kongreß auf starke Unterstützung treffen.) Sie könnte in den internationalen Gremien (der UN-Generalversammlung der Abrüstungskonferenz in Genf) konkrete Vertragsvorschläge statt allgemeiner Absichtserklärungen einbringen.
Verbot von Weltraumwaffen
Die bisherige Bundesregierung bekennt sich in Worten zum Ziel, ein Wettrüsten im Weltraum zu verhindern. Gleichzeitig unterstützt sie aber das SDI-Projekt der USA, das den Aufbau von Weltraumwaffen zum Ziel hat und das den Vertrag zur Begrenzung von Raketenabwehrsystemen, den ABM-Vertrag von 1972, nicht erst bei Stationierung, sondern schon bei Entwicklung und Erprobung verletzen würde. Eine neue Bundesregierung könnte auf verschiedene Weise versuchen, die USA von ihrer bisherigen Position abzubringen, nach der eine Einschränkung der Forschung und Entwicklung von Weltraumwaffen nicht verhandelbar ist. Sie könnte öffentlich erklären, daß Weltraumwaffen Atomwaffen nicht abschaffen werden, daß sie nicht rein defensiv sind und daß sie die strategische Lage destabilisieren werden. Die Bundesregierung könnte das SDI-Zusammenarbeitsabkommen kündigen (das ja, wie inzwischen jeder nachlesen konnte, in keiner Weise Gleichbehandlung, für Technologie usw. sichert). In den internationalen Gremien könnte sie den Vertragsvorschlag des Göttinger Naturwissenschaftlerkongresses von 1984 zum umfassenden Verbot von Weltraumwaffen einbringen. Die Bundesregierung könnte sich für den Aufbau einer blockübergreifenden Satellitenagentur zur Überwachung eines Weltraumwaffenverbots einsetzen. Die Beteiligung an der US-Weltraumstation Columbus könnte zurückgezogen werden, solange die USA nicht verbindlich erklären, daß diese nicht militärisch genutzt wird.
Abbau nuklearer Mittelstreckenwaffen
Die Bundesregierung hat sich in Westeuropa zum Vorreiter gemacht bei der Stationierung hochzielgenauer neuer Mittelstreckenwaffen (Marschflugkörper und Pershing II, letztere mit sehr kurzer Flugzeit). Die UdSSR hat sich bereit erklärt, ihre auf Westeuropa gerichteten SS 20 Raketen zu verschrotten und die als Antwort zusätzlich in der DDR und der CSSR stationierten Kurzstreckenraketen zurückzuziehen. Die Bundesregierung könnte die Zustimmung zur Stationierung von Pershing II und Marschflugkörpern zurückziehen und die USA auffordern, sie abzuziehen. Die Bundesregierung könnte auf die westeuropäischen Atommächte Großbritannien und Frankreich einwirken mit dem Ziel, daß diese ihr Nuklearpotential nicht ausbauen und konstruktiv bei einer ganz Europa umfassenden Reduzierung mitwirken.
Kein Euro-SDI, keine neuen Kurzstreckenraketen
Die nächste europäische Aufrüstungsrunde wird, wenn die jetzt begonnenen Entwicklungen nicht umgekehrt werden, durch den Aufbau von Raketenabwehrsystemen („europäische Verteidigungsinitiative, erweiterte Luftabwehr“) bestimmt sein. Gleichzeitig werden neue Kurz- und Mittelstreckenraketen aufgestellt werden, die die Abwehrsysteme der anderen Seite durchdringen können (und die speziell die gegnerischen Raketen frühzeitig, noch in deren Startgeräten zerschlagen können). Eine neue Bundesregierung könnte diese Projekte stoppen und stattdessen den Abbau von Kurzstreckenraketen auf beiden Seiten anstreben – dann braucht man sie weder im Flug abzuwehren, noch gibt es Zwänge, sie präemptiv auszuschalten. Ein erster Schritt könnte die Vereinbarung einer von atomaren Gefechtsfeldwaffen freien Zone von je 150 km Breite längs der Grenzen zur DDR und CSSR sein, wie es die Palme-Kommission vorgeschlagen hat.
Weitere Möglichkeiten
Eine neue Bundesregierung könnte mit der DDR und der CSSR eine chemiewaffenfreie Zone vereinbaren, etwa so, wie es die SPD mit der SED und der KPC schon getan hat. Sie könnte die Zustimmung zur Stationierung von Binärwaffen verweigern und somit, einer Bedingung des US-Kongresses folgend, deren Produktion in den USA verhindern. Offensive Strategiekonzepte wie Air-Land-Battle, Follow-on-Forces-Attack, Rogers-Plan könnten zurückgewiesen werden. Die Mittel für militärische Forschung und Entwicklung könnten reduziert werden. Wer ein bißchen mehr nachdenkt, kommt sicher noch auf weitere gute Ideen. Gute Ideen sind auch nötig, um eine Reihe komplizierterer Fragen zu lösen, wie die konventionelle Rüstung in Europa beiderseitig reduziert und gleichzeitig die Stabilität in einer Krise verbessert werden kann.
Bei allen solchen Aktivitäten, die eine größere Umorientierung der Politik unseres Landes bedeuten würden, könnte sich die Bundesregierung auf verschiedene Partner stützen. Im Innern gibt es einerseits die Friedensbewegung, andererseits stößt der US-Konfrontationskurs auch bei NATO-Befürwortern auf Widerspruch. In Westeuropa gibt es einige Länder, die der Stationierung der neuen Mittelstreckenwaffen nur zögernd, unter Druck auch durch die Bundesregierung gefolgt sind; viele haben sich gegen eine SDI-Kooperation ausgesprochen. Die Staaten der Warschauer Vertragsorganisation haben eine ganze Reihe guter Vorschläge gemacht, das Atomtestmoratorium der UdSSR ist eine beachtliche einseitige Vorleistung. Auch in den USA selbst wächst der Einfluß derjenigen, die für die Beibehaltung der Rüstungsbegrenzungsverträge, für einen vollständigen Teststop und gegen die Aufrüstung im Weltraum sind. Die Bundesrepublik hat einen großen politischen Spielraum, sie könnte für die Umkehrung des jetzigen Trends, weg von Aufrüstung und Konfrontation, hin zu Entspannung und Abrüstung, eine Schlüsselrolle spielen.
Können wir das erreichen? Ja, wenn im Vorfeld der Bundestagswahlen (und darüberhinaus) ein politisches Klima entsteht, in dem Frieden eine zentrale Frage ist. Der Naturwissenschaftler-Kongreß „Wege aus dem Wettrüsten“ wird mit seinen „Hamburger Abrüstungsvorschlägen“ wichtige Argumente liefern. Wir Naturwissenschaftler sind herausgefordert, in der von den berufsbezogenen Friedensinitiativen getragenen Aktion „Abrüstung wählen“ unseren Sachverstand und unser Verantwortungsbewußtsein an allen Orten einzubringen.
Dr. J. Altmann, Physiker, Mitglied im Vorstand des Forums Naturwissenschaftler für Frieden und Abrüstung