W&F 1994/1

Es gibt keinen »gerechten« Krieg und hat ihn nie gegeben

von Karlheinz Koppe

Die überwältigende Mehrheit der Menschen hat seit alten Zeiten im Krieg eine grausame Geissel gesehen – und doch gibt es den Krieg. Dieser Widerspruch hat naturgemäß immer wieder Menschen veranlaßt, über den Krieg nachzudenken und nach Erklärungen zu suchen. Eine der ersten Gewalttaten, die Ermordung Abels durch seinen Bruder Kain, den Ackerbauern, läßt keinen Zweifel an der Antwort: Es ist das Böse, die Sünde, die den Menschen zur Gewalt verführt und damit zum Krieg. Wie aber ist es um jene bestellt, die sich gegen Gewalt wehren? Sind nicht sie im Recht, wenn sie ihrerseits Krieg führen?

Die Problematik des »gerechten Krieges« ist so alt wie der Krieg selbst. In der Gedankenwelt der alten Griechen, die noch keine ausgeprägte Vorstellung von »Böse« und »Sünde« hatten, waren Gewalt, Kampf und Krieg unter Menschen das Spiegelbild ihrer Götterwelt. Das erlaubte ihnen, auch ihrerseits in Gewalt, Kampf und Krieg etwas alltägliches zu sehen. Der „Streit ist der Vater aller Dinge“ hatte Heraklit formuliert, damit zwar nicht unbedingt den Krieg gemeint, wie in der irrigen Übersetzung „Der Krieg ist der Vater aller Dinge“ zum Ausdruck kommt, die vor allem im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert einer heroisierenden Geschichtsschreibung Vorschub leistete, sondern jede Form von Auseinandersetzung (»Konflikt« sagen wir heute). Doch schon Thukydides hatte Zweifel daran, ob das Kriegsgeschehen so einfach auf den Götterwillen oder auf Göttereinwirken geschoben werden könne. Er sah vielmehr die Ursachen des Krieges eindeutig in Furcht, Gier und Ehrgeiz von Menschen und hütete sich vor jeder einseitigen Schuldzuweisung. Er kommt zu dem Urteil, daß angesichts der herrschenden Unvernunft der Krieg unvermeidlich war.

Für die Römer, vor allem für Cicero, war der Krieg schlicht ein zweckrationales und opportunistisches Mittel zum Vorteil des Staates. Nicht die Gerechtigkeit stand im Vordergrund, sondern das Recht des Staates, über Krieg und Frieden zu entscheiden. Das spätere ius ad bellum, das Recht auf Kriegführung, war damit vorgedacht.

Das frühe Christentum hatte den Krieg in Auslegung des Evangeliums als Botschaft der Gewaltlosigkeit eindeutig geächtet. Christen, die in den Soldatendienst traten, wurden exkommuniziert. Das änderte sich schlagartig, als 313 das Christentum von Kaiser Konstantin anerkannt (Edikt von Mailand) und gegen Ende des 4. Jahrhunderts von Kaiser Theodosius zur Staatsreligion erhoben wurde. Konnte die Kirche unter diesen Umständen noch den Krieg so eindeutig ächten und Christen den Soldatendienst verbieten? Denn die Mächtigen erwarteten, daß die Kirche ihren Segen gebe. Die dafür geeignete theologische Begründung formulierte der Bischof von Hippo, Augustinus, eben mit dem Begriff des »gerechten« Krieges, der freilich sehr dehnbar war.

Kriterien des »gerechten« Krieges

Andererseits hat Augustinus den Begriff des bellum iustum offensichtlich eher in der Absicht geprägt, den Krieg einzudämmen und zu verhindern als zu rechtfertigen, denn die Kriterien, die er zu diesem Zwecke entwickelte, sind derart angelegt, daß es den »gerechten« Krieg eigentlich nicht geben kann. So mußte zunächst eine causa iusta, ein gerechter Grund, für einen Krieg erkennbar sein: Das bedeutete, daß eine der Kriegsparteien eindeutig und allein im Unrecht und damit »schuldig« war. Weiter mußte eine recta intentio, also die richtige Absicht, mit dem Krieg verbunden sein: Das anzustrebende Wohl des Staates mußte das in Kauf zu nehmende Übel des Krieges und seiner Folgen übersteigen. In diesem Kriterium liegt das begründet, was wir heute die »Verhältnismäßigkeit« der Kriegführung und der eingesetzen Mittel nennen. Schließlich durfte der Krieg nur von einer von Gott eingesetzten legitima potestas, also von einer befugten Obrigkeit, geführt werden. Mit anderen Worten hieß das: Nicht auf Eroberung, Rache oder Bestrafung durfte ein Krieg gerichtet sein, sondern ausschließlich auf die Herstellung von Frieden. Augustinus war es auch, der frühzeitig den inneren Zusammenhang von Frieden und Gerechtigkeit erkannte: pax iustitiae opera – der Frieden ist das Werk der Gerechtigkeit.

Augustinus erkannte aber, wie schlecht es mit dem gerechten Grund, der richtigen Absicht und der legitimen Obrigkeit seiner und aller Zeiten bestellt war, denn – so formuliert er – »was anders sind also Reiche, wenn ihnen die Gerechtigkeit fehlt, als große Räuberbanden?“ Er hat sicher auch gewußt, wie schwierig es war, eine einseitige und eindeutige Schuld festzustellen. Und die rechte Absicht ist nur selten, wenn überhaupt beachtet worden. Dennoch konnten Papst und Bischöfe mit der Lehre vom »gerechten Krieg« seither Soldaten zumuten, ihrer Obrigkeit gehorsam zu sein und in den Krieg zu ziehen, zugleich aber die Obrigkeiten jederzeit bezichtigen, zu Unrecht Krieg zu führen. Der Keim zur Pervertierung des Denkens war damit gelegt: zeitweise erklärte sich die Kirche selbst zur Obrigkeit und führte Krieg, doch schließlich obsiegte die weltliche Obrigkeit (im 19. Jahrhundert der Nationalstaat) und übernahm vom bellum iustum nur das, was alle Obrigkeiten wirklich interessierte: das ius ad bellum, das Recht auf Krieg. In diesem Verständnis wurden von der Kirche die Kreuzzüge ebenso gerechtfertigt wie der Dienst des Soldaten unter eindeutig ungerechten Obrigkeiten, sofern er selbst fest im Glauben steht. Das führte dann im Zweiten Weltkrieg dazu, daß selbst katholische Deserteure von der Kirche verurteilt wurden sowie deutsche Bischöfe und Pfarrer auch Hitlers Krieg noch als »gerecht« preisen konnten.

Franziskus Maria Stratmann, ein überzeugter katholischer Pazifist, hat aus der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Literatur über den bellum iustum zehn Kriterien, zum Teil unter Wiederholung von Originalpassagen bei Augustinus, herausgearbeitet und aus der Sicht der zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts kommentiert:

„1. schweres Unrecht auf Seiten einer und nur einer der beiden streitenden Parteien;

2. schwere moralische Schuld auf einer der beiden Seiten. Bloß materielles Unrecht genügt nicht;

3. zweifelsfreie Nachweisbarkeit dieser Schuld;

4. Unvermeidbarkeit der kriegerischen Auseinandersetzung nach Fehlschlagen aller mit ganzem Ernst und ganzer Kraft unternommenen Verständigungsversuche;

5. Proportion zwischen Schuld und Strafmittel. Ein das Maß der Schuld überschreitendes Strafmaß ist ungerecht und unerlaubt;

6. moralische Gewißheit, daß der Sieg der gerechten Sache zuteil werden wird;

7. rechte Absicht, durch den Krieg das Gute zu fördern und das Böse zu vermeiden. Das aus dem Krieg zu erwartende Wohl des Staates muß das zu erwartende Übel übersteigen;

8. rechte Art der Kriegführung: Einhaltung der Schranken der Gerechtigkeit und Liebe;

9. Vermeidung schwerer Erschütterung anderer nicht unmittelbar in die Kriegshandlung verwickelter Staaten sowie der christlichen Gesamtheit:

10. Kriegserklärung durch eine gesetzlich dazu autorisierte Obrigkeit im Namen Gottes zur Vollstreckung seiner Gerichtsbarkeit.

Fehlt eine dieser Voraussetzungen, so wird der Krieg ungerecht.“ (Franziskus Maria Stratmann O.P., Weltkirche und Weltfriede, Augsburg 1924, 103 – 104.)

Auch für Stratmann gibt es keinen »gerechten« Krieg, denn wenn eines Tages die Voraussetzungen dafür verwirklicht sein sollten, dann ist der Krieg als solcher überwunden, dann werden Polizeikräfte im zwischenstaatlichen Bereich für die Beachtung des Rechts sorgen, so wie dies innerhalb demokratischer Staaten schon heute der Fall ist.

Vollends unhaltbar wurde die These vom »gerechten« Krieg, als mit der Entwicklung von Massenvernichtungsmitteln, vor allem von Atomwaffen, erstmals in der Geschichte die Gefahr gegeben war, nicht nur einem Gegner Schaden zuzufügen und ihn zu besiegen, sondern Massenmord zu begehen und im Extremfall die menschliche Zivilisation auszulöschen. Die Vereinten Nationen haben deshalb in ihrer Charta den Krieg grundsätzlich geächtet und lassen lediglich die militärische Verteidigung im Verständnis kollektiver Notwehr gegen einen Angreifer zu.

Aber selbst wenn solche Verteidigung zulässig und geboten sein sollte, wie beispielsweise gegen das nationalsozialistische Deutsche Reich unter Hitler, ist die Benutzung des Begriffes »gerechter“ Krieg unangemessen, wenn bedacht wird, welche Schäden der Zweite Weltkrieg auf allen Seiten gekostet und welche unermeßlichen Opfer er gefordert hat. War beispielsweise die Zerstörung Dresdens im Februar 1945 ein »verhältnismäßiges« Mittel der Kriegführung, auch wenn die Alliierten ohne Zweifel begründeten Anlaß hatten, dem kriminellen Treiben der Nazis ein Ende zu setzen? Ähnliche Situationen sind auch in der jüngsten Geschichte zu verzeichnen. Der Krieg gegen Saddam Hussein hat ein Vielfaches an Schaden angerichtet, als die Aggression des irakischen Diktators gegen Kuweit verursacht hatte; ganz zu schweigen davon, daß die Legitimation der militärischen Gegenintervention völkerrechtlich umstritten ist, weil nicht die Vereinten Nationen die Verantwortung trugen, sondern einer Gruppe von Staaten unter Führung der USA die Kriegführung überließen. Exzesse der amerikanischen/alliierten Kriegführung sind inzwischen belegt, beispielsweise die Tötung fliehender Soldaten in der letzten Kampfphase. Weder der »gerechte Grund«, noch die »richtige Absicht« und auch nicht die »legitime Obrigkeit« waren bei diesem angeblich so »gerechten« Krieg deutlich auszumachen.

Gerade weil Krieg immer Unrecht mit sich bringt und mehr denn je Unschuldige trifft, sollte der Terminus »gerechter Krieg« zu den Akten der Geschichte gelegt werden. Selbst die Ideologen der kommunistischen Weltrevolution hatten diesen Begriff schon lange vor dem Zusammenbruch der sowjetischen Herrschaft aufgegeben. Sie (Lenin u.a.) hatten ihre »Lehre vom gerechten Krieg« ursprünglich damit begründet, daß Waffeneinsatz immer dann gerechtfertigt sei, wenn er der Emanzipation der Arbeiterklasse nütze. Aber auch sie erkannten, daß der moderne Krieg dem Interesse der Arbeiterklasse nicht dienen könne, wenn die Existenzgrundlagen der Gesellschaft vernichtet würden.

Am schwersten tun sich die Kirchen (und analog auch der Islam), auf den von ihnen so lange gehegten und gepflegten Begriff zu verzichten. Er feiert immer wieder fröhliche Urständ. So hat vor einigen Wochen der Generalsekretär des Lutherischen Weltbundes, Gunnar Staalsett, den »gerechten Krieg« ausdrücklich wieder in die Debatte eingeführt. Wer solches propagiert, muß sich dann auch fragen lassen, warum die schwarze Bevölkerung Südafrikas jahrzehntelang erfolglos gegen den ihr aufgezwungenen Krieg der Apartheid um Hilfe rufen mußte. Allein dieses Beispiel zeigt, wie opportunistisch mit dem Begriff des »gerechten Krieges« umgegangen wird.

Selbst die Vereinten Nationen geraten plötzlich in Verdacht, zur »kriegführenden« Partei zu werden. Mit militärischen Interventionen, für die sie immer noch nicht über eigene Truppen verfügen, sondern bereitwillige Regierungen anheuern, nehmen sie eindeutig Partei, lassen – wie in Somalia – regelrechte Jagden auf Diktatoren und Aufstandsführer veranstalten. »Gewalt für den Frieden« nennt das VN-Generalsekretär Butros Ghali. Das sind keine Friedensmissionen, auch keine humanitären Maßnahmen, das sind Kriegseinsätze zur Erzwingung von Frieden, der nicht auf ausgleichender Konfliktregelung beruht, sondern ausschließlich auf den Vorstellungen des Generalsekretärs und parteiischer Regierungen. Und deutsche Soldaten sollen nach Vorstellung der Bundesregierung dabei sein.

Vor allem aber gilt, daß Krieg und militärische Interventionen zur Friedenserzwingung vor allem deshalb ungeeignet sind, weil sie an den wirtschaftlichen, ökologischen und ethno-nationalen Ursachen der gegenwärtigen Konflikte überhaupt nichts ändern. Dennoch ist mit der Feststellung, daß es den »gerechten Krieg« nicht gibt, die Frage nicht beantwortet, wie sich Dritte angesichts so grausamer Kriege und Bürgerkriege wie im ehemaligen Jugoslawien, im Kaukasus, in Afghanistan, in Somalia, im Sudan und in etwa zwanzig weiteren Weltregionen verhalten sollen. Zuschauen macht sie nicht weniger schuldig als militärisches Eingreifen.

Was wir brauchen, ist die Entwicklung eines glaubhaften und wirksamen gewaltarmen Instrumentariums der Prävention und Beendigung von gewaltsamen Konflikten. Dazu gehört vor allem die Entschlossenheit hilfsbereiter Regierungen, solche Maßnahmen auch wirklich anzuwenden: Einfrieren von Auslandsguthaben der beteiligten Parteien, Embargo auf die Lieferung aller Waffen und strategischen Güter, Einsatz von Blauhelmen, die zwischen die Fronten treten, wirtschaftliche Hilfe, weil die meisten Ursachen solcher Konflikte auf wirtschaftliche Not zurückzuführen sind. Im Falle Jugoslawiens und anderer Konflikte fehlt es bis heute an solcher Entschlossenheit. Dieses politische Versagen der Völkergemeinschaft macht den »gerechten Krieg« noch unglaubwürdiger. Nicht auf ihn dürfen sich unsere Hoffnungen richten, sondern auf einen »gerechten Frieden«, der allein geeignet ist, Kämpfe wie in Jugoslawien, auf Sri Lanka, in Kolumbien, Nordirland und wo auch immer gar nicht erst ausbrechen zu lassen und, wenn es denn dazu gekommen ist, auch wieder zu beenden.

Karlheinz Koppe ist Leiter der Arbeitsstelle Friedensforschung Bonn und Vizepräsident der katholischen Friedensbewegung Pax Christi.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1994/1 Religion, Seite