W&F 1992/3

„ Es gibt keinen „ Staat in Europa“

von Etienne Balibar

Im Zusammenhang mit dem europäischen Rassismus stellt Balibar die Frage nach der europäischen Identität. Er stellt die These auf, daß es keinen (Rechts-)Staat Europa gibt, und dieser Nicht-Staat dementsprechend auch nicht demokratisierbar ist. Im folgenden geht es um seine Ausführungen zur europäischen Identität.

(…) was ist eigentlich das Europa, von dem wir sprechen? Wir kommen ohne diesen Bezugspunkt nicht aus, sind aber gar nicht in der Lage, eindeutig festzustellen, was er bedeutet. »Europa« läßt sich heute weder in bezug auf eine politische Einheit noch in bezug auf eine historisch-kulturelle Einheit noch in bezug auf eine »ethnische« Einheit definieren. Die dunkelste aller Fragen ist vielleicht die, ob »Europa definieren« auch die Möglichkeit eröffnet, »die EuropäerInnen zu definieren« – als Mitglieder einer bestimmten Gemeinschaft, als InhaberInnen bestimmter Rechte, als VertreterInnen einer bestimmten Kultur. (…)

Das offizielle Bild (ich bin inzwischen versucht, zu sagen: der offizelle Mythos), mit dem wir jahrelang gelebt haben, ist, daß derartige Definitionen Europas und des Europäischen prinzipiell möglich sind. Es stellte sich die Frage, ob die »Europäische Einigung« sich letztendlich über die nationalen Besonderheiten hinwegsetzen würde und in welchem Maße sie dies tun würde, aber niemand hatte wirklich ein Problem damit, was »Europa« eigentlich bedeutet. In unserem Arbeitsprojekt verstand sich dieser Bezug von selbst, und das, was Probleme macht, waren die »Migrationen«, war der »Rassismus«. Aber nun gerät alles ins Wanken, und mittlerweile ist genau das Gegenteil richtig: vor jeder ernsthaften Analyse des Rassismus und seiner Beziehung zu den Migrationen müssen wir uns fragen, was das Wort Europa sagen will, und was es morgen bedeuten wird.

In Wirklichkeit entdecken wir aber so die Wahrheit der vorherigen Situation, welche die Vorstellung, die wir davon hatten, völlig zertrümmert: Europa ist nichts, was mehr oder weniger schnell »geeinigt« wird, es ist ein historisches Problem ohne irgendeine präexistierende Lösung. Die »Migrationen« und der »Rassismus« sind selbst Teile dieses Problems.

Warum hat sich die Situation umgekehrt? Wir wissen es alle: wegen der möglichen Auswirkungen von drei historischen Ereignissen, die im Laufe eines Jahres aufeinander gefolgt sind: des Zusammenbruchs des sozialistischen Staatensystems, der deutschen Vereinigung und des Ausbruchs einer gewaltigen Krise im Nahen Osten, die sich von heute auf morgen in einem Krieg verwandeln kann, der vielleicht kein »Weltkrieg«, aber offensichtlich auch kein »lokaler« Konflikt wäre (man bräuchte dafür eine neue Kategorie). Keines dieser drei Ereignisse hat bisher alle seine Auswirkungen gezeitigt, was die Analyse für uns zugleich unerläßlich und höchst ungewiß macht. Es gibt keinen Zweifel (erst recht nicht, wenn man auf ihre Ursachen zurückgeht), daß sie eine enge Verbindung untereinander haben. Die Art dieser Verbindung ist jedoch alles andere als klar: in einer einfachen Aufeinanderfolge liegt sie jedenfalls nicht. Sicher ist, daß keines dieser Ereignisse mittlerweile seine Auswirkungen unabhängig von den anderen zeitigen kann, und daß je nachdem, wie diese Auswirkungen sich entwickeln, die Existenz und die Natur einer »europäischen« Einheit sich auf ganz verschiedene Weise darstellen wird.

Umreißen wir einige der damit gestellten Fragen. Der Zusammenbruch des »realen« Sozialismus ist definitiv: die politische und die ökonomische Krise haben sich mittlerweile verknüpft. In gewisser Weise wird damit das Testament von 1968 vollstreckt. Aber dieser Zusammenbruch führt weder zu einer Erneuerung des Sozialismus oder zu einem »dritten Weg« (wie noch vor einem Jahr die Intelektuellen der DDR geglaubt haben, die sich zu den WortführerInnen der Kritik des Honecker-Regimes machten), noch führt er zu jener Einführung des politischen Liberalismus, von der die neuen technokratischen »Eliten« träumen. Er führt zunächst zum administrativen Zerfall, zur Verschärfung der wirtschaftlichen Not und zum Aufflammen des Nationalismus auf allen Ebenen.

Das Ende der politischen Teilung Europas ist ein fortschreitendes Ereignis von gewaltiger historischer Tragweite. Man kann verstehen, daß dies bei den Intellektuellen mit einer gewissen Begeisterung für die Idee der »europäischen Kultur« einhergeht, die es wiederzuentdecken oder wiederaufzubauen gilt, man kann diese Begeisterung, die Ideen und Projekte generiert, durchaus teilen. Aber die massenhafte ideologische Wirklichkeit, die dieser Kultur entspricht, ist zunächst die der stärker gewordenen Nationalismen, oder genauer: die eines instabilen Gleichgewichts zwischen der Verschlimmerung der nationalen Partikularismen und des Vordringens des »amerikanischen« Modells der Konsumtion und der sozialen Kommunikation. In seinen Sturz reißt der »Realsozialismus« sowohl den diktatorischen Apparat der Einheitspartei, des bürokratischen Staats usw. als auch die egalitaristische Utopie der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts mit hinein. Doch ist das Resultat keineswegs das »Ende der Geschichte« und der Triumph eines liberalen Systems der sozialen Konfliktregulierung. Man kann im Gegenteil, nachdem die große vereinfachende Opposition zwischen den »Ideologien« und den »Lagern« überwunden ist, eine rasche Differenzierung des »Liberalismus« selbst erwarten: insbesondere eine Renaissance des Problems der Demokratie im Kapitalismus, nachdem die Identität der beiden Termini nicht mehr durch die Präsenz eines zugleich antikapitalistischen und antidemokratischen Systems im Osten »gewährleistet« ist.

Die am meisten ungewisse und auch prekärste Frage ist in dem Moment (…) die nach den Auswirkungen der Nahostkrise. Sie werden offenbar ganz anderer Natur sein, je nachdem, ob man in den Krieg hineinschliddert oder nicht, und je nachdem, wie lang und wie zerstörerisch er sein wird. Aber sie werden unweigerlich eine Neuformierung der gegenwärtig sich abzeichnenden »Lager« nach sich ziehen. In jedem Fall kann man zumindst drei Feststellungen treffen, die allen denkbaren Hypothesen zugrundeliegen.

Erstens versetzt das Ende des »Kalten Krieges« die USA in die Position der einzigen Supermacht, aber diese Situation bedeutet nicht Konfliktentschärfung, sie bedeutet vielmehr unter den aktuellen Bedingungen die Unmöglichkeit einer stabilen Weltordnung, die Notwendigkeit eines faktischen Rückgriffs auf die Gewalt und möglicherweise die Bildung von vielfachen »regionalen« Imperialismen. (Als Grundelement der »Kopplung«, die zwischen der Bildung von »Subimperialismen« im Süden und der Krise der Imperialismen des Nordens besteht, wäre offenbar an prominenter Stelle die Bedeutung zu nennen, die Produktion und Verkauf von Rüstungsgütern in Ökonomie und Politik der letzteren haben.)

Zweitens befinden wir uns am Ende einer Phase, in denen es den Ländern des Nordens – ohne irgendeine Rücksicht auf die Folgen – gelungen ist, die Krise in die Dritte Welt »zu exportieren«, das heißt, ihre eigene ökonomische Stabilisierung durch eine absolute Verelendung der anderen (der »Dritten«) bezahlen zu lassen. Und wir befinden uns am Anfang einer neuen Phase, in der die Auseinandersetzungen um die Kontrolle der Rohstoffe (vor allem des Erdöls) die ökonomischen und sozialen Gleichgewichte in den »entwickelten« Ländern selbst wieder in Frage stellen.

Drittens sehen wir die »Kopplung« zwischen der politischen und sozialen Entwicklung des Nahen Ostens und derjenigen der europäischen Länder sich verstärken. Es bildet sich, mit anderen Worten, tatsächlich ein »mediterranes« Ensemble, das auf religiöser, kultureller, ökonomischer und politischer Ebene in hohem Maße konfliktträchtig ist. Die zwei Ensembles, welche die »arabische Nation« und die »europäische Nation« bilden (wobei die eine aus unterschiedlichen historischen Gründen so ungewiß wie die andere ist), sind eng miteinander verflochten und können sich nicht unabhängig voneinander entwickeln. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang natürlich die Bedeutung der »muslimischen« Bevölkerungen in Europa, aber auch die der europäischen oder europäisierten Bevölkerungs-Enklaven in der »arabischen« Welt (Israel, darüberhinaus all jene multilingualen und multikulturellen Gesellschaften, die aus der französischen Kolonisation hervorgegangen sind). Oder auch die Interessenverflechtung, deren Symbol die organische Kopplung zwischen den Finanzmächten Kuwaits und der Londoner City ist. Doch besteht die Gefahr, daß der künftige »Eiserne Vorhang« oder die künftige »Mauer« sich irgendwo im (südöstlichen) Mittelmeerraum wiederfinden, und es wird nicht leichter sein als im Falle ihrer VorgängerInnen, sie zu Fall zu bringen.

Dies bringt uns dazu, über die Auswirkungen nachzudenken, die diese im Gang befindlichen Ereignisse auf die »Europäische Einigung« haben könnten. Ich fühle mich ganz und gar nicht in der Lage, irgendwelche Vorhersagen zu machen, und trotzdem ist es sehr wohl nötig, der Diskussion einige Arbeitshypothesen zugrundezulegen. Die erste Hypothese, die ich formulieren werde, ist negativ: trotz der erreichten Schritte zur Transnationalisierung der europäischen Gesellschaften, die nicht annulliert werden können, und trotz der institutionellen Veränderungen, die wahrscheinlich nicht rückgängig zu machen sind, wird das politisch-wirtschaftliche »Kleineuropa« nicht wie vorgesehen zu verwirklichen sein.

Diese eingeschränkte Europäische Einheit, die teils supranational, teils konföderativ ist, hat sich als ein Konkurrenzgebilde zur amerikanischen Großmacht entwickelt, blieb aber im Rahmen der politisch-militärischen Ost-West-Konfrontation mit ihr assoziiert. Der politische Triumph der Vereinigten Staaten über die Sowjetunion (…) geht einher mit der relativen Schwächung der wirtschaftlichen Vormachtstellung der USA in der Welt und mit der Öffnung Osteuropas zum bevorzugten Expansionsgebiet des kapitalistischen Marktes – folglich mit einer vorauszusehenden Verschärfung der Konkurrenz zwischen Europa und den USA. Doch haben in dieser Konkurrenz nicht alle europäischen Länder, nicht einmal die im Osten, die gleichen Interessen und Möglichkeiten. Die antideutschen Chauvinismen, die man in Frankreich und in anderen europäischen Ländern hören kann, seit die Vereinigung der beiden Deutschländer zu einer unabwendbaren Perspektive geworden ist, gründen auf bestimmten Analogien und auf einer Vorstellung der nationalen Konflikte in Europa, die möglicherweise aus einer anderen Zeit stammt. Nichtsdestoweniger bleibt die Tatsache, daß die Europäische Einigung auf einem relativen Gleichgewicht verschiedener Länder basierte und sich nun mit einem gewaltigen inneren Ungleichgewicht der Möglichkeiten, das »Neuland« im Osten wirtschaftlich und politisch zu erschließen. Auch läßt die Krise am Golf sehr klar zutagetreten, daß die verschiedenen EG-Länder in der Konfrontation mit dem amerikanischen Imperialismus und den »Subimperialismen« des Nahen Ostens nicht die gleichen Interessen haben (oder ihre Interessen nicht in gleicher Weise einschätzen).

All dies sind dauerhafte Spaltungsfaktoren, auch wenn ihre politische Wirkung nicht unmittelbar vorauszusehen ist.

Es lohnt deshalb, sich die zwei folgenden Interpretationsmodelle anzusehen.

Erstens wird Europa mehr und mehr nicht zu einer geschlossenen Einheit (vergleichbar einem Bundesstaat oder einem multinationalen Imperium), sondern zu einem offenen Ensemble mit mehreren konzentrischen Kreisen supranationaler Institutionen, die sich in einem instabilen Gleichgewicht befinden und einen Raum des Zusammentreffens (und gegebenenfalls des Konflikts) zwischen verschiedenen ökonomisch-kulturellen Ensembles bilden, deren historische Besonderheit jede für sich mindestens so stark wie die der »europäischen Einheit« selbst ist: einem Euroamerikanischen Ensemble, einem Euro-mediterranen Ensemble (das in erster Linie euro-arabisch oder euro-muslimisch ist) und einem Euro-(ex-)sowjetischen oder Euro-östlichen Ensemble, das ganz oder zum Teil die Länder umfaßt, die vom sozialistischen System geprägt und mit der Aufgabe seiner »Liquidierung« konfrontiert sind. Diese Ensembles sind natürlich nicht nebeneinandergelagert, sondern weiträumig übereinandergeschichtet. Es gibt nicht ein, sondern mehrere »gemeinsame Häuser« in Europa.

Zweitens wird dieses Ensemble, das nach außen offen ist, eben weil es eher eine Schnittmenge mehrerer Welt-Räume als eine wirklich selbständige Einheit ist, nach innen um nichts weniger geschlossen sein, und dies wegen einer Reihe von »Grenzen«, die unmöglich abzuschaffen sind, nicht nur von politischen Staatsgrenzen, sondern vor allem von beweglichen sozialen Grenzen, die auf den Karten »unsichtbar« sind, die aber in den administrativen Bestimmungen und den sozialen Praxen gewissermaßen materialisiert sind – »inneren Grenzen« zwischen Bevölkerungsgruppen, die durch ihre Herkunft und durch ihre Stellung in der Arbeitsteilung unterschieden sind. Tatsächlich ist dieses Europa von jetzt an und zunehmend der Treffpunkt zwischen verschiedenen Typen politischer-ökonomischer Migration, vor allem aus dem »Süden« und dem »Osten«. Man wird versuchen, ihnen aus sowohl ideologischen wie ökonomischen Gründen einen unterschiedlichen Status zu geben und dabei gegen das Hindernis der erreichten Situationen (vor allem der post-kolonialen Situationen) und gegen das Ärgernis der abgegebenen Versprechungen (vor allem in Helsinki) angehen müssen.

Was sich auf diese Weise abzeichnet, ist ein europäischer »Schmelztiegel« (oder ein instabiler hierarchischer Komplex ethno-sozialer Gruppen), der an die amerikanische Situation zwar erinnert, sich aber von dieser gerade dadurch unterscheidet, daß er nicht die Auslöschung der ursprünglichen Nationalitäten voraussetzt, sondern auf ihrer Perpetuierung und Vervielfachung beruht.

Wenn diese sehr allgemeinen Perspektiven richtig sind, bedeutet das eine Umkehrung des geschichtlichen Verlaufs von Jahrhunderten, dessen weitere Aspekte wir gleich untersuchen werden. Während Europa über dreihundert Jahre hinweg seine politischen Modelle und die Folgen der Auseinandersetzungen zwischen seinen Nationen und »Blöcken« in die ganze Welt exportiert hat, zeichnet sich nun das Gegenteil ab. „The world strikes back“: Europa ist nun der Ort, in dem sich die politischen Probleme der ganzen Welt kristallisieren und, wenn schon nicht das schwächste Kettenglied, so doch der neuralgische Punkt ihrer Widersprüche.

Die ganze Bedeutung dieser Situation ergibt sich, wenn man die »Deutsche Frage« näher untersucht. Die neuesten Ereignisse lassen bei den meisten Kommentatoren den Gedanken aufkommen, daß die deutsche nationale (und nationalistische) Tradition, die man vergessen oder zu vergessen vorgegeben hatte, als ein bestimmender Faktor der europäischen Geschichte vor unseren Augen wiederersteht. Dies würde alles in allem auf das Dilemma hinauslaufen, daß man entweder ein »deutsches Europa« bekommt oder ein Deutschland ohne Europa. Ohne das Richtige in dieser Beobachtung zu übersehen, kann man sie aber mit ihrer dialektischen Kehrseite konfrontieren: von allen europäischen Ländern ist vielleicht gerade Deutschland das Land, das sich in den schärfsten Formen mit der Krise der »Nation«-Form konfrontiert finden wird. Nicht nur weil die Wiederherstellung eines einzigen »deutschen Volkes« aus den Bevölkerungen der Ex-BRD und Ex-DDR nichts weniger als selbstverständlich ist, sondern vor allem deshalb, weil das Deutschland von morgen den virtuellen Brennpunkt aller »Unterschiede« und ethnisch-sozialen Spannungen darstellt, von denen wir gesprochen haben, will es nicht eine unmögliche Blockierung der Freizügigkeit schaffen (in deren Namen ja gerade die Revolte der östlichen Länder stattgefunden hat). Berlin kann als das politisch-geographische »Zentrum« des historisch-kulturellen Raumes, der sich zwischen London, Stockholm, Warschau, Moskau, Budapest, Istanbul, Bagdad, Kairo, Rom, Algier, Madrid und Paris erstreckt, nicht die Hauptstadt des neuen Deutschland sein, ohne zugleich das »Zentrum« der politischen Spannungen zu sein, die den unterschiedlichen Regionen in diesem Raum entspringen.

(…)

Was ist (also) heute in Europa der Staat?

Die Formulierung ist mir wichtig; es geht nicht um die Frage, was »der europäische Staat« heute ist, denn eine solche Frage hat wohl keinen eindeutigen Sinn. Sondern es geht darum, sich in einer sehr langfristigen historischen Perspektive, einer Perspektive, in der die Entwicklung der Formen der staatlichen Institutionen geschichtlich analysiert wird, die Frage zu stellen, was in dem europäischen Raum, dessen Komplexität wir zuvor betrachtet haben (insbesondere was die Unmöglichkeit angeht, ihn auf die bloße Gestalt eines »Territoriums« zurückzuführen), aus dem Staat tendenziell wird, und wie er sich darin verhält, welche Funktionen er darin erfüllt.

Eine solche Frage läßt sich sicher nicht in einfachen Begriffen stellen, da sie mehr als nur eine Dimension umfaßt (es ist zum Beispiel evident, daß die noch nicht klar beantwortete Frage, welche Staatsformen auf die ehemaligen »sozialistischen« Staaten letzten Endes folgen und welches die Auswirkungen auf den Status der Politik in Europa insgesamt sein werden, eines der großen Rätsel in diesem Problem ist). Man kann ihr aber nicht ausweichen, weil sie – das ist zumindest meine Überzeugung – die entscheidende Frage ist, um den Rassismus, mit dem wir es zu tun haben, zu analysieren und seine Entwicklungslinien vorherzusehen.

Auch hier drängt sich zunächst eine negative Kennzeichnung auf. Der Staat ist heutzutage in Europa weder national noch supranational, und diese Zweideutigkeit wird sich mit der Zeit nicht etwa abschwächen, sondern nur noch vertiefen. Praktisch bedeutet das (sowohl auf wirtschaftlichem oder finanziellem wie auf sozialem oder juristischem Gebiet): was in der Machtaufteilung zwischen der Ebene der »Nationalstaaten« und der Ebene der »EG-Institutionen« zur Erscheinung kommen wird, ist eine beständige Redundanz, eine Konkurrenz zwischen den Institutionen. Was jedoch die Realität ausmachen wird, ist ein tendenzieller Prozess des Zerfalls oder der Defizienz des Staates: fehlende Macht, fehlende Verantwortlichkeit, fehlende Öffentlichkeit. Der »Staat« als eine Institution der Machtzentralisation, dem sich die Verantwortung für eine Politik zuschreiben läßt und der eine öffentliche Vermittlung zwischen Interessen und gesellschaftlichen Kräften ausübt, dieser Staat tendiert in Europa zum Verschwinden. Man könnte dies auch so ausdrücken, daß wir unter dem Anschein einer Multiplizierung und Überlagerung von öffentlichen Institutionen in die Phase einer neuartigen »Privatisierung« des Staates eintreten.

Dies ist vermutlich das Ergebnis der Tatsache, daß es für einen Staat dieses Typs, der aus verschiedenartigen Ursachen entstand, der aber im Grunde als die staatliche Institution eines Marktes begriffen wurde – was in der Geschichte ohne Beispiel ist: es handelt sich in gewisser Weise um die »liberale« Utopie im praktischen Zustand – kein präexistierendes Modell gibt. Es exisitert um so weniger, als diese Utopie – die ihre realen Wirkungen hatte und weiterhin hat, genau wie die Gegenutopie, die kommunistische, ihre realen Wirkungen hatte – in Wirklichkeit sich anschickt, in eine historische Epoche überzugehen, in der es den absolut »freien« Markt nicht mehr geben kann: jeder Markt ist heute unauflöslich ein Kräfteverhältnis zwischen öffentlichen und privaten Korporationen auf transnationaler Ebene, und jeder Markt ist eine ebenso soziale wie wirtschaftliche Organisation. Was jedoch an der europäischen Konstruktion sofort auffällt, ist eben die Tatsache, daß sie von einigen bemängelnden Diskursen abgesehen keine wirkliche soziale Dimension hat. Der europäische Staat ist als Sozialstaat (man wäre versucht, zu sagen: als supranationaler Sozialstaat) weder von den Marktkräften noch von den Regierungen gewollt worden, und verschiedene historische Gründe haben dafür gesorgt, daß er von der Arbeiterbewegung zu einer Zeit, als sie die Situation noch beeinflussen konnte, nicht durchzusetzen war (und auch nicht ernstlich in Betracht gezogen wurde). Gerade weil aber die Grenze zwischen sozialem Recht und öffentlichem Recht (oder dem »sozialen« und dem »politischen Bürgerrecht« (citoyenneté), wenn man so will) heute unmöglich zu ziehen ist, bedeutet dies am Ende, daß es einen »europäischen« Rechtsstaat nicht gibt. In Abwandlung des berühmten Ausrufs von Hegel (aus dem Manuskript „Die Verfassung Deutschlands von 1799/1800“) wage ich deshalb zu sagen: Es gibt keinen (Rechts-)Staat in Europa!

Die Konsequenz dieser Sachlage, die wir tagtäglich beobachten und die in der uns hier beschäftigenden Frage omnipräsent ist, könnte man Etatismus ohne Staat nennen, Etatismus ohne wirklichen Staat. Tatsächlich ist es vom »europäischen« Standpunkt der Etatismus, das heißt die Kombination der Verwaltung- und Repressionspraktiken mit dem kontingenten Ausgleich der Partikularinteressen (darunter auch denen der einzelnen Nationen oder der herrschenden Klassen jeder Nation), der den Staat ersetzt (und den Eindruck vermittelt, es gäbe ein Wuchern des Staates). Das Überhandnehmen der Macht ist die Macht eines Vakuums. In vieler Hinsicht ist diese Situation derjenigen vergleichbar, die wir in der »Dritten Welt« zu sehen uns angewöhnt haben (und die wir an den Zustand wirtschaftlicher und kultureller »Unterentwicklung« geknüpft glauben). Damit sind alle Bedingungen für die Produktion und Unterhaltung eines kollektiven Gefühls der Identitätspanik beisammen. Denn die Individuen, und besonders diejenigen, die am mittellosesten und von der Macht am weitesten entfernt sind, fürchten zwar den Staat, doch fürchten sie noch mehr sein Verschwinden und seinen Zerfall: das ist es, was die anarchistische und marxistische Tradition nie begriffen und wofür sie extrem teuer bezahlt hat. (…)

Anmerkung

Die Auszüge dieses Artikels sind – mit freundlicher Genehmigung des Argumentverlages – entnommen aus: Institut für Migrations- und Rassismusforschung e.V.: Rassismus und Migration in Europa. Beiträge des Kongresses „Migration und Rassismus in Europa“ Hamburg, 26.-30. September 1990, Argumentsonderband AS 201, Hamburg 1992, 564 S.

Etienne Balibar (Maitre de Philosophie) ist Mitarbeiter an der Universität Paris, Fakultät für Humanwissenschaft.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1992/3 Zerbrochenes Europa, Seite