Es ist schon spät
Das Ende des INF-Vertrags zwingt zum Handeln
von Joseph Gerson
Die durch Präsident Trump forcierte Aufrüstung und Kriegsrhetorik droht, den gesamten Prozess der nuklearen Abrüstung und Rüstungskontrolle zum Einsturz zu bringen und den Frieden in der Welt tiefgreifend zu gefährden. Der Autor beschreibt einige Hintergründe und mögliche Konsequenzen, die sich aus dem Ende des INF-Vertrags ergeben. Sein Text ist aber auch Zeugnis dafür, wie sich die Friedens- und Abrüstungsbewegung in den USA – und nicht nur dort – an kleine Hoffnungsschimmer klammert, um eine neue Rüstungsspirale aufzuhalten.
Der Vertrag über Mittelstreckenraketen (INF-Vertrag) trat 1987 in Kraft und beendete den Kalten Krieg, noch bevor die Berliner Mauer fiel und die Sowjetunion sich auflöste. Der Vertrag verpflichtete die USA und die Sowjetunion zur dauerhaften Abschaffung landgestützter nuklear oder konventionell bewaffneter Marschflugkörper und ballistischer Raketen mit Reichweiten zwischen 500 und 5.500 km. Mit dem INF-Vertrag sank die Gefahr, dass Europa zum ersten Schlachtfeld und Opfer einer Atomkriegsapokalypse zwischen den damaligen Supermächten wird, erheblich (wenn auch nicht auf Null).
Im Oktober 2018 teilte US-Präsident Trump mit, er plane den Rückzug der Vereinigten Staaten von dem Vertrag, und schuf damit das politische und strategische Umfeld für ein ungehindertes und äußerst gefährliches nukleares Wettrüsten. Donald Trump ist ein hartnäckiger Lügner. Die New York Times berichtete, dass er kürzlich die Marke von 10.000 belegten Lügen seit seinem Amtsantritt knackte. Zuweilen sollten wir ihn aber beim Wort nehmen. Er meinte es ernst, als er sich damit brüstete, „wir haben mehr Geld als alle anderen“, und als er sagte „let it be an arms race“ – dann eben ein Wettrüsten. Präsident Putin drohte seinerseits, Russland könne im Falle der Stationierung neuer US-Raketen in Europa gleichziehen. Es ist nicht davon auszugehen, dass der New-START-Vertrag über die Reduzierung strategischer Waffen über das Jahr 2021 hinaus verlängert wird, sodass wir uns angesichts der verheerenden Beziehungen zwischen den USA und Russland im letzten Jahrzehnt jetzt im Anfangsstadium einer Konfrontation der beiden Länder befinden, die durchaus mit dem Kalten Krieg vergleichbar ist. Den INF-Vertrag einfach aufzugeben bezeugt einmal mehr, dass Ignoranz, die mit dem Drang nach Dominanz einhergeht, einen äußerst gefährlichen nuklearen Cocktail ergibt.
Es mag stimmen, dass das russische Militär den INF-Vertrag mit Tests eines neuen Marschflugkörpers mittlerer Reichweite verletzt hat. Weniger bekannt ist, dass, wie Professor Theodore Postol vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) nachwies, die in Rumänien stationierten US-Raketenabwehrsysteme des Typs Aegis „Merkmale aufweisen, die sie für Russland besonders bedrohlich machen […] Würden die Aegis-Systeme in Osteuropa mit US-Marschflugkörpern bestückt – sei es der existierende Tomahawk oder eine neue Rakete, die die Vereinigten Staaten aktuell entwickeln –, so wären sie angsteinflößende Offensivwaffen, stationiert direkt an der Grenze zu Russland. Und Russland könnte kaum wissen, ob Aegis-Systeme mit Abfangflugkörpern oder mit nuklear bewaffneten Marschflugkörpern geladen sind. Die offensiven Fähigkeiten der US-amerikanischen Raketenabwehrinstallationen in Osteuropa sind der Schlüssel, um den Streit zwischen den USA und Russland über den INF-Vertrag zu verstehen.“
Natürlich wäre die passende Antwort auf Russlands Marschflugkörper-Tests nicht gewesen, den Vertrag zu zerreißen, der für das Ende des Kalten Krieges von zentraler Bedeutung war. Vielmehr hätte die nukleare Abrüstungsdiplomatie intensiviert werden müssen, und dies hatte die russische Seite dringend eingefordert.
Eine neue nukleare Rüstungsspirale droht
Der Austritt aus dem INF-Vertrag ist elementarer Bestandteil von Trumps unilateraler Vision des »America First« und der globalen Dominanz der USA. Da vermutlich auch der New-START-Vertrag nicht verlängert wird, sind damit sämtliche nuklearen Abrüstungsabkommen zwischen den beiden größten und gefährlichsten Nuklearmächten hinfällig, und der Weg zu einem ungehemmten, gefährlichen und irrsinnig kostspieligen nuklearen Wettrüsten ist frei.
Der Rückzug vom INF-Vertrag muss im Kontext von mehr als zwei Jahrzehnten zunehmend aggressiverer Militärpolitik der USA gegenüber Russland gesehen werden: die Osterweiterung der NATO durch die Regierung Clinton; die Aufkündigung des Raketenabwehrvertrags durch die Regierung Bush jr.; die Zusage der Regierung Obama, für die Entwicklung einer neuen Generation von Atomwaffen und Trägersystemen 1,2 Billionen US-Dollar auszugeben; die Stationierung von Raketenabwehrsystemen, von denen Moskau befürchtetet, sie könnten für einen nuklearen Erstschlag genutzt werden; die Entscheidung, in fünf europäischen NATO-Staaten aufgerüstete und »einsatzfähigere« US-Atomwaffen zu stationieren.
Fest entschlossen, anders als in den 1990 Jahren keine neue Demütigung Russlands zuzulassen, bekräftigte Präsident Putin sein Bekenntnis zur gegenseitig gesicherten Zerstörungsfähigkeit (mutually assured destruction, MAD). Russland hat inzwischen in Kaliningrad, am nördlichen Rand Mitteleuropas, atomwaffenfähige Kurzstreckenraketen [des Typs Iskander] stationiert. Um US-Raketenabwehrsystemen ausweichen oder diese überwältigen zu können, stationiert Russland neue Langstreckenraketen mit mehreren Sprengköpfen, außerdem Hyperschall-Marschflugkörper und andere Raketen, die angeblich mit der fünffachen Schallgeschwindigkeit fliegen können. Putin hat des Weiteren angekündigt, ein »unbemanntes Unterwasserfahrzeug« mit Atomantrieb zu stationieren, das Hafenstädte der USA mit Atomwaffen zerstören könnte.
Diese neuen Waffensysteme erinnern an die existenziellen Bedrohungen der 1980er Jahre und setzen noch einen obendrauf.
Die Sorgen Trumps und seines Nationalen Sicherheitsberaters John Bolton um mögliche Vertragsverletzungen Russlands sind aber nur vorgeschoben. In Wirklichkeit geht es ihnen um die Bestimmungen des INF-Vertrags, die die USA daran hinderten, dem Aufrüstungsprogramm und der Einrichtung neuer Militärbasen im Südchinesischen Meer durch China etwas entgegenzusetzen. Der Rückzug der USA vom INF-Vertrag steht also im Kontext des aktuellen Kampfes um Hegemonie im asiatisch-pazifischen – inzwischen »indopazifisch« genannten – Raum. Wir müssen uns klar sein, dass der Rückzug von dem Vertrag die provokativen »Freiheit der Schifffahrt«-Übungen der USA im Südchinesischen Meer ebenso ergänzt wie die Stationierung von US-Raketenabwehrsystemen in Japan und Südkorea sowie den fatalen Wirtschaftskrieg mit China, den Trump auslöste. Dies sind alles Elemente von Trumps kontraproduktiver Kampagne, um China zu schwächen und einzudämmen.
Die Dringlichkeit der Gefahren ist groß
Ich kann es nicht anders sagen: Wahrscheinlich müssen wir bald Widerstand leisten gegen Pläne, landgestützte Marschflugkörper in Japan, in Taiwan und – in der Zeit nach der Präsidentschaft Duterte – auf den Philippinen zu stationieren.
Michail Gorbatschow hatte Recht mit seiner Bemerkung, Trumps Rückzug vom INF-Vertrag sei nicht das Werk „einer Geistesgröße […] Mit dem nötigen politischen Willen könnten alle Probleme mit der Einhaltung vorhandener Verträge gelöst werden“ und „in einem »Krieg aller gegen alle« wird es keinen Gewinner geben – vor allem dann, wenn er in einen Atomkrieg mündet“. Ich bin zwar kein Freund Putins, wir sollten aber unbedingt auf das russische Angebot eingehen, dass „immer noch Raum für Dialog ist“.
Die Gefahren, die sich aus dem Kollaps des INF-Vertrags und vermutlich auch des New-START-Vertrags ergeben, sind keineswegs abstrakt. Beide Großmächte benutzen ihre Atomwaffenarsenale, um ihre imperialen Einflusssphären in Besorgnis erregendem Ausmaß zu festigen oder auszuweiten. So haben die USA beispielsweise am Vorabend der Irakkriege von 1991 und 2003 mit nuklearen Angriffen gedroht, und Präsident Obama wiederholte die Drohung „es sind alle Optionen auf dem Tisch“ gegen Iran. Erst die inspirierte Politik des südkoreanischen Präsidenten Moon brachte uns einen Schritt weg vom Abgrund der Trump’schen Drohung mit „fire and fury“ (Feuer und Zorn) gegen Nordkorea. Waghalsige Politik ist aber kein Alleinstellungsmerkmal der USA. Putin bestätigte, dass er den Einsatz von Atomwaffen erwogen habe, um die russische Kontrolle über die Krim sicherzustellen, und dass er für eine Art Kubakrise des 21. Jahrhunderts gewappnet sei. All das erhöht die ohnehin latente Gefahr eines Atomwaffeneinsatzes aufgrund von Fehleinschätzungen und Unfällen.
Ich befürchte, die meisten Regierungen, Friedensorganisationen und die Zivilgesellschaft insgesamt schätzen die Dringlichkeit dieses Moments falsch ein. Wir müssen Wege finden, Alarm zu schlagen und die Großmächte vom Abgrund zurückzuziehen.
Die Krise ist wirklich ernst, und sie wird von starken Mächten in den USA, in Russland und, wenngleich auf andere Art, auch in China angeheizt. Sie kann nur durch den Aufbau einer ausgleichenden politischen, diplomatischen und bürgerschaftlichen Macht abgewehrt werden. Ich behaupte nicht, dass ich genau sagen kann, wie das geht, ich kann aber einige mögliche Pfade dorthin aufzeigen.
Einige Ansatzpunkte zum Handeln
Da ist zum einen das US-Abgeordnetenhaus mit seiner Budgethoheit. Adam Smith, Vorsitzender des Verteidigungsausschusses des Abgeordnetenhauses, machte klar, er sei dagegen, Gelder für die Produktion und Stationierung neuer Atomwaffen und Trägersysteme bereitzustellen. Wir in den USA müssen ihm unbedingt den Rücken stärken und andere Kongressabgeordnete drängen, ebenfalls keine Gelder für neue Atomwaffen und Trägersysteme freizugeben. Das ist machbar.
Zum anderen hat der Vorwahlkampf der Demokraten für die Präsidentschaftswahl 2020 begonnen. Wie Adam Smith stellten auch die Senator*innen Elizabeth Warren und Bernie Sanders klar, dass sie gegen die Produktion und Stationierung neuer Atomwaffen sind. Damit haben sie die Messlatte gelegt, und Lobbygruppen in New Hampshire und Iowa sowie Wähler*innen in anderen Staaten sollten die Präsidentschaftskandidat*innen darauf einschwören und daran messen.
Hier in den USA müssen wir aber auch Massenaktionen auf die Beine stellen. Angesichts des nachvollziehbaren Fokus auf Trump und die Korruption in seiner Regierungsmannschaft, der Angriffe gegen unsere Verfassung und die Rechtsstaatlichkeit, der Klimakrise und aller möglichen anderen Themen, bleibt es eine Herausforderung, eine breitere Öffentlichkeit für die Nuklear- und Außenpolitik zu mobilisieren. Die Situation ist vergleichbar mit den 1980er Jahren, als sich Europa im Fadenkreuz eines möglichen Atomkrieges befand: Wenn die Öffentlichkeit in Europa gegen die Stationierung neuer Atomraketen der USA und Russlands mobilisiert werden kann, könnte dies bei uns in den USA einen deutlichen Widerhall hervorrufen und uns beflügeln. Die aufkeimende Bewegung »European Nuclear Disarmament« und die mit ihr verbündeten Organisationen schaffen es hoffentlich, in Europa die Menschen auf die Straße zu bringen. Erinnern wir uns an die Kampagne »Nuclear Weapons Freeze«, die quer durch die USA lokale Aktionen durchführte, 1982 mehr als eine Million Demonstrant*innen nach New York brachte und schließlich Präsident Reagan zu Verhandlungen mit der Sowjetunion zwang.
Und dann gibt es noch den »Vertrag über das Verbot von Kernwaffen«. Wenn im Globalen Süden und in Ländern, die unter dem »nuklearen Schutzschirm« stehen, die Menschen, die den Verbotsvertrag unterstützen, hartnäckig am Ball bleiben, könnten die Nuklearmächte eingekreist und isoliert werden. Sobald der Vertrag in Kraft tritt, sind die Vertragsstaaten verpflichtet, die Atomwaffenstaaten ebenfalls zum Beitritt zu drängen. Wenn es den Regierungen der Vertragsstaaten wirklich ernst damit ist, eine atomwaffenfreie Welt zu schaffen, können sie hochrangige Vertreter der Atomwaffenstaaten sowie der Atomwaffenindustrie mit Sanktionen belegen.
Und wenn Länder unter dem »nuklearen Schutzschirm« der USA, einschließlich der NATO-Staaten, Japans und Australiens, von Massenbewegungen in ihren Ländern zur Unterzeichnung und Ratifizierung des Verbotsvertrags gezwungen werden, oder wenn Jeremy Corbyn in Großbritannien an die Macht kommt und den Vertrag unterzeichnet, würden die ideologischen Fundamente des »Nuklearismus« aufgebrochen und es würden neue Freiräume und Möglichkeiten geschaffen, auch in den Atomwaffenstaaten auf ernsthafte nukleare Abrüstung zu drängen.
Ich möchte noch auf zwei weitere Anknüfungspunkte für unseren Kampf gegen ein neues ungehindertes Wettrüsten hinweisen. Da sind zum einen die Kosten, viele Billionen Dollar, unvorstellbare Summen. Wir werden die Konsequenzen dieser Zahlen aber unschwer ausfindig machen in den Budgetkürzungen für Sozial- und Umweltprogramme, die auf dem Altar des Nuklearismus geopfert werden: bezahlbarer Wohnraum, Gesundheitsversorgung, Bildung, Sozialhilfe und vieles mehr. Wir müssen uns daher unbedingt mit den Kräften in unserem Land verbünden, die für ökonomische, soziale und Umweltgerechtigkeit kämpfen.
Und schließlich ist da die Behauptung der Atommächte, das strategische Umfeld für eine ernsthafte Abrüstungsdiplomatie sei einfach nicht gegeben. Dieses Umfeld kann man schaffen, so wie das durch das Konzept der »Gemeinsamen Sicherheit« in den 1980er Jahren geschah. Georgi Arbatow, der Mitglied der Palme-Kommission war und das Denken von Michail Gorbatschow stark beeinflusst hatte, schrieb „wir können unsere eigene Sicherheit nicht auf Kosten eines anderen gewährleisten, sondern nur auf der Basis gemeinsamer Interessen“. Das gemeinsame Interesse war damals wie heute „ein Bekenntnis zum gemeinsamen Überleben anstatt zur Drohung mit der gegenseitigen Zerstörung“.
Ich bin gespannt, wohin uns unsere Überlegungen und Aktionen bringen. Bei allem, was wir über nukleare Erpressung, Unfälle mit Atomwaffen, Fehleinschätzungen und die menschlichen Kosten des nuklearen Wettrüstens wissen, gilt, um meinen Lieblings-Nobelpreisträger Bob Dylan zu zitieren, „the hour is getting late“ (in »All Along the Watchtower«) – es ist schon verdammt spät. Und doch wissen wir, dass eine andere Welt möglich ist.
Dr. Joseph Gerson ist Abrüstungskoordinator des American Friends Service Committee (ASFC), Programmleiter der ASFC-Projekte in Neuengland und geschäftsführender Direktor der Campaign for Peace, Disarmament and Common Security.
Dieser Text wurde für die internationale zivilgesellschaftlichen Konferenz »Growing nuclear risks in a changing world« gehalten, die am 8. Mai 2019 zeitgleich mit der Konferenz zum nuklearen Nichtverbreitungsvertrag in New York stattfand.
Aus dem Englischen übersetzt von Regina Hagen.