W&F 2021/3

Eskalation in Südafrika

von Jürgen Nieth

Johannes Dieterich spricht im Tagesspiegel (19.07.21, S. 5 ) von den „schlimmsten Ausschreitungen in der Geschichte des vor 27 Jahren demokratisierten Staates.“ Christian Pusch (NZZ 26.07.21, S. 2) bilanziert: „337 Tote, über 3.000 geplünderte Geschäfte.“ Die FAZ (23.07.21, S. 21) geht von Schäden „bis zu drei Milliarden Euro“ aus und spricht von „150.000 Arbeitsplätzen“, die gefährdet seien. Von einer gezielten Zerstörung der „Infrastruktur des Staates“ spricht Bernd Dörries in der SZ (20.07.21, S. 6): „Mobilfunkmasten wurden angegriffen, Anlagen zur Wasseraufbereitung, Krankenhäuser, mindestens 30 Schulen.“ Laut Claudia Bröll sprach „Präsident Ramaphosa […] von einem ‚versuchten Aufstand‘, die Thabo-Mbeki-Stiftung von ‚konterrevolutionären Aktivitäten‘. (FAZ 22.07.21, S. 8)

Staatliche Zurückhaltung

Laut NZZ (s.o) haben „die Sicherheitskräfte […] bei den jüngsten Unruhen nur zögerlich eingegriffen“, denn die Regierung „habe ein weiteres Blutbad unbedingt verhindern wollen“. Die Polizei sei aber auch mangelhaft ausgerüstet gewesen und die Zahl der Polizist*innen stagniere seit Jahren, trotz steigender Bevölkerungszahl. Für Bernd Dörries (SZ 16.07.21, S. 9) ist Südafrika „ein Land, in dem kaum jemand noch damit rechnet, dass die Polizei kommt, wenn man sie ruft. Sicherheit ist Privatsache geworden.

In der Zeit (22.07.21, S. 9) hält Andrea Böhm fest: „Weil die Polizei machtlos war, schickte Südafrikas Präsident Cyril Ramaphosa schließlich die Armee. […]. Eine höchst umstrittene Maßnahme, denn die Militärpräsenz erinnert an das Kriegsrecht aus Apartheid-Zeiten.

Zuma als Anstifter?

Betroffen von den Unruhen war vor allem die Heimatprovinz Jacob Zumas und zeitlich fielen die Proteste mit dessen Haftantritt zusammen: Der ehemalige Präsident des Landes war von einem Gericht wegen Missachtung der Justiz zu 15 Monaten Haft“ verurteilt worden. Vor der Ablösung Zumas als Präsident hatten „Journalisten und Whistleblower ein gigantisches Korruptionsnetzwerk aufgedeckt – mittendrin Zuma […]. Staatliche Firmen waren systematisch geplündert, Steuergelder veruntreut, Wirtschaftsverträge manipuliert, Kritiker in der Regierung kaltgestellt worden […]. [Es] soll dem Staat so ein Schaden von bis zu 100 Milliarden Dollar entstanden sein.“ (Zeit, s.o.). So ist es für manche Beobachter*innen verwunderlich, dass „Zuma überhaupt noch so viele Anhänger hat, nach all den desaströsen Jahren […]: Er hat sich gerne als Mann der kleinen Leute gegeben, hat getanzt und gesungen und gewitzelt, er gilt als volksnah und hat das Volk doch gleichzeitig bestohlen.“ (Bernd Dörries, SZ 16.07.21, S. 9) Hinzufügen muss man hier, dass Zuma zusammen mit Nelson Mandela auf Robben Island inhaftiert war und sicher auch aufgrund dessen im ANC nach wie vor großen Einfluss hat.

Bei den Auseinandersetzungen steht auch die Einheit des ANC, der ältesten Befreiungsbewegung Afrikas, auf der Tagesordnung. Schließlich gehen alle vorliegenden Zeitungsberichte davon aus, dass Zuma und sein Netzwerk die Unruhen orchestriert haben. Lutz van Dijk verweist in der taz (16.07.21, S. 10) auf ein „Video, das Zumas Tochter postete, in dem auf ein Wahlplakat Ramaphosas geschossen wird.“ Die FAZ (14.07.21, S. 5) zitiert die Zuma-Tochter Duduzile: „Ramaphosa, wir geben dir drei Tage, um Zuma freizulassen. Das Land wird sonst niederbrennen, ich verspreche es.

Strukturelle Ursachen

Für Savious Kwinika (taz 15.07,21, S. 10) war allerdings „Zumas Verhaftung […] nur der Funke, der das Pulverfass explodieren ließ“. Denn eigentlich weise die Plünderungswelle auf etwas anderes hin: „Wie Junge und Alte in diesen kalten Winternächten ihr Leben riskierten, um Diebesgut zu greifen, machte deutlich, welches Ausmaß Hunger, Elend und Ruhelosigkeit mittlerweile unter weiten Teilen der Bevölkerung haben.“ Aus Kapstadt berichtet Christian Selz für nd (17.07.21, S. 7): „Die Kluft zwischen Arm und Reich ist seit dem Ende der Apartheid nicht kleiner, sondern sogar noch größer geworden […]. Die extreme Armut, während man gleichzeitig das Luxusleben der Oberschicht vor Augen hat, führt zu Wut und einer enorm hohen Kriminalitätsrate, seit Jahrzehnten […]. Die Arbeitslosenquote ist seit [… Ramaphosas] Amtsantritt im Februar 2018 weiter gestiegen […]. Die Corona-Pandemie […hat] die Situation noch einmal verschärft. Etwa drei Millionen Menschen verloren im ersten Lockdown vor einem Jahr ihre Arbeit, erholt hat sich Südafrika davon bis heute nicht.“ Zu den Plünderer*innen zählten allerdings nicht nur Arme. Die BZ (14.07.21, S. 4) berichtet von „Menschen, die mit Mittelklassewagen vorfuhren und Kühlschränke, Betten, Kleider, Schuhe und selbst Möbel wegschafften.

Ausblick

Die Plünderungen sind beendet, die Aufräumarbeiten haben begonnen. Laut Bernd Dörries (SZ 20.07.21, S. 6) scheint mittlerweile „auch unter vielen Plünderern Katerstimmung zu herrschen. Das Ausmaß der Gewalt war für viele Südafrikaner schockierend und abschreckend.“ Die politischen Auseinandersetzungen innerhalb des ANC sind für ihn aber nicht entschieden: „Zumas Leute sitzen teilweise immer noch in den Behörden und der Regierung und haben den Kampf noch nicht aufgegeben.“ Der ANC ist laut Claudia Bröll (s.o.) „tief gespalten in einen angeblich reformwilligen Flügel und die alte Zuma-Garde […]. Zusätzlich kommt der populistischen Oppositionspartei Economic Freedom Fighters (EFF) das Chaos zugute […]. Schon lange wird darüber spekuliert, dass EFF-Gründer Julius Malema sich mit dem radikalen Flügel des ANC zusammenschließen und so die Macht im ANC übernehmen könnte.

Um das zu verhindern, bleibt für Ramaphosa laut Andrea Böhm (s.o.) nur folgende Option: „Cyril Ramaphosa hatte bei Amtsantritt einen Kampf gegen die Armut angekündigt. In den Townships glaubt ihm das keiner mehr […]. Dass er nun […] die Einführung eines Grundeinkommens untersuchen lassen will, halten Kritiker für zu wenig […]. Die Leute müssen Verbesserungen jetzt sofort sehen und schmecken können.

Zitierte Presseorgane: BZ – Berliner Zeitung, FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung, nd – neues Deutschland, NZZ – Neue Zürcher Zeitung, SZ – Süddeutsche Zeitung, Tagesspiegel, taz – tageszeitung, Zeit – Die Zeit

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2021/3 Frieden lernen, aber wie? – Aktuelle Fragen der Friedenspädagogik, Seite 4