Eskalationen im Nahen Osten
Fragen und Einordnungen aus der Redaktion
von Maria Hartmann, Marius Pletsch, Jürgen Scheffran und David Scheuing
Vor etwas mehr als einem Jahr überfielen bewaffnete Kräfte der Hamas und weiterer radikaler Organisationen aus Gaza heraus grenznahe zivile Siedlungen und militärische Wachposten im Staat Israel und töteten dabei über 1.100 Menschen. Hier beginnt eine Erzählung der Eskalationen im Nahen Osten – für andere ist sie das zu kontextualisierende Ergebnis einer vorangegangenen Eskalationsgeschichte. Es ist ein Politikum, an welchem Ereignis der Gewaltgeschichte(n) des Nahen Ostens eine Betrachtung ansetzt. Mit dieser grundlegenden Entscheidung werden Ein- und Ausschlüsse markiert, Ungerechtigkeiten und Diskriminierung gegeißelt und politische Positionierungen ausgedrückt.
Die Vielzahl der militärischen Eskalationen im Nahen Osten ist ohne den historischen Kontext und damit verbundene Traumata nicht zu verstehen. Doch wie Geschichte mobilisiert und Verwundungen instrumentalisiert werden, ist Teil des Konflikthandelns: Eine jahrzehntelange Kette von Handlungen, in denen das eigene Konfliktverhalten als gerechtfertigt dargestellt wird, während die Aktionen des politischen oder ideologischen Gegners generell als unzulässig, illegitim oder als Provokation erscheinen. Die Konfliktdynamik baut auf diesen im gesellschaftlichen Gedächtnis gespeicherten Konflikt- und vor allem Gewaltgeschichte(n) auf, verschärft die Polarisierung, verselbständigt sich, verdrängt zugrundeliegende Beweggründe und verengt die Möglichkeitsräume für deren Bearbeitung.
Klar ist: Dieses massive Gewaltereignis am 7. Oktober 2023, das sich gezielt gegen Bürger*innen Israels richtete, und der darauf folgende Krieg gegen Gaza sowie die dramatischen Folgen für seine Bevölkerung mit zehntausenden von Toten bilden die zentralen Ereignisse der derzeitigen Eskalation. Das Kriegsgeschehen weitete sich durch Angriffe der Hezbollah und deren grenzübergreifende Gefechte mit der israelischen Armee schnell auch auf den Libanon aus. Ebenso gingen von den Staatsgebieten Syriens und Jemens Angriffe auf Israel aus, wenn auch deutlich weniger. Besonderes Augenmerk liegt derzeit auf der weiteren Eskalationsgefahr, die bei einer aktiveren und direkteren Teilnahme Irans an den Gewalthandlungen der Konflikte besteht. Die humanitären, ökonomischen, ökologischen und geopolitischen Folgen sowie das Risiko einer sich verschärfenden Atomwaffenpolitik sind kaum abzusehen.
Als Redaktion von W&F sind wir der Ansicht, dass es für das Verständnis der Vorgänge eine Einordnung der (trans-)regionalen Dynamiken bedarf – auch und gerade bei der Suche nach Perspektiven für gelingende Friedensprozesse. Diese sind offenbar nach über einem Jahr weiterhin nur fern am Horizont, weshalb die Erinnerung in diesem Heft umso notwendiger erscheint.
»Flächenbrand« verstehen – und verhindern?
Ein Verständnis von der Eskalationsgefahr zu gewinnen bedarf eines Blicks auf die vielen nebeneinander bestehenden Konfliktdynamiken innerhalb und zwischen den Staaten und politischen wie militärischen Akteuren des Nahen und Mittleren Ostens, die in ihrer Komplexität und Verzahnung miteinander eine sehr spezifisch herausfordernde Gesamtsituation vor Ort ergeben. Daher betrachten die Autor*innen dieser Ausgabe unabhängig von der derzeitigen Eskalation relevante Entwicklungen und Konfliktverhältnisse: beispielsweise den wachsenden Autoritarismus, die Militarisierung der Region oder auch geopolitische Interessenlagen, die sich u.a. im regionalen Einfluss der Türkei, Irans oder Saudi-Arabiens oder auch in den Normalisierungsversuchen des syrischen Regimes zeigen. Diese Akteure gewinnen inmitten der Gewalt neue Aktualität über Unterstützung bei Waffenlieferungen, beim Abfangen von Raketen und Drohnen sowie der Lieferung humanitärer Hilfe. Keiner der Akteure agiert nur aus akuter Nothilfe, in all diesen Fragen sind strategische und langfristige Zielsetzungen relevante Einflussgrößen. Daher gilt es, das Agieren dieser Akteure zu verstehen und einzuordnen.
Zudem gewinnt diese Verzahnung eine globale Bedeutung, da der Konflikt wie kaum ein anderer zur Aushandlungsfläche für verschiedenste Konfliktlinien auf dem Globus geworden ist: Die Frage nach der Solidarität mit unterschiedlichen Konfliktakteuren (seien es der Staat Israel, die politischen Führungen Palästinas, des Libanon oder auch Syriens) durchzieht ebenso innergesellschaftliche Konflikte (siehe unten), wie das Verhältnis zwischen Staaten.
Wir möchten jedoch auch betonen, dass der Blick auf die Region mitnichten dazu führen darf, die Verantwortung und »Schuld« lediglich dort zu verorten. Denn zur Verschärfung der Konfliktdynamiken in der Region – sowohl betreffend die Rhetorik wie die akute Kriegsführung – tragen auch die Verhaltensweisen weiterer Staaten und politischer Akteure bei: Im wesentlichen sind dies die USA, Russland, sowie Deutschland, Großbritannien, Frankreich und weitere europäische Staaten. Art, Form und Umfang ihrer (ausbleibenden) diplomatischen Initiativen, ihrer Rüstungslieferungen, aber auch ihres Verhaltens in den Foren der internationalen Justiz (vgl. Ambos in dieser Ausgabe, S. 34) haben wesentlichen Einfluss auf die Brutalisierung und Dauer der Kriegshandlungen. Dies kann auch schnell fatal auf Friedensprozesse wirken, denn bei zunehmender Eskalation und fortgesetzter Dauer der militärischen Auseinandersetzungen werden auf allen Seiten die Spielräume kleiner und die Bereitschaft geringer, externen Akteuren zuzuhören und auf ihre Vorschläge oder Forderungen einzugehen – dafür gibt es bereits einige Anzeichen in der aktuellen Situation.
Die daraus sich insgesamt ergebende Gefahr eines sogenannten »Flächenbrandes« – einer allumfassenden militärischen Eskalation zwischen allen oder den meisten Staaten des Nahen und Mittleren Ostens – ist nicht (mehr) zu leugnen. Wir halten jedoch den viel benutzten Begriff »Flächenbrand« für die Betrachtung regionaler Dynamiken für wenig zielführend: Erstens sind die Eskalationen nicht determiniert wie ein Brand, sie sind methodisch, gerichtet und von Akteuren gezielt ausgeübt. Zweitens finden sie nicht alle wie bei einem Brandgeschehen zunehmend ausgreifend zu den Rändern einer Region hin statt, sondern sind transnational punktuelle Eskalationen (Angriffe auf nordisraelische Siedlungen, Attentate in Teheran, Rüstungsgüterexportzusagen, Gerichtsverfahren vor internationalen Gerichtshöfen), die eine immer weiter sich vertiefende Gewaltanwendung legitimieren helfen.
Akut drehen sich die militärischen Eskalationsspiralen in verschiedenen Richtungen:
- im Verhältnis Israels zu bewaffneten Gruppen in Libanon und Jemen, sowie zu Iran und nur indirekt im Verhältnis zu Syrien;
- weiter relevant sind darin aber auch die militarisierten Konkurrenzverhältnisse von Iran und Saudi-Arabien, die im Stellvertreterkonflikt im Jemen zum Ausdruck kommen oder aber auch in der Unterstützung jeweils anderer bewaffneter Gruppen (z.B. Hezbollah, Hamas, u.a.);
- die Rolle der US-amerikanischen, europäischen und russischen militärischen Unterstützung für einzelne Staaten zur Sicherung ihrer geopolitischen Interessenlagen (vgl. Flock 2024), sowie die ähnlich gelagerten Interessen hinter den diplomatischen Bemühungen Chinas in der Region;
- und nicht zuletzt das zunehmend militärisch ausgedrückte Streben der Türkei nach einer regionalen Machtposition (Gürbey 2024).
Ein wichtiger Faktor in dieser regionalen Perspektive ist der Grad der Militarisierung. Die zentralen Staaten des Golf-Kooperationsrates haben in der vergangenen Dekade enorm aufgerüstet, sind gern gesehene Kunden von westlichen – nicht zuletzt deutschen – Rüstungsunternehmen und bauen selbst das eigene Know-How der Rüstungsproduktion aus (vgl. Bertolini et al. in dieser Ausgabe, S. 11). Das führt zu einer Festigung und Normalisierung des Autoritären und zu einer Verengung der Bearbeitungsperspektiven. Fraglich ist daher, wie in der Situation eskalierenden und zunehmend brutalisierten Kriegsgeschehens (siehe der Kommentar von Paul Schäfer umseitig) sowie stärker werdender autoritärer Strukturen Visionen für politische Lösungsansätze überhaupt Anklang finden können (siehe unten).
Nicht zuletzt hat das letzte Jahr Krieg in Gaza auch eine globale Polarisierung vertieft, die an Orten wie dem Internationalen Gerichtshof, den Foren der UNO oder auch im Umgang mit den Solidaritätsprotesten ausgetragen wird.1
Innenpolitisch: Konflikte in Diaspora und Exil
Auch wenn in diesem Heft die innenpolitischen Aushandlungen um die Haltung(en) und Positionierung(en) zu Konfliktparteien nicht im Fokus stehen, heißt dies nicht, dass wir diese ignorieren. Um der Komplexität der innerdeutschen Konfliktlagen im Umgang mit den Eskalationen im Nahen Osten, verstärkt noch durch ihre transeuropäischen oder globalen Implikationen, gerecht werden zu können, bedarf es allerdings einer gesonderten Auseinandersetzung. Wir möchten an dieser Stelle unsere Wertschätzung für die engagierte Arbeit der Organisationen zur Erinnerung an die Opfer des 7. Oktober 2023 sowie der jüdischen und palästinensischen Diaspora-Organisationen zum Ausdruck bringen.
Die Eskalation hat mit und seit diesem Datum einen massiven Einfluss auf Konflikte in der hiesigen postmigrantischen Gesellschaft genommen. Der Konflikt hat nicht zuletzt entlang von intergenerationellen Erinnerungen an jeweilige familiäre Gewaltgeschichte(n) bei vielen zu tiefen Zugehörigkeitskrisen gegenüber der deutschen Gesellschaft geführt. Die damit verbundenen und dringend notwendigen Neuaushandlungen von Erinnerungskultur in dieser pluralistischen Gesellschaft tragen zur Komplexität der innergesellschaftlichen Situation bei – ohne hierbei in einer Beliebigkeit der Interpretationsmöglichkeiten oder der Konfliktursachen enden zu dürfen.
Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit Konfliktursachen oder auch Möglichkeiten der Eindämmung der regionalen Eskalation findet in Deutschland vorwiegend in extrem zugespitzter Form statt – und weitgehend abseits der Auseinandersetzungen in den Diaspora- und Exilgruppen. Die Debatte verharrt bei zu Floskeln und episodischen Einwürfen verkürzten Angriffen auf »postkoloniale Theorie«, »importiertem Antisemitismus« und »Staatsräson«. Gleichzeitig verstärkt eine reflexhafte Versicherheitlichung als Antwort auf die Kritik an der Rolle der Bundesrepublik schon vorher bestehende Trends wie eine wachsende Repression nach innen und eine Abgrenzung nach außen. Die deutschen Entscheidungen zur Grenzpolitik und die zunehmend rassistischen Asylpolitikverschärfungen ab dem späten Frühjahr 2024, die populistische Opportunität in den Wahlkämpfen zu den Landesparlamenten im Frühherbst 2024 oder auch die Zuspitzung in Fragen der Einbürgerungsprozesse können so verstanden werden – in fast allen Fällen wird die Konfliktlage im Nahen Osten mit zur sicherheitspolitischen Ausgangsbegründung für die Maßnahmen herangezogen.2
Eine ernsthafte innenpolitische Debatte zu Fragen des gesellschaftlichen Antisemitismus und des Umgangs damit, zu Rassismen und Ausschlüssen in der Mehrheitsgesellschaft, oder gar zu langfristigen Konflikttransformationsperspektiven in der Gesellschaft kommt dagegen nicht in Gang. Bedächtigere Stimmen, die zur Reflexion einladen – und derer gibt es einige – bestimmen leider nicht die Qualität der innenpolitischen Diskussion. Obgleich wir als Redaktion eine lautstarke Debatte begrüßen, kritisieren wir die Erschaffung neuer Sündenböcke wie die »Geflüchteten«. Das ernsthafte Bemühen um eine Konflikttransformation muss stattdessen im Fokus stehen.
Eine vertiefte Auseinandersetzung über Formen des Gedenkens und der gegenseitigen Anerkennung von Gewalterfahrungen, Fragen der vergleichenden Völkermordforschung und dem daran angehängten Historiker*innenstreit 2.0 findet v.a. in der wissenschaftlichen Fachdebatte statt (vgl. Zimmerer 2023, Grigat et al. 2023).
Kommentar
Zeug*innen eines Schreckensszenarios
Wir sind Zeug*innen eines Schreckensszenarios geworden, das mit dem Tod zehntausender Menschen, darunter in der Mehrzahl Frauen und Kinder, und einer nahezu vollständigen Zerstörung lebenswichtiger Infrastruktur in Gaza, mittlerweile aber auch im Libanon verbunden ist. Hunderttausende sind aus ihren Lebensorten vertrieben worden – auf allen Seiten der Front – in Israel, im Libanon, in Palästina. Und die Gefahr einer direkten kriegerischen Konfrontation zwischen Israel und dem Iran, der die ganze Region betreffen würde, ist sehr nahe gerückt. Wir wissen im Moment nicht, wohin die furchtbare Entwicklung in dieser Region führt. Im Moment scheint die Dystopie einer waffenstarrenden Festung inmitten von Trümmerlandschaften nicht völlig abwegig. Vielleicht bleibt es bei der Fixierung eines Besatzungs- und Kontrollregimes, das die schleichende Vertreibungs- und Annexionspolitik fortsetzt und den betroffenen Menschen weiterhin Zukunftsperspektiven verweigert. Aber vielleicht gibt es doch die Chance eines Neuanfangs nach dem Gemetzel: Wiederaufbau, Versöhnung, gleichberechtigtes Miteinander.
Auf jeden Fall haben wir schon bis hierher ein Lehrstück erlebt, was sich auf militärische Eskalation gründende wechselseitige Vernichtungswünsche anrichten. Und wir haben gesehen, wie verdammt schwierig es ist, einer Spirale der Gewalt zu entrinnen, wenn sukzessive sämtliche moralische Hemmungen und juristische Schranken fallen. Die Eskalation hat eine vertikale (Brutalisierung der Kriegsführung) und eine horizontale (regionale Ausweitung des Krieges) Dimension. Die allenthalben zu hörenden Appelle nach De-Eskalation sind insofern bitter notwendig, aber sie reichen offenkundig nicht. Das Friedensgutachten 2024 der großen Friedensforschungsinstitute hierzulande enthält wichtige Beiträge zu einer friedlichen Konfliktlösung. Wir sollten mithelfen, solche Vorschläge in die Öffentlichkeit zu bringen. Wir beteiligen uns an der überfälligen Debatte über eine zukunftsfähige Konfliktlösung.
Das moralische Urteilen ist das Eine, ein Versuch der Erklärung dieses regionalen Gewaltkonflikts mit globalen Auswirkungen das Andere. Das von der Hamas angerichtete Massaker vom 7. Oktober zeigte einen Furor des Augenblicks (Blutrausch), der ohne die psychischen Folgen jahrzehntelanger Entrechtung und Unterwerfung kaum nachvollziehbar ist. Er hat aber auch zu tun mit einer permanenten Mobilmachung in den Köpfen, die kein Pardon mit dem »Feind« kennt und auf dessen Eliminierung aus ist. Das betrifft islamistische Terrororganisationen ebenso wie fanatische jüdische Siedler*innen auf der anderen Seite.
Israelische Historiker wie Moshe Zimmermann oder Tom Segev haben darauf hingewiesen, dass der 7.Oktober eine tiefgreifende Zäsur darstellt, weil damit das Versprechen des Zionismus, Juden in aller Welt eine sichere Heimstatt zu schaffen, zerbrochen sei. Die rechtsgerichtete Regierung Netanjahu hat daraus den Schluss gezogen, dass nur ein absoluter militärischer Sieg über die »terroristischen Feinde« künftig Sicherheit verbürgen könne. Aber entgrenzte Gewalt schafft auf Dauer keine Sicherheit, dies kann nur ein gerechter Friede leisten. Das unermessliche Leid dieser Tage gebiert nur hasserfüllte Verzweiflung, die sich irgendwann wieder in neuer Gewalt entladen wird.
Daher ist die Durchsetzung eines Waffenstillstandes das Gebot der Stunde. Die Gewaltorgie muss beendet, die Geiseln müssen freigelassen werden. Wenn die Waffen schweigen, muss die Friedensdiplomatie beginnen. Das Ziel kann nur sein – auch um damit die Auflage des Internationalen Gerichtshofs zu erfüllen (wir berichten in diesem Heft darüber) – das israelische Besatzungsregime zu beenden – beenden zu müssen und beenden zu können. Als Erstes wären alle gegen Menschenrechte verstoßende Praktiken (Administrativhaft, Folterungen, Checkpoint-Willkür) unmittelbar einzustellen.
Wie eine friedliche Lösung des Konflikts im Einzelnen aussehen mag, wird in schwierigen Verhandlungen unter internationaler Vermittlung zu klären sein. Die legitimen Sicherheitsinteressen der Israelis werden dabei ebenso Berücksichtigung finden müssen wie die Bedürfnisse der Palästinenser*innen nach einem selbstbestimmten und menschenwürdigen Dasein.
Paul Schäfer
Hoffnungen auf Frieden?
Dass der Angriff der Hamas auch im Zusammenhang mit den Normalisierungsabkommen zwischen Israel und arabischen Nachbarstaaten (»Abraham-Accords«) der Jahre ab 2018 zu sehen ist, soll nicht seine Brutalität und die damit verbundenen Verbrechen relativieren oder infrage stellen. Unter einer strategischen Betrachtung tritt jedoch hervor, dass dies ein Angriff war, der auch ein Ende dieser Form der Normalisierungen als Friedensbemühungen erzwingen wollte – indem er die »Palästina-Frage« wieder ins Zentrum zu rücken versuchte (vgl. Pfeifer in dieser Ausgabe, S. 17). Die durch die Reaktion auf den Angriff ausgelöste Kriegsgewalt Israels bringt die arabischen Nachbarstaaten in eine Situation strategischer Neubewertung (vgl. dazu und zu möglichen Handlungswegen, Wildangel 2024, S. 26ff.).
Hierbei ist offenkundig, dass strategische, ökonomische, politische und nur zu einem sehr kleinen Teil soziale Interessen bestimmen werden, wie sich Staaten verhalten. Der hohe Grad der Militarisierung der Region trägt nicht unwesentlich zur Einengung der für möglich erachteten Handlungskorridore bei (Primat für militärische Antworten gegenüber ausgleichenden politischen Antworten): Die Aufrüstung bestimmt die verfahrene Ausweglosigkeit, da die Angst und erlebte Unsicherheit vis-à-vis der Rüstung der jeweilig anderen Parteien keine alternativen Handlungen logisch möglich erscheinen lassen.
Bei aller Beachtung zentraler staatlicher Institutionen, ihrer Pfadabhängigkeiten und Interessengeleitetheit auf dem Weg zu Frieden, stellt sich die Frage nach der friedenspolitischen Rolle und den Handlungsspielräumen der breiten Bevölkerung. Kann sie eine zentrale Ressource für Konflikttransformation sein? Wir beobachten seit einigen Jahren einen »schrumpfenden Raum« für zivilgesellschaftliche Akteure (»shrinking space«) in der Region, der dazu führt, dass Friedensorganisationen und Abrüstungsinitiativen, Advocacy Gruppen für eine sozial-ökologische Transformation oder auch Deradikalisierungsarbeit mit nur geringen Freiräumen überhaupt noch agieren können. In der Hoffnung auf friedenspolitisch substantielle Schritte verstellt andererseits ein zu simpler Blick auf Massenproteste (bspw. in Israel) schnell den Blick: Sie sind zwar ein ermutigendes Anzeichen, aber auch noch nicht im Sinne einer umfangreichen Friedenskonzeption, geschweige denn einer gezielten Konfliktbearbeitung zu beurteilen. Einen breiten Druck der Straße auf Kriegsende, Gefangenenaustausch und nachhaltige Friedenslösungen gibt es nicht – bedingt auch in Teilen durch akute Kriegsbetroffenheit. Doch es gibt sie, die Akteure für langfristig angelegte Deeskalation, Konfliktbearbeitung und Versöhnung.
Es ist eine Binse, dass für eine gelingende Konflikttransformation die Positionen und Interessen der verschiedenen Konfliktparteien einzubeziehen und zu würdigen sind. Dass diese auch mit menschenrechtlichen oder anderweitig werteorientierten Überzeugungen kollidieren können, ist brutale Alltagstatsache. Gerade hier ist es wichtig, Akteur*innen zu stärken, die bei der Anerkennung unterschiedlicher Konflikterzählungen auch in der Lage sind, deren Grenzen zu benennen und zwischen Ursachen, Motivationen, Bedürfnissen und Interessen zu unterscheiden (vgl. Graf und Wintersteiner in dieser Ausgabe, S. 43).
Das bedeutet auch, den sozialen Bewegungen und Aktivist*innen für gerechte und damit nachhaltige Konfliktlösungen zuzuhören, transregionale Aussöhnungsprozesse sichtbar zu machen und Kritik an etablierten Gewaltökonomien der profitierenden Regierenden zu üben. Nicht zuletzt hat die (an der Gewaltbereitschaft des herrschenden Regimes gescheiterte) Revolution in Iran seit 2022 unter Beweis gestellt, wie machtvoll zivilgesellschaftlicher Widerstand sein kann, und klar benannt, was Ansätze zur Gestaltung friedvoller gesellschaftlicher Verhältnisse sein könnten (vgl. Sydiq 2024). Gerade im Sinne der globalen Verantwortungsübernahme muss zum Schutz der Bevölkerung und dieser Bewegungen eine menschenrechtlich, völkerrechtlich und völkerstrafrechtlich orientierte Haltung in den Handlungen nicht zuletzt auch Deutschlands zum Ausdruck kommen.
Für die Situation in Israel/Palästina wird es notwendig werden, erneut tragbare Handlungskonzepte zu artikulieren und umzusetzen, einschließlich der Zweistaatenlösung und der Einrichtung einer atomwaffenfreien Zone. Versuche intellektueller Provokationen und Denkanregungen gibt es einige, doch ob radikale Utopien (z.B. einer Konföderation, vgl. »Republik Haifa« von Omri Boehm (2020)) derzeit denkbar sind oder sein sollten, ist angesichts der tiefgreifenden Verletzungen und der umfangreichen Verbrechen fraglich. Wie in vielen Konfliktkontexten, in denen eine große politische Gesamtlösung nur bedingt gangbar erscheint, rufen auch für die Region viele Akteure Mindeststandards auf (z.B. völkerrechtliche Maßgaben und menschenrechtlicher Schutz), benennen partielle Kooperationsinseln (bspw. Klima-Energie-Nexus Kooperation, vgl. Majdalani und Scheffran in dieser Ausgabe, S. 38) oder weisen auf langfristig angelegte Deeskalations- und Versöhnungsperspektiven hin.
Einerseits ist sinnvoll und nachvollziehbar, dass alle akuten Forderungen sich auf ein Ende der Gewalt richten und zunächst diese enden muss – andererseits kann diese Forderung nur plausibel erhoben werden, wenn die dahinterliegende Friedensidee tragfähig formuliert ist und umfangreich ist (vgl. Graf und Wintersteiner in dieser Ausgabe, S. 43). Hier gilt es, Ideen von Kampagnen wie »A Land for All« solidarisch-kritisch zu begleiten und zu analysieren (vgl. A Land for All 2014).
Was wir noch nicht wissen
Jede noch so ausführliche Behandlung des Konfliktkontextes wird einzelnen Aspekten nicht gerecht werden. Dies ist auch in diesem Heft der Fall: Es bleibt ein Schlaglicht.
Im Sinne eines Ausblicks: Es wäre lohnenswert, bei der Betrachtung der langen Linien der Konfliktverschränkungen, auch die selektive und als mobilisierende Legitimationserzählung dienende Geschichtspolitik von Konfliktakteuren in den Blick zu nehmen. Dabei müssten friedensfördernde Projekte stärker nach vorne gehoben werden, die solche Legitimierungserzählungen zu hinterfragen anstreben (Schulbuchprojekte, historische Dialogprojekte u.a., vgl. Rohde 2013, Bevernage 2018).
Auch die sozialpsychologischen Auswirkungen kontinuierlicher traumaerzeugender (»traumagener«) Erfahrungen ganzer Bevölkerungen durch existentielle Bedrohung (Auslöschungsandrohungen, militärische Angriffe, Gewaltökonomien und ihre Netzwerke kriminalisierter Gewalt, sexualisierte Gewalt uvm.) auf deren Friedenskapazitäten müsste in den Blick genommen werden (vgl. Reuben-Shemia und Modalal 2019, APA 2023).
Es ist zu erwarten, dass die derzeitigen Eskalationen im Nahen Osten die vor Ort Betroffenen, aber auch die deutsche postmigrantische Gesellschaft noch viele Jahre begleiten werden. In den Aushandlungen zur Beilegung, Aufarbeitung und zukünftigen Prävention der Gewalt bedarf es auch klarer friedenswissenschaftlicher Stimmen. Ein Anfang sei hiermit gesetzt.
Anmerkungen
1) Die Vereinten Nationen und ihre Organisationen (Generalsekretär, Sicherheitsrat, Internationaler Strafgerichtshof, Blauhelme) werden zunehmend nicht mehr als neutrale oder legitime Akteure der Konfliktbeilegung und Befriedung akzeptiert. Dies zeigt sich sowohl im Umgang mit den datengestützten Warnungen der Vereinten Nationen auf internationaler Bühne als auch in der Missachtung vormaliger Mandate von Friedensmissionen vor Ort (bspw. UNIFIL).
2) Nach der Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts im Januar 2024 gibt es nunmehr zwei neue »scharfe Schwerter«: (1) die Einbürgerung bis zu 10 Jahre nach Entscheidung zurückzunehmen, wenn die »Unaufrichtigkeit« der Bekenntnisse zu freiheitlich demokratischer Grundordnung, Friedensgebot, Nichtangriffsgebot sowie der Sicherheit von Jüd*innen in Deutschland festgestellt wird oder (2) die Einbürgerung ganz zu verhindern, wenn die Einbürgerung suchende Person aufgrund festgestellter antisemitischer oder rassistischer Motive (unabhängig von der Strafhöhe) verurteilt wurde (vgl. Kolter 2024). Erste Auswirkungen dieser Möglichkeiten zur Verdächtigung gibt es schon, bspw. im Fall eines Rappers (vgl. MDR 2024).
Literatur
A Land for All (2014): Shared and agreed founding principles. Sommer 2014, alandforall.org/english-program.
American Psychological Association (APA) (2023): APA warns of psychological impacts of violence in Middle East. Pressemitteilung, 11.10.2023.
Bevernage, B. (2018): Narrating pasts for peace? A critical analysis of some recent initiatives of historical reconciliation through ‘historical dialogue’ and ‘shared history’. In: Helgesson, S.; Svenungsson, J. (Hrsg.): The ethos of history: Time and responsibility. New York, Oxford: Berghahn Books, S. 70-93.
Boehm, O. (2020): Israel – eine Utopie. Berlin: Propyläen.
Flock, P. (2024): Geopolitik in der Mittelmeerregion. Großmachtrivalitäten, zerfallene Staaten und europäische Abgrenzung. W&F 2/2024, S. 6-9.
Grigat, S.; Hoffmann, J.; Seul, M.; Stahl, A. (Hrsg.) (2023): Erinnern als höchste Form des Vergessens? (Um-)Deutungen des Holocaust und der „Historikerstreit 2.0“. Berlin: Verbrecher Verlag.
Gürbey, G. (2024): Die Türkei im östlichen Mittelmeer. Machtkampf um Ressourcen und Einfluss. W&F 2/2024, S. 10-12.
Kolter, M. (2024): So will die Ampel die Einbürgerung von Antisemiten verhindern. Legal Tribune Online, 24.1.2024.
MDR (2024): Rapper Abu-Shaqra. Diskussion um Einbürgerung: Präventionsstelle widerspricht Vorwurf antisemitischer Hetze. MDR, 3.6.2024.
Reuben-Shemia, D.; Modalal, M. (2019): When wounds are passed on. A short introduction to cross-generational trauma. ForumZFD, Blogbeitrag, 19.12.2019.
Rohde, A. (2013): Learning each other’s historical narrative — a road map to peace in Israel/Palestine? In: Korostelina, K.; Lässig, S. (Hrsg.): History education and post-conflict reconciliation. Reconsidering joint textbook projects. London u.a.: Routledge, S. 177-191.
Sydiq, T. (2024): Die neue Protestkultur. Besetzen, kleben, streiken: Der Kampf um die Zukunft. München: Hanserblau.
Wildangel, R. (2024): Was kommt nach dem Krieg? Gaza und der Israel-Palästina-Konflikt. W&F 2/2024, S. 26-29.
Zimmerer, J. (Hrsg.) (2023): Erinnerungskämpfe. Neues deutsches Geschichtsbewusstsein. Stuttgart: Reclam Verlag.
Maria Hartmann, Marius Pletsch, Jürgen Scheffran und David Scheuing sind Mitglieder der Redaktion von W&F.

