W&F 2010/1

EU-Militarisierung

Absichern der »globalen hierarchischen Klassengesellschaft«

von Gerald Oberansmayr

Im Jahr 2001 richtete der EU-Rat das EU-Institut für Sicherheitsstudien (EUISS) ein. Aufgabe dieses Think-Tanks sei es - so die offizielle Selbstbeschreibung - „eine gemeinsame Sicherheitskultur für die EU zu entwickeln, zu helfen die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) zu finden und zu projektieren und die strategische Debatte Europas zu bereichern.“ In seiner Eigenschaft als „EU-Agentur“ liefere das EUISS „Analysen und Prognosen für den EU-Rat und den Hohen Beauftragten der GASP“.1 Die Dokumente und Studien des EUISS gewähren einen tiefen Einblick in die militärpolitische Strategieentwicklung der EU-Machteliten. Ein Einblick, der aus friedenspolitischer Sicht beunruhigen muss. Zwei Studien des EUISS sollen im Folgenden näher vorgestellt werden.

Im Jahr 2004 entwickelte das EUISS das sog. »European Defence Paper« als Vorlage für ein Weißpapier der EU für die Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik.2 Während PolitikerInnen in Sonntagsreden gerne von der »Friedensmacht EU« schwärmen, wird in dieser Studie keine Mühe auf die friedenspolitische Bemäntelung kriegerischer Ziele aufgewendet: „Die Transformation Europäischer Streitkräfte von der Landesverteidigung in Richtung Intervention und Expeditionskriegszügen ist eine unabdingbare Voraussetzung für eine effektive Europäische Sicherheitsstrategie.“ (S.55). Die EU „will mehr globale Verantwortung übernehmen ... und eine Strategie präventiven Engagements (...) übernehmen.“ Dafür brauche man sowohl „mobile, flexible und schnelle Streitkräfte für Expeditionsinterventionen“ als auch Besatzungstruppen, um diese „über sehr lange Zeiträume einzusetzen und aufrechtzuerhalten.“ (S.7). Militärische Szenarien werden entwickelt, „in denen die nationalen Atomstreitkräfte von EU-Mitgliedstaaten (Frankreich und Großbritannien) in die Gleichung entweder explizit oder implizit eingehen können.“ (S.68).

Regionalkriege zur Verteidigung europäischer Interessen

Über die Missionsziele für die imperialen Streitkräfte wird ebenfalls Klartext geredet: „Stabilitätsexport zum Schutz der Handelswege und des freien Flusses von Rohstoffen.“ (S.13). Dafür gelte es - so heißt es wörtlich - „Regionalkriege zur Verteidigung europäischer Interessen“ (S.80) zu führen. Dankenswerterweise klären die EU-Strategen darüber auf, was hinter dem sog. »Antiterrorkampf« tatsächlich steht: „Künftige regionale Kriege könnten europäische Sicherheit und Wohlstand direkt bedrohen. (...) Durch die Unterbrechung der Ölversorgung und/oder eine massive Erhöhung der Energiekosten, ... oder die Störung der Handels- und Warenströme.“ (S.81). Auch ein Vorbild für diese »Regionalkriege zur Verteidigung europäischer Interessen« wird ausführlich dargelegt: der Golfkrieg von 1991. „Europa kann seine Verteidigungspolitik nicht auf der Annahme aufbauen, dass es nicht größere militärische Herausforderungen im Mittleren Osten gibt, die von der gleichen oder sogar einer größeren Dimension als der des Golfkrieges von 1990-1991 sind.“ Zur Erinnerung: Im Golfkrieg Anfang der 1990er Jahre wurden ca. 300.000 IrakerInnen unmittelbar getötet.

Auch die entsprechenden militärischen Planspiele werden elaboriert: „In einem Staat X am Indischen Ozean haben antiwestliche Elemente die Macht erlangt und benützen das Öl als Waffe, vertreiben westliche Bürger und greifen westliche Interessen an. Darüber hinaus haben sie mit der Invasion des Nachbarlandes Y begonnen, dessen Regime pro-westlich orientiert ist und eine zentrale Rolle beim freien Fluss von Öl in den Westen spielt. (...) Die EU interveniert gemeinsam mit den USA mit einer starken Streitmacht, um das Land Y zu unterstützen und ihre eigenen Interessen zu schützen. (...) Das militärische Ziel der Operation ist es, das besetzte Territorium zu befreien und Kontrolle über einige der Öl-Infrastrukturen, Pipelines und Häfen des Landes X zu bekommen. (...) Der EU-Beitrag besteht aus 10 Brigaden (60.000 Soldaten). Diese Landstreitmacht wird von 360 Kampfflugzeugen und zwei maritimen Einheiten, die aus 4 Flugzeugträgern, 16 amphibischen Schiffen, 12 U-Booten, 40 Fregatten, 2 Kommandoschiffen, 8 Unterstützungsschiffen und 20 Patrouillierschiffen bestehen, unterstützt.“ (S.84).

»Kriege führen und gewinnen«

Weil sich die imperialen Streitkräfte noch nicht in der Lage sehen, dieses Golfkriegsszenario zu verwirklichen, durchzieht die Klage über die »militärischen Defizite« den Text von Anfang bis zum Schluss. „Die Fähigkeit, Kriege in einem anspruchsvollen Szenario zu führen und zu gewinnen, ist noch sehr beschränkt.“ Denn: „Noch fehlt es der EU an militärischer ‚Eskalationsdominanz'.“ (S.105) Das soll sich ändern. Daher ist das allgemeine Credo klar: „Die militärischen Ausgaben müssen gesteigert werden.“ (S.86) Alle Waffengattungen, die für die Entwicklung der sog. »Netzwerkzentrierten Kriegsführung«, die die USA in Afghanistan und im Irak so „eindrucksvoll“ (O-Ton EUISS) vorgeführt haben, müssten ausgebaut und verbessert werden. Denn „die anspruchsvollste Aufgabe ist die Machtprojektion, die aus der Kombination von Luftschlägen, Landangriffen und amphibischen Operationen besteht.“ (S.103)

»Symbiotische Beziehung«

Fünf Jahre später, im Juli 2009, legt das EUISS eine neue Studie vor: »What Ambition for European Defence in 2020«.3 Versehen mit einem Vorwort von Javier Solana skizziert der Think Tank die militärpolitische Zukunft der EU bis zum Jahr 2020. Angesichts der tiefen Wirtschaftskrise werden dabei die ökonomischen Interessen und Hintergründe der EU-Militarisierung noch ungeschminkter vorgetragen.

Die wichtigste Aufgabe der EU-Sicherheitspolitik werde es - so das EU-ISS - sein, die „transnationalen funktionellen Ströme und deren Knotenpunkte“ sicherzustellen: also vor allem die Waren-, Kapital- und Rohstoffströme. Das erfordere „globale militärische Überwachungskapazitäten und die Fähigkeit zur Machtprojektion“ (S.63) - vor allem durch die Zusammenarbeit von „Transnationalen Konzernen“ und den sog. „Postmodernen Gesellschaften“ (EU, USA), da diese an der Spitze der „globalen hierarchischen Klassengesellschaft“ stünden und damit die wichtigsten „stakeholder“ der Globalisierung seien. Die EU brauche daher eine „symbiotische Beziehung mit den Transnationalen Konzernen“, denn „diese brauchen den Staat und der Staat braucht sie“ (S.62). Mit Hilfe eines ausgereiften „zivil-militärischen Instrumentariums“ müsste dabei jenen unteren zwei Dritteln der Weltbevölkerung begegnet werden, die den Bodensatz dieser »globalen Klassengesellschaft« bilden. Diese werden in drei, unterschiedlich zu behandelnde bzw. bekämpfende Kategorien unterteilt:

Erstens: Den Eliten willfähriger Staaten - v.a. im arabischen Raum - solle „militärischer Beistand“ bei der „Modernisierung des Sicherheitssektors“ geleistet werden, um in ihren Staaten, die oft Brutstätten des „transnationalen Terrorismus und der organisierten Kriminalität“ seien, für Ruhe und Ordnung zu sorgen.

Zweitens: Den sog. „vormodernen Gesellschaften“, die die „unterste Milliarde der Menschheit“ beherbergen, solle durch „State-buildung“ - Marke Afghanistan - unter die Arme gegriffen werden. Während für die Konzerne die „Ströme der Globalisierung“ fließen sollen, sollen gegenüber diesen extrem armen Staaten die Ströme unterbunden werden und zwar durch entsprechende „Abriegelungs-Operationen, die die global Reichen von den Spannungen und Problemen der Armen abschirmen. Da das Verhältnis der Weltbevölkerung, die in Armut und Frustration lebt, massiv bleiben wird, werden die Spannungen und Konflikte zwischen ihrer Welt und der der Reichen weiterhin wachsen. Da wir bis zum Jahr 2020 die Wurzeln dieser Probleme nicht gelöst haben werden, ist es wichtig die Absperrungen zu verstärken.“ (S.66).

Drittens: Die größte militärische Herausforderung verorten die EU-Strategen bei den sog. „entfremdeten modernen Staaten“, also jenen, die offenen Widerstand gegen die Globalisierung und deren „Ströme“ leisten würden. Diesen Staaten müsse auf die harte Tour begegnet werden: „Die Aufgabe besteht darin, diese so weit als möglich umzudrehen und, falls das scheitert, mit ihrer Kampfansage an die globalisierte Welt fertig zu werden. Das wird Kapazitäten für harte Machtausübung erfordern.“ Hier kann es „zur direkten militärischen Konfrontation kommen.“ (S.62) Zu diesen Staaten werden neben Nord-Korea und Burma auch - wenn auch noch mit Fragezeichen - Russland gezählt, d.h. die EU-Strategen schließen Krieg gegen Russland bis zum Jahr 2020 nicht aus, wenn dieses nicht bereit sei „umzudrehen“, und sich den globalen „Strömen“ der Transnationalen Konzerne und der mit ihnen „symbiotisch verbundenen Staaten“ hemmungslos zu öffnen.

360.000 Mann-Frau-Truppe

Damit die EU in der Lage ist, diese Kriegsdrohungen mit entsprechenden militärischen Fähigkeiten zu hinterlegen, schlägt die EU-Studie ein ganzes Maßnahmenbündel der weiteren Militarisierung vor:

Bis 2020 soll eine 360.000 Mann/Frau starke EU-Eingreiftruppe einsatzbereit sein, um sicherzustellen, dass permanent 120.000 SoldatInnen für globale Militäreinsätze zur Verfügung stehen.

Rasche zusätzliche Rüstungskapazitäten brauche es außerdem im Bereich des „Streitkräfteschutzes in kriegsähnlichen Szenarien“, beim strategischen Waffen- und Truppentransport sowie im Bereich der Weltraum-gestützten Aufklärung und Überwachung, um eine moderne „netzwerkszentrierte“ Kriegsführung sicherzustellen.

Unbedingt gestärkt werden müssten die EU-Kommandostrukturen für Auslandseinsätze.

Größte Bedeutung habe die rasche Umsetzung der Militarisierungs- und Zentralisierungsvorhaben des Lissabon-Vertrages (Schaffung von militärischen »Avantgarde-Gruppen«, Schaffung des Amtes eines zentralen EU-Außen- und Kriegsministers, Erweiterung des militärischen Aufgabenfeldes, Schaffung des EU-Rüstungsetats, usw.). Das alles gelte es umzusetzen - unabhängig davon, ob der neue EU-Vertrag nun auch ratifiziert werde oder nicht.

Bei diesem Demokratieverständnis verwundert nicht mehr, dass im Bereich der Sicherheitspolitik grundsätzlich die Aushebelung demokratischer Entscheidungsmechanismen angedacht wird: „Die Möglichkeit militärische Missionen zu starten, bevor alle politischen Diskussionen dazu stattgefunden haben, muss in Erwägung gezogen werden, damit es zu keinen Verzögerungen kommt.“ (S.157)

EU-Konzerne in Führung

Die Hektik, mit der in der EU die Militarisierung vorangetrieben werden soll, korrespondiert mit der wachsenden globalen Macht von EU-Konzernen. Das bestätigt die vom US-amerikanischen Wissenschaftsmagazin regelmäßig herausgegebene Liste der 500 größten Konzerne.4 Waren 2004 in dieser Liste noch die US-Konzerne in Führung, so haben ihnen 2008 die EU-Konzerne den Rang abgelaufen. 178 EU-Konzerne mit einem Umsatzanteil von 39,2% befinden sich unter den Top 500. Zum Vergleich: USA: 140 Konzerne (Umsatzanteil 30,1%), Japan: 68 Konzerne (Umsatzanteil 11,9%), China: 37 Konzerne (Umsatzanteil 6,6%). Die EU-Konzerne sind sowohl beim Warenexport im allgemeinen und dem Rüstungsexport im besonderen klare Nummer 1. Geradezu explodiert sind zwischen 2004 und 2007 die Nettokapitalüberschüsse der EU-Konzerne bei den ausländischen Direktinvestitionen, sie übertrafen im Jahr 2007 die US-amerikanischen um das vier- und die japanischen um das sechs-fache.5 Auch beim Import strategischer Rohstoffe sind die EU-Staaten ganz vorne. Der Anteil der EU am globalen Rohölimport betrug 2007 28,3% (vor den USA mit 22,5%, Japan mit 9,4% und China mit 7,3%), beim Anteil an den weltweiten Erdgasimporten führten die EU-Europäer mit 35,2% (vor den USA mit 14,2%, Japan mit 9,6% und der Ukraine mit 5,4%). Und nicht zuletzt verbraucht die EU 32,4% des globalen Urans (USA: 30,9%, Japan 10,1%, Russland 5,8%).6 Der Zugang zu Absatz-, Kapitalmärkten und Rohstoffquellen für die „Weltmacht EU“ (O-Ton Verheugen) soll nötigenfalls auch mit militärischer Gewalt abgesichert werden. Schon Anfang der 1990er Jahre, als die EU mit dem Vertrag von Maastricht aus der Taufe gehoben wurde, hatte der damalige Generalinspekteur der deutschen Bundeswehr Klaus Naumann diese neue Weltordnung auf den Punkt gebracht: „Es gelten nur mehr zwei Währungen in der Welt: wirtschaftliche Macht und die militärischen Mittel, sie durchzusetzen.“ 7

Herausforderung für die Friedensbewegung

Mittlerweile ist die Ratifizierung des EU-Reformvertrages über die Bühne gegangen. Die Bevölkerungen der meisten Länder wurden von vornherein nicht gefragt. Die Volksabstimmungen in Frankreich, den Niederlanden und das erste Referendum in Irland wurden kalt entsorgt. Im Frühjahr 2009 fand bereits ein Militärmanöver statt, das frappant an die strategischen Zielsetzungen der neuesten EUISS-Studie erinnert. Beim EU-Militärmanöver »European Endeavour 2009«, das im Mai 2009 in Deutschland über die Bühne ging, wurde der Einmarsch einer 40.000 Mann/Frau starken EU-Truppe samt Luft- und Seeunterstützung in einem Staat in 5.000 km Entfernung inszeniert. Geprobt wurde eine „Operation hoher Intensität“, also offener Kriegseinsatz. Die Übungsannahmen waren so gestaltet, dass unschwer die rohstoffreiche kaspische Region als Kriegsziel auszumachen war. Die EU-Machteliten werden rasch daran gehen, die neuen Möglichkeiten des Lissabon-Vertrages für die weitere Militarisierung zu nutzen. Dem mit aller Entschiedenheit entgegenzutreten, gehört zu den wichtigsten Herausforderungen der Friedensbewegungen hierzulande.

Anmerkungen

1) http://www.iss.europa.eu/about-us/

2) Institut für Sicherheitsstudien (2004): European Defence - A proposal for a White Paper, www.iss-eu.org

3) Institut für Sicherheitsstudien (2009): What Ambitions for European Defence in 2020, http://www.iss.europa.eu/uploads/media/What_ambitions_for_European_defence_in_2020.pdf

4) Fortune (2008): The 500 biggest companies, http://money.cnn.com/magazines/fortune/global500/2008/full_list/

5) UNCTAD (2008): World Investment Report 2008, http://www.unctad.org/Templates/webflyer.asp?docid=10502&intItemID=2068&lang=1

6) Bundesanstalt für Geowissenschaften, http://www.bgr.bund.de/

7) Der Spiegel vom 18. Januar 1993, vgl. http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13679608.html.

Gerald Oberansmayr ist Mitarbeiter der »Werkstatt Frieden & Solidarität« in Linz/Österreich (www.werkstatt.or.at), Redakteur der antimilitaristischen Zeitschrift »guernica« und Autor des Buches »Auf dem Weg zur Supermacht - Die Militarisierung der Europäischen Union« (Wien).

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2010/1 Intellektuelle und Krieg, Seite 42–44