W&F 1985/3

„Eureka“. Ein Zauberwort?

von Johannes Becker

Der französische Staatspräsident Mitterrand hat der offensiven US-amerikanischen Propagierung einer Militarisierung des Weltraums 1 und dem Angebot einer Beteiligung an ihrer Vorbereitung an die Adresse der Staaten Westeuropas einen forschungs- und militärpolitischen Akzent seiner „Vision Europas“ entgegengestellt. Die westeuropäischen Länder müßten sich zu einer „European Research Coordination Agency“, kurz Eureka genannt, zusammenschließen. Was will Eureka, und warum schlägt gerade Frankreich vor, der Regierung Reagan bei ihrer Suche nach Forschungs- und Entwicklungskapazitäten westeuropäischer Provenienz aus dem Ruder zu laufen?

Bei der Eureka- Initiative vom April 1985 handelt es sich keineswegs um einen neuartigen Vorstoß von Pariser Seite; die Regierung Mitterrand ist bereits des öfteren mit Offerten zu stärkerer Zusammenarbeit vornehmlich an ihren westdeutschen Nachbarn herangetreten: Erst am 5. Februar 1985 war Premierminister Fabius (der ab 1981 für das Finanzministerium, vor dem Juli 1984 für die Forschungs- und Technologiepolitik Frankreichs verantwortlich gewesen war) vor dem Deutschen Industrie- und Handelstag 2 mit einem flammenden Appell zur Stärkung der Achse Bonn- Paris aufgetreten; Außenminister Dumas war im September 1984 vielbeachteter Gast der Kruppschen Villa Hügel 3 gewesen.

Paris: Ein „technologisches Jalta“ verhindern

„Warum Eureka? Von der Notwendigkeit einer europäischen Technologie- und Forschungsgemeinschaft“ überschreibt die französische Regierung eine jüngst erschienene Presseerklärung 4. Darin heißt es: „Angesichts der dritten industriellen Revolution, die im wesentlichen von der Anfang der 70er Jahre eingeleiteten Entwicklung der neuen Informatik- Weltraum- und Telekommunikationstechnologien getragen wird, scheint die Zukunft Europas noch zwischen zwei gegensätzlichen Schicksalen zu schwanken: Wird es ein Markt werden, den sich die beiden dynamischsten Industriemächte der Welt, die USA und Japan, aufteilen, oder wird es, wie bei den beiden vorherigen industriellen Revolutionen, ein eigenständiger Akteur des sich ankündigenden wirtschaftlichen und sozialen Wandels werden? Natürlich geht es dabei auch um die politische Unabhängigkeit Europas.“

Die Regierung in Paris analysiert im folgenden Stärken und Schwächen der derzeit betriebenen europäischen Forschung. Zu den Schwächen zählt sie die Mikroelektronik („Europa praktisch ein Nichts“), die Informatik, die Unterhaltungselektronik, den Werkzeugmaschinenbau und die Biotechnologie („tritt Europa ebenfalls auf der Stelle, auch wenn sein Rückstand noch nicht als unaufholbar betrachtet werden kann.“).

Die Stärken bisheriger Koordination werden im Europäischen Weltraumprogramm der ESA und im Verkehrssektor (Airbus) gesehen. Der Bereich der Kernenergie wird mit dem Europäischen Kernforschungszentrum CERN in Genf wie auch mit national weit fortgeschrittenen Entwicklungsstadien in Frankreich und der Bundesrepublik angeführt; dies gelte auch für die Telekommunikation mit dem „Esprit“-Programm sowie „EG-Trumpfen“ in wiederum Frankreich, der BRD und Großbritannien. „Dennoch besteht kein Gleichgewicht zwischen Schwächen und Stärken“, heißt es weiter in der Studie. Insgesamt gesehen vergrößere sich dies wird auch an Hand der Anwendungen gezeigt - der technologische Abstand zwischen Europa und seinen Konkurrenten USA und Japan seit etwa 1970 wieder, „und das in einer Zeit, da die strategischen Markierungspunkte für die industrielle Macht im nächsten Jahrhundert gesetzt werden.“

Militärische Bezüge

Erstmals werden in „Warum Eureka?“ von der Pariser Regierung auch direkte Bezüge zu SDI hergestellt, dessen Investitionen „sicherlich die Eigenkräfte der amerikanischen Technologie stärken“ werden - Forschungen auf militärischem und zivilem Gebiet überschnitten sich dabei häufig. Wie SDI sich also auf den zivilen Bereich auswirken werde, so könne Eureka „ein ziviles Programm, die Entwicklung militärischer, insbesondere zu friedlichen Zwecken nutzbarer Geräte ermöglichen (...), zum Beispiel Beobachtungs- und Horchsysteme für den Weltraum, die unerläßlich sind für eine wirksame Kontrolle der Rüstung bzw. Abrüstung.“

SDI und Eureka schlössen sich aufgrund ihrer verschiedenen Schwerpunkte also keineswegs aus. Die Frage nach der europäischen Beteiligung an den amerikanischen Forschungsvorhaben allerdings könne nur so beantwortet werden, „daß mögliche transatlantische Kooperationen um so vorteilhafter für jene (europäische Staaten, J. M. B.) sein werden, die sich beteiligen möchten, je stärker Europa ist.“ Für die europawilligen Länder bestehe jedoch heute „bereits eine gewisse Dringlichkeit, denn es müssen Fachleute und Gelder auf dem europäischen Kontinent gebunden werden, die sich ohne ein wirklich attraktives Projekt bei uns zum amerikanischen Kontinent hingezogen fühlen könnten und dann für den wissenschaftlichen und technologischen Fortschritt ihres Landes verloren wären.“

Eureka und die „Variable Geometric“

Einer Präambel gleich formuliert die französische Regierung ihre Erfahrungen aus den jahrzehntelangen EG-Querelen in Bezug auf ihre Initiative: „Eureka soll keine neue Institution werden, auch keine gemeinsame Politik, mit den schwerfälligen Entscheidungsregeln und begrenzten Finanzierungsmöglichkeiten der EG. Eureka sollte vielmehr als gemeinschaftliches Vorgehen mit „variabler Geometrie“ betrachtet werden.“

„Variable Geometrie“ meint hier, daß das Projekt und seine Einzelvorhaben zwar der europäischen Integration dienen sollen, daß jedoch nur die Staaten mitsprache- und entscheidungsbefugt sind, die sich auch finanziell beteiligen. Die Finanzierung der Programme sollte neben den kommunalen EG-Haushalten vor allem durch Beiträge einzelner Länder bestritten werden. Die „Entwicklung eines politischen Willens der auf europäischer Ebene interessierten Länder“ sei eine Grundvoraussetzung für Eureka überhaupt, und: Dazu reichen allein die Kräfte des Marktes nicht aus.“ Das „Gewicht der Regierungen ist unerläßlich“ heißt es unter Verweis auf NASA in den USA und MITI in Japan.

Eureka konkret

Nach den Pariser Vorstellungen muß auf den Vorarbeiten der EG-Kommission aufbauend durch Zusammenarbeit von Industrie und Forschungszentren „ein Netz der Forschung und Entwicklung“ geschaffen werden, „das in seiner Effizienz mit dem in den Vereinigten Staaten bestehenden vergleichbar ist.“

Drei Gruppen von Schlüsselbereichen der Zukunft sieht die französische Regierung:

  1. die Informationstechnologien

    • Großrechenanlagen
    • wissenschaftliche Rechner und künstliche Intelligenz
    • schnelle Mikro- Informatik
    • optische Netze
    • Roboter der 3. Generation und elektronische Verfahrenstechnik.
  2. die Produktionstechnologien

    • Roboter der 3. Generation und elektronische Verfahrenstechnik
    • hochintegrierte flexible Werkstätten
    • Laser
    • Verfahrenstechniken für Arbeiten unter extremen Bedingungen
    • neue Werkstoffe.
  3. die Biotechnologien

    • neue Werkstoffe
    • Biotechnologien im Agrar- Nahrungsmittelbereich.

Warum gerade Frankreich?

Die Linksregierung aus Kommunisten und Sozialisten war 1981 mit großen Plänen in der Forschungs- und Technologiepolitik gestartet 5. Damals war das Ziel des berühmten Gesetzes Nr. 82- 610 gewesen, „Frankreich zur dritten Wirtschaftsmacht der Erde“ zu entwickeln, „dem Land zu helfen, der Krise zu entrinnen, den Weg eines (qualitativ) neuen Entwicklungsmodells zu öffnen“. 1985 sind die Ziele bescheidener geworden; Francois Mitterand versucht seit Mitte 1982, der Krise durch einen rigiden Austeritätskurs Herr zu werden - eine Politik, die auch am Ressort Forschung und Technologie nicht spurlos vorübergegangen ist. Der Dreijahresplan (1986-1988) formuliert nur noch das Ziel, Frankreich „in eine wettbewerbsfähige Lage gegenüber seinen vornehmen wirtschaftlichen Partnern zu versetzen.“6

War 1982 für die heutige Situation ein Anteil der Ausgaben für Forschung und Entwicklung von 2,5 Prozent am Bruttoinlandsprodukt vorgesehen (1981 unter Giscard: 1,8 %), so wurden lediglich 2,25 Prozent erreicht.

Diese Schwächepositionen wurden seit 1981 nur wenig abgebaut, die ökonomische Krise hingegen hat sich weiter verschärft: die Arbeitslosigkeit wuchs von (offiziell) 1,7 Millionen auf 2,5 Millionen, die Inflation blieb mit (nach Angaben der CGT) über 9 Prozent (1981: 14 %) auch im internationalen Vergleich sehr hoch 7.

In dieser Lage geht die französische Regierung, von Reagans SDI herausgefordert, in die unausweichliche Gegenoffensive. Frankreich sieht wesentliche Bereiche, in denen seine Forschung Spitzenstellungen einnimmt, wie z. B. die Raumfahrt, den gesamten Nuklearbereich und die Telekommunikation, von einer US- amerikanischen Sogwirkung bedroht; andere französische Hegemonialbereiche wie vor allem die Automobil- oder Textilbranche stecken bereits in einer tiefen Krise.

Französische Trümpfe

Die Regierung in Paris hält zwei Trümpfe in der Hand, deren Gewicht man im europäischen Rahmen nicht unterschätzen sollte und die den Eureka- Vorstoß gerade von französischer Seite noch verständlicher machen. Der erste liegt in den Entwicklungsmöglichkeiten seiner strukturellen Forschungsvoraussetzungen mit dem breiten verstaatlichten Bereich sowie in der nationalen Organisation seiner Forschung. Auch in den Bereich der Struktur gehört die Organisation der nationalen Forschung selbst: Der zentralistische Musterstaat Frankreich verfügt mit dem CNRS (Centre National de Recherche Scientifique) und seinen Verbundstellen über eine der größten staatlichen Forschungseinrichtungen der Erde. Von den 25.000 Beschäftigten des CNRS sind 10.000 Wissenschaftler, die am Centre selbst mit seinen 430 Instituten Grundlagenforschung betreiben. Das CNRS kooperiert mit etwa 985 weiteren nationalen Hochschul- und sonstigen Institutionen; die internationalen Kontakte sind hervorragend.

Der zweite Trumpf Frankreichs bei seiner Eureka- Offerte an die westeuropäischen Nachbarn liegt in seinem Atomwaffenmonopol auf dem europäischen Festland. Der sozialistische „Matin“ spekulierte im Anschluß an den Bonner „Weltwirtschafts- Gipfel, der mit einer Brüskierung Mitterrands durch Kohl und der weitgehenden Hofierung Reagans durch den deutschen Kanzler geendet hatte, und an das Konstanzer Treffen Mitterrand/ Kohl, „die Deutschen erwarten als Preis für ihren Verzicht auf die amerikanische SDI daß die Franzosen ihrerseits auf die grundlegende Autonomie ihrer Nuklearstreitmacht verzichten.“ 8

Eureka - Versuch einer vorläufigen Einschätzung

Ich will abschließend versuchen, die gegenwärtigen Auseinandersetzungslinien genauer zu bestimmen, denn „das wahre Eureka ist schwer zu finden“. (natura Vol., 315, 6 June 1985, p. 446)

  1. Die französischen Motive sind bestimmt von dem vorrangigen Interesse der Wahrung nationaler Souveränität und Größe. Der Ausbau weltpolitischer und weltwirtschaftlicher Positionen wird v. a. im Rahmen eines starken europäischen Verbundes erwartet und demzufolge angestrebt. Die Verteidigung einer superioren Stellung in Europa sieht Frankreich geknüpft an eine enge Koordination mit Bonn. Deshalb hat sich F. Mitterrand auch nach dem Mißklang des Weltwirtschaftsgipfels beeilt zu erklären, Eureka sei eine „deutsch- französische Erfindung“.
  2. Präsident Mitterrand und die französ. Regierung begreifen SDI in erster Linie als technologische Herausforderung, auf die Frankreich und Westeuropa reagieren müsse. Um ein Höchstmaß an europäischer Kooperation und Ressourcenmobilisierung zu erreichen, wird eine pragmatische Lösung vorgeschlagen: enge Zusammenarbeit der EG-Staaten in der Forschung und Technologieentwicklung bei Offenhaltung ziviler oder militärischer Optionen.
  3. In der stärkeren Ausrichtung auf zivilindustrielle Forschung und in der Betonung europäischer Souveränität bildet Eureka in der Tat einen Gegenpol zu SDI. Dennoch ist es nicht als prinzipielle A1ternative zum SDI- Programm zu sehen. Der Vorrang der Orientierung auf wirtschaftlich- technologische Konkurrenzfähigkeit steht nicht im Gegensatz zur militärischen Nutzung der Forschungsergebnisse. Auch neue militärstrategische Überlegungen sind unter der Hand damit verbunden. Demzufolge hat Verteidigungsminister Hernu erklärt, SDI werde durch Eureka nicht überflüssig. Es ist daher auch unklar, inwieweit mit Eureka die Positionen für einen späteren Einstieg verbessert werden sollten. „Irgendwann, so ist zu vermuten, wird Frankreich sich mit „Eureka“ an SDI beteiligen wollen.“(FAZ v. 7. 5. 1985, S. 12)
  4. In der Bundesrepublik sieht sich die Regierung durch die Debatte um SDI und Eureka in ein großes Dilemma gestürzt. Grundsätzliche Fragen künftiger Militärstrategie, des Ost- West- Verhältnisses, der forschungspolitischen Orientierung und der gesellschaftspolitischen Entwicklung (Kosten der SDI-Beteiligung!) sind auf die Tagesordnung gesetzt und drohen das Regierungslager zu spalten.

    Diejenige Gruppierung, die voll auf die gegenwärtige US-Politik und SDI setzt, versucht den für nötig erachteten Brückenschlag nach Paris über die Integration von Eureka in SDI zu erreichen. „Der forschungspolitische Sprecher der Unionsfraktion, Lenzer, hat sich dafür ausgesprochen, das vorgesehene europäische Programm für ausgewählte Spitzentechnologien (Eureka) so mit SDI zu verzahnen, daß Eureka der gemeinsame europäische Kooperationsbeitrag in der amerikanischen Weltraum- Initiative werden könne.“ (FAZ v. 30. 5. 1985, S. 2)
    Eine andere Gruppierung sieht neben Risiken im Ost- West- Verhältnis das Problem einer SDI- Beteiligung in einer politisch riskanten Umverteilung riesiger staatlicher Finanzmittel in den Militärsektor. Inwieweit SDI-Beteiligung Weltmarktpositionen erhalten bzw. verbessern kann, wird noch abwartend bis kritisch beurteilt. Von daher ergibt sich eine stärkere Gewichtung des Eureka- Projekts - zumal man hier an das inzwischen enge deutsch- französische Bündnis in der Raumfahrt und der Rüstungsproduktion anknüpfen kann.

  5. Die Oppositionspartei SPD setzt auf Eureka. Der Bundestagsabgeordnete Karsten Voigt hat erklärt, Eureka sei im Gegensatz zu SDI ein ziviles Programm. (FAZ, 30. 5. 1985, S. 2)
    Der Wunsch ist hier Vater des Gedankens. Der SPD geht es v. a. um den Nicht- Einstieg in SDI. Dazu werden vernünftige Argumente vorgetragen. Auch gegen eine enge westeuropäische Koordination der Forschungspolitik ist nichts einzuwenden. Dennoch sollte man nicht die Augen vor der Ambivalenz von Eureka verschließen. Die Alternative zu SDI ist und bleibt eine konsequente Rüstungskontroll- und Abrüstungspolitik.
  6. Die jüngste internationale Entwicklung scheint zu bestätigen, daß sich Mischformen zwischen SDI und Eureka anbahnen. Norwegen, Italien und Großbritannien haben inzwischen Kontakte zu den SDI-Planern und zum französischen Außenministerium aufgenommen.

Anmerkungen

Siehe zum Gesamtkomplex der französischen Linksregierung mein Buch „Das französische Experiment“, das im September beim Dietz (Nachf.)-Verlag in Bonn erscheinen wird.

Anmerkungen

1 Vgl. hierzu Informationsdienst Wissenschaft und Frieden 2/ 85.Zurück

2 Die Rede Fabius ist in autorisierter Form vom „Frankreich-Info“ (FI) der Französischen Botschaft veröffentlicht worden; Nr. 6/85 v. 11. 2. 1985 Zurück

3 FI 32/ 84 v. 26. 9. 1984 Zurück

4  Erschienen als FI 14/ 85 am 4. 6. 1985 Zurück

5  Vgl. hierzu die Beiträge Lucien Boubys im BdWi-Forum 1982, 50, S. 16 ff. sowie Erika Hüttenschmidts in Lendemains 8, 1983, 29, S. 15 ff. Zurück

6  Vgl. hierzu die CGT-Zeitschrift Options Nr. 90 v.28. 5. 1985, S. 9 ff. Zurück

7 Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 30. 5. 1 984 Zurück

8 Zit. nach „Matin“ v. 29. 5. 1985 Zurück

Johannes M. Becker, Dr. phil, ist Politikwissenschaftler in Marburg und arbeitet derzeit über die Außen- und Militärpolitik der Regierung Mitterrand.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1985/3 1985-3, Seite