W&F 2011/3

Europa am Ende – Arabien im Aufbruch

von Elias Bierdel

Europa findet angesichts der atemberaubenden Umbrüche in der arabischen Welt keine schlüssige Antwort – und offenbart damit immer mehr den jämmerlichen Zustand seiner Eliten und Institutionen. Von kluger Nachbarschaftspolitik im Süden keine Spur. Beiträge zur konstruktiven Gestaltung der Übergangsprozesse? Friedenspolitik? Fehlanzeige! Europa schafft sich ab.

Besonders schlimm treibt es die deutsche Bundesregierung, die mit ihrem Schlingerkurs vom Auftritt des Außenministers auf dem Tahir-Platz über die Stimmenthaltung im UN-Sicherheitsrat und die nachfolgende Lieferung von Bomben und Raketen an Großbritannien für deren Libyen-Einsatz bis hin zu den geheim gehaltenen Panzerlieferungen an Saudi-Arabien immerhin ein klares Signal an die mutigen Aufständischen sendet: Wenn es um Eure Freiheit geht – rechnet nicht mit uns! Zur Bestätigung verliest ein Unionsabgeordneter im Deutschen Bundestag den Brief des Krauss-Maffei-Betriebsrates, in dem dieser wegen der „schlechten Auftragslage“ des Rüstungskonzerns barmt. Heuchlerischer geht es nimmer.

Auf keinem Gebiet aber wird der moralisch-politische Bankrott so sichtbar, wie beim Umgang mit Flüchtlingen und MigrantInnen, die zu hunderttausenden die Kriegs- und Nachkriegsregionen verlassen (müssen), von denen aber nur wenige die Überfahrt nach Europa wagen.

Kaum waren nach dem Sturz des Ben-Ali-Regimes die ersten Boote auf Lampedusa eingetroffen, rief Italien den »humanitären Notstand« aus. Die vorsätzlich geschürte Hysterie griff planmäßig umgehend auf den Rest der nervlich stark angegriffenen (Euro-Krise!) EU-Mitgliedsländer über. Auch aus Bayern war reflexhaft der Ruf zu hören, wonach „notfalls die Schlagbäume wieder geschlossen“ werden müssten. Frankreich stoppte internationale Fernzüge, nachdem die Regierung in Rom für die ohne Einladung eingereisten Nordafrikaner Reisepapiere ausgestellt hatte. Am Ende richtete dann Dänemark jene regulären Grenzkontrollen wieder ein, deren Abschaffung bis dato als Spitzenprodukt des »Acquis Communitaire«, der zivilisatorischen EU-Errungenschaften, galt. Freizügigkeit in der Schengenzone? War einmal.

Dabei geht es nicht nur um ein paar lieb gewonnene Reisefreiheiten für Wohnwagen-Touristen: Die gesamte Union gibt ihre Identität als internationale Hüterin der Menschenrechte preis, wenn Flüchtlinge zunehmend als reines »Sicherheitsproblem« definiert und behandelt werden.

Die wahren Dramen spielen sich freilich ein paar tausend Kilometer weiter südlich ab: Dort sind seit Jahresbeginn unter den Augen europäischer Grenzwächter und diverser Marineeinheiten bereits mehr als 1.800 Menschen bei dem Versuch, nach Europa zu gelangen, ertrunken oder verdurstet; die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen. Es häufen sich Berichte von Überlebenden, die schildern, wie große Schiffe (darunter auch solche der NATO-Kriegsmarine) ohne Halt an ihnen vorüberfuhren, während unter den Verzweifelten das Sterben schon begonnen hatte. Die Unseligen werden zum Tode auf See verurteilt, weil sich Europa für unzuständig und überfordert erklärt. In einzelnen Fällen, wie wir sie seit Jahren mit »borderline europe – Menschenrechte ohne Grenzen« dokumentieren konnten, schoben Küstenwacht-Einheiten Flüchtlingsboote wochenlang hin und her, bis am Ende von über 80 Bootsinsassen nur noch fünf am Leben waren.

Angesichts der revolutionären Ereignisse jenseits des Mittelmeeres verstärkt die EU die Abschottung, wo doch entschlossene humanitäre Hilfe nötig wäre. Die Regierungschefs einigten sich in Rekordzeit auf eine Verstärkung der Grenzsicherungsagentur FRONTEX. Rund 400 Millionen Euro sagte die zunehmend klamme EU allein Tunesien als „Unterstützung für den Staatsaufbau“ zu. Gemeint ist damit vor allem die Stärkung des Sicherheitsapparates, von dem effiziente Maßnahmen erwartet werden, um die Weiterreise unerwünschter MigrantInnen in Richtung Europa zu unterbinden. Waffensysteme und Schiffe zum entsprechenden Einsatz sind bereits nach Tunis unterwegs. Wie das wirtschaftlich geschwächte Tunesien aber mit der Last zehntausender Libyen-Flüchtlinge im eigenen Land fertig werden soll, das bleibt unklar.

Wo die EU politisch wie moralisch auf der ganzen Linie versagt, ist es der 1949 gegründete Europarat, der die Staaten des »Kontinents der Menschenrechte« an ihren historischen Auftrag erinnert: „Ihr Schweigen und ihre Passivität sind schwer zu akzeptieren“, kritisierte der Menschenrechtsbeauftragte der Länderorganisation. Anstatt den Flüchtlingen zu helfen, versuche Europa vor allem, sie von seinen Grenzen fernzuhalten. Damit habe man die Flucht noch gefährlicher gemacht und den Schleppern einen Grund gegeben, ihre Tarife zu erhöhen.

Wohl wahr. Es steht allerdings zu befürchten, dass genau dies auch beabsichtigt ist. „BürgerInnen Europas, empört Euch!“ (©: Stéphane Hessel)

Elias Bierdel ist Menschenrechtsaktivist (borderline-europe.de), Buchautor (»Ende einer Rettungsfahrt«) und seit 2010 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am ÖSFK/Friedensburg Schlaining.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2011/3 Soldaten im Einsatz, Seite 5