Europa nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation
Rahmenbedingungen europäischer Sicherheitspolitik
von Klaus Peter Weiner
Das Scheitern des »Realen Sozialismus« hat den Ost-West-Gegensatz, von dem über vier Jahrzehnte die zentrale weltpolitische Formkraft ausging, beendet. Der Westen ist aus der Systemauseinandersetzung als der Sieger hervorgegangen. Zwar ist auch die Hauptsiegermacht USA geschwächt aus dem Konflikt hervorgegangen (Kennedy 1989), doch nun „kann sich die kapitalistische Dynamik weltweit entfalten, und zwar ohne Rücksicht auf die politische und militärische Gegenmacht und bei (wohlwollender) Vernachlässigung ideologischer Alternativen.“ (Altvater 1991a, S. 346)
Das post-bipolare internationale System wird nun nicht mehr durch eine Hegemonialmacht strukturiert. Vielmehr bildet die OECD-Welt das Gravitationszentrum. Es gilt als wahrscheinlich, daß einige Schwellenländer aus dem ostasiatischen Raum zur OECD aufschließen. Neben der OECD-Welt enstehen regionale Zentren – dazu zählen China, Rußland, Indien und Brasilien. An den Rand der Weltwirtschaft und der Weltpolitik gedrängt sind die peripheren, teilweise vom Weltmarkt abgekoppelten Regionen. Ihre Lage ist durch mehr oder minder schwerwiegende politische und soziale Turbulenzen gekennzeichnet (Senghaas 1991).
Bereits zu Zeiten des Ost-West-Konflikts haben sich die OECD-Staaten zu dem wirtschaftlichen und politischen Zentrum des internationalen Systems entwickelt. Nun tritt es in den Mittelpunkt des internationalen Systems. Die OECD-Staaten halten einen Anteil von 65 Prozent am Weltbruttosozialprodukt, sie sind am Welthandel mit rund 70 Prozent beteiligt. Rund 75 Prozent ihrer Außenhandelsaktivitäten wickeln sie untereinander ab. Die OECD-Welt ist politisch und ordnungspolitisch vergleichweise homogen, ökonomisch eng verflochten und politisch institutionell dicht vernetzt. Sie verfügen über ein technologisch hochentwickeltes Militärpotential, das sie zur Machtprojektion befähigt. Die mächtigsten Akteure der OECD-Welt sind die „Big Three“ (Bergsten 1990, S. 104), die USA, die Europäische Gemeinschaft und Japan. Zwar werden die Konflikte zwischen der sich im Abstieg befindlichen Führungsmacht USA, dem technomonetären Aufsteiger Japan und der in den achtziger Jahren revitalisierten EG nun nicht mehr durch die Systemauseinandersetzung eingehegt, aber es ist nur „schwer vorstellbar, daß über solche Probleme des Interdependenzmanagements der erreichte Stand an institutioneller und wirtschaftlicher Verflechtung innerhalb des OECD-Clubs zerbrechen könnte.“ (Senghaas 1991. S. 26)
Aber eine merkantilistische Wirtschaftspolitik und protektionistische Handelspraktiken der Großen Drei setzen das »Management der Interdependenz« schweren Belastungen aus, zumal die regulierenden Institutionen der Weltmarktkonkurrenz sich bisher kaum auf die Spannungsfelder einstellen, die aus der ökonomischen Globalisierung und der politischen Regionalisierung resultieren. Eine trilaterale Regulierung der Weltwirtschaft, die die von den USA einst hegemonial erbrachten Organisations- und Steuerungsleistungen übernimmt und die über ein kurzfristiges Krisenmanagement hinausreicht, ist gegenwärtig nicht in Sicht. Hinzu kommt, daß keine der großen Mächte in der Lage ist, die politische »Führung des Westens« gegenüber einem anwachsenden Nationalismus und Fundamentalismus sowie bei den ökologischen oder entwicklungspolitischen Problemlagen zu übernehmen. Ob diese Konstellation zu einer Reform und Stärkung der Vereinten Nationen führen wird, muß angesichts der Renaissance des militärischen Faktors in der internationalen Politik bezweifelt werden.
Ein Zeitalter des Friedens in Europa?
Das Ende des Systemkonflikts hat als „weltgeschichtliche Zäsur“ (Deppe 1991, S. 11) die bisherigen Beziehungsmuster europäischer Politik, basierend auf sich als antagonistisch betrachtende und in »Blöcke« gefaßte Gesellschaftsordnungen, außer Kraft gesetzt. Diese radikale Veränderung hat auch den Bezugsrahmen der europäischen Einigung verändert. In ihrem Selbstverständnis kann sie nicht mehr allein auf Westeuropa bezogen bleiben, sondern muß nun einen Begriff von Gesamteuropa entwickeln – sofern er sich definieren läßt. Die Gleichsetzung von Westeuropa und Europa trägt nicht mehr, und der politische, ökonomische und soziale Raum des östlichen Europas ist noch unbestimmt. Die neue Dimension von Europa kann sich erst in einem langwierigen, konflikhaltigen Prozeß herausbilden.
Der Umbruch in Osteuropa kürte 1989 zum „Year of Europe“ (Hoagland 1990, S. 33). Zur Jahreswende 1989/90 schien der epochale Umbruch in Osteuropa neue, friedlichere, freiheitlichere und demokratischere Perspektiven gesamteuropäischer Entwicklung zu eröffnen. Das Ende des Ost-West-Konflikts schien zugleich der Beginn eines neuen Zeitalters, in dem die zivilgesellschaftliche Komponente einen größeren Stellenwert erhalten könnte, zu signalisieren. Diese Hoffnung wurde von den Regierungen bestärkt: im November 1990 besiegelte der KSZE-Gipfel in Paris das Ende des Kalten Krieges und der Teilung Europas. Die europäischen und nordamerikanischen Regierungen bekannten sich in der „Charta von Paris für ein neues Europa“ zu einer „auf Menschenrechten und Grundfreiheiten beruhenden Demokratie, Wohlstand durch wirtschaftliche Freiheit und soziale Gerechtigkeit und gleiche Sicherheit für alle unsere Länder“. Sie verkündeten, daß „in Europa ein neues Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Einheit“ anbricht (Charta 1990, S. 656).
Einige Vertreter der idealistischen Denktradition sahen am Horizont bereits ein liberal-kapitalistisches, rechtstaatlich-demokratisch verfaßtes Europa, daß sich friedlich in ein System kollektiver Sicherheit fügt (Senghaas 1990). Aber die mit dem gesellschaftlichen Umbruch verbundenen politischen, ökonomischen und sozialen Verwerfungen zeigten bereits wenige Wochen später in der jugoslawischen Krise eine Realität, an der in Paris formulierte Hoffnung zerbrach, daß sich an den Zusammenbruch des Realsozialismus übergangslos pluralistische Demokratien und funktionierende Marktwirtschaften anschließen könnten. Traditionelle Realisten sahen ihre Prognosen, daß der Zerfall der Ordnungssysteme des Kalten Krieges zu nationalistischen Konflikten, zu einer hegemonialen Stellung der Bundesrepublik Deutschland und zu einer instabilen Mächtekonstellation führt, bestätigt (Snyder 1990). Doch die Entwicklungen in Osteuropa und ihre Rückwirkungen auf Westeuropa lassen sich nicht in idealistischen oder realistischen Grundkategorien auflösen.
Der Zerfall der bundesstaatlichen Einheit Jugoslawiens hat die zivilen Bahnen verlassen, in denen politische Konflikte in Europa nach 1945 in der Regel verlaufen sind. Einer gewaltfreien Steuerung entzogen, eskalierte der Konflikt um die staatliche Neuordnung zum ersten europäischen Krieg der Nach-Nachkriegszeit. Der zögerliche internationale Druck konnte die Kampfhandlungen nicht einhegen. Österreich und Italien verlegten zeitweise Militäreinheiten an die jugoslawische Grenze. Dies symbolisiert die Brisanz des Konflikts, auch wenn eine kriegerische Entwicklung auf dem Balken heute nicht mehr den Funken schlagen kann, der 1914 den Ersten Weltkrieg auslöste.
Aber die Eskalation der Gewalt kann den komplizierten politischen Prozeß der Annäherung von Ost- und Westeuropa für längere Zeit erschweren, wenn nicht gar blockieren. Das Problem der nationalen Unabhängigkeit und der nationalen Minderheiten existiert in jedem Land des ehemaligen Ostblocks. Werden die auseinanderstrebenden Völker und Regionen zusammengezwungen, drohen Sezessionskriege, werden die Sezessionsbewegungen unterstützt, drohen Bürgerkriege: das ist das kurzfristig fast unlösbare Dilemma, vor daß sich die europäischen Regierungen gestellt sehen. Eine militärische Lösung dieses Dilemmas birgt die Gefahr, daß die Ausstrahlungseffekte Osteuropa in eine Phase gewaltsamer Auseinandersetzungen stürzen.
Osteuropa – Experiment mit ungewissem Ausgang
Das Scheitern des realen Sozialismus und der gesellschaftliche Umbruch ist mit dem „Ende der Geschichte“ gleichgesetzt worden (Fukujama 1989). Aber der kriegerische Zerfall Jugoslawien zeigt, daß die Transformation von Gesellschaften ein Experiment mit ungewissem Ausgang ist. Der »Sieg des Westens« im Kalten Krieg zwischen sozialistischem und kapitalistischem Gesellschaftssystem kann daher kaum mit dem Ende der Geschichte gleichgesetzt werden, weil die Möglichkeit des Scheiterns des westlichen Modells in Osteuropa und ein Rückfall in eine auf nationalistische Ideologie und militärische Gewalt zurückgreifende Machtpolitik nicht auszuschließen ist. Politische und soziale Konflikte werden angesichts der Dimension der Probleme, die aus der Transformation der osteuropäischen Gesellschaften und der Annäherung des östlichen an den westlichen Teil des Kontinents resultieren, auch weiterhin die Realität Europas prägen. Der Übergang zu Demokratie, Marktwirtschaft und Sozialstaat erweist sich als komplexer, von Rückschlägen begleiteter Prozeß. Die Hauptproblemfelder dieses gesellschaftlichen Transformationsprozesses lassen sich wie folgt skizzieren:
Demokratie
Als zentrales Problem erweist sich die Kluft zwischen der demokratischen Form der Regierungssysteme und dem realen Gehalt der Demokratie. Verhandlungs- und Kompromißbereitschaft sowie Selbstbeschränkung sind Voraussetzungen und Verfahren parlamentarischer Demokratie, die als jahrelang geübte Praxis zwar westlichen Regierungssystemen Funktionsfähigkeit und Stabilität verleihen, aber in den osteuropäischen Staaten nicht über Nacht zu erwerben sind. Der derzeit verfolgte Ansatz, über den Staat eine moderne Gesellschaft und politische Gemeinschaft zu errichten, muß daher zu kurz greifen (Schöpflin 1991, S. 264). Zivilgesellschaftliche Strukturen – einmal in dem Sinn, daß im gesellschaftlichen Raum agierende nichtstaatliche Institutionen wie Kirchen, Gewerkschaften, Verbände usw. politische und soziale Krisenprozesse abpuffern und kleinarbeiten wie auch in dem Sinn, daß eine sich gegenüber dem Staat autonom verhaltene demokratische Öffentlichkeit eine Barriere gegen etatistische Übergriffe bildet – fehlen in den osteuropäischen Ländern weitgehend. Die parlamentarisch verfaßte Demokratie in Osteuropa ist daher nur schwach fundiert und instabil.
Ökonomie
Die Länder Osteuropas und die Sowjetunion befinden sich in einer schweren wirtschaftlichen Krise. Die Wirtschaftsleistung ist 1991 in Bulgarien um 20 Prozent, in der GUS um 13 Prozent, in der CSFR um 12 Prozent, in Rumänien um 9 Prozent, in Polen um 8 Prozent und in Ungarn um 7 Prozent zurückgegangen. Der Einbruch im spezialisierten intraregionalen Warenaustausch, der zur Auflösung des RGW führte, hat die ökonomische Situation noch verschärft. Es droht eine erneute ökonomische Spaltung Europas. Es sei vermerkt, daß der Realsozialismus die ökonomische und soziale Rückständigkeit Osteuropas nicht verursacht hat. Sie hat ihre Wurzeln in der Zeit vor 1945 bzw. 1917. Der Realsozialismus hat sie allerdings auch nicht grundsätzlich beseitigt, sondern noch weitere Problembereiche – wie die Krise der Ökologie – hinzugefügt. Es ist kaum zu erwarten, daß sich die Logik marktgesteuerter ökonomischer Entwicklung ohne Anpassungskrisen von West nach Ost übertragen läßt und zu einem raschen Anstieg von Produktivität und Wachstum führen wird. Die bestehenden Disproportionen werden sich zumindest vorübergehend noch vergrößern.
Keine repräsentative Demokratie kann ohne eine funktionierende Wirtschafts- und Sozialordnung existieren. Von beidem sind die osteuropäischen Länder noch ein gutes Stück entfernt. Die Gefahr einer weiteren Eskalation innergesellschaftlicher und zwischenstaatlicher Konflikte ist daher ausgesprochen groß. Erstens kann nationalistische und fundamentalistische Regression zu autoritären Lösungen und zur Unterdrückung nationaler Minderheiten und zu bewaffneten Auseinandersetzungen größeren Ausmaßes führen. Zweitens besteht die Gefahr der massenhaften Migration aufgrund von sozialer Verelendung und nationalistischen und ethnischen Konflikten. Das Ausbluten durch den Verlust von qualifizierten und jungen Menschen kann die Rückständigkeit ganzer Regionen perpetuieren und zu Abwehrreaktionen der Aufnahmeländer führen. Drittens kann ein Rückfall in eine nationalistische Politik, die neue Hegemonialstrukturen, bilaterale Allianzen und Gegenallianzen hervortreibt, eine Situation erhöhter Instabilität in ganz Europa schaffen. Viertens besteht die Gefahr einer Remilitarisierung der Sicherheitspolitik in Westeuropa, die ihre Begründung aus gewaltförmigen Konflikten in Osteuropa und der instabilen GUS erhält.
Jenseits der politischen Ungewißheiten steht für die osteuropäischen Staaten in den nächsten Jahren das wirtschaftliche Aufholen im Mittelpunkt. Das Aufholpotential der osteuropäischen Länder läßt vermuten, daß „für das Erreichen des gegenwärtigen europäischen Durchschnitts etwa 10 bis 20 Jahre und für das Herankommen an das Niveau technologisch führender westeuropäischer Länder etwa 30 bis 40 Jahre ins Auge gefaßt werden müssen.“ (Maier 1991, S. 13) Der Vergleich mit den EG-Staaten, deren Wachstumsraten höher als der EG-Durchschnitt liegt, zeigt allerdings auch, daß der Strukturwandel mit einer absinkenden Erwerbsquote einhergeht. „Folglich lassen sich zwei Faktoren festhalten, die als Merkmale ökonomisch-sozialer Aufholprozesse Hervorhebung verdienen: Langwierigkeit und soziale Konfliktträchtigkeit.“ (Maier 1991, S. 14) Diese Konstellation bleibt nicht ohne Rückwirkungen auf die westeuropäischen Gesellschaften. Solange das ökonomisch-soziale Gefälle den wichtigsten Hintergrund für die Migration in Europa bildet, wird sich die ethnische Segmentierung der Arbeitsmärkte in den EG-Staaten fortsetzen. „Ein wachsender Anteil von Ausländern oder von eingebürgerten Ausländern an der Zahl der erwerbstätigen und der gesamten Bevölkerung wird daher eine kaum wieder verschwindende Tendenz der gesamteuropäischen Entwicklung sein.“ (Maier 1991, S. 15)
Das souveräne Deutschland in der EG
Der Zusammenbruch des Sozialismus bringt die Bundesrepublik in eine Schanierfunktion zwischen Ost und West, die ihre politische Bedeutung erhöht, während die Vereinigung von BRD und DDR zugleich eine neue machtpolitische Struktur in der EG geschaffen hat. Die Bundesrepublik ist nach der Vereinigung potentiell in der Lage, „ein Ergebnis zu erzielen, das demjenigen vergleichbar ist, das Frankreich in den sechziger Jahren erzielte: Gerade genug Integration, um den Interessen deutscher Bauern, deutscher Industrie und Dienstleistungen zu dienen, gerade eben ausreichend diplomatische Koordination, um Deutschland den europäischen Genehmigungsstempel zu geben, aber auch genug Freiheit für diplomatische Manöver, um unerwünschte Einschränkungen der Außenpolitik und Verteidigung zu verhindern.“ (Hoffmann 1990, S. 604)
Mit anderen Worten: Die Bundesrepublik kann »souveräner« als früher die Grenzen setzen, jenseits derer sie keine politischen Einschränkungen und finanziellen Lasten zu akzeptieren bereit ist. Und von einer aus dieser integrationspolitischen Haltung resultierenden Auflockerung des die Balance nationaler Interessen sichernden gemeinschaftlichen Regimes in der EG müßte die Bundesrepublik als leistungsfähigster EG-Staat am meisten profitieren, da ihr Zuwachs an politischer und ökonomischer Handlungsfreiheit am größten wäre. Eine schleichende Erosion der EG wäre die Folge. Der „Gefahr einer Überforderung“ der EG durch die doppelte Integration Osteuropas und der vereinigten Bundesrepublik kann daher nur durch eine Stärkung ihrer Kompetenzen begegnet werden (Loth 1991, S. 7).
Die Westintegration war für die Bundesrepublik ursprünglich kein primär ökonomisch motiviertes Projekt. Sie sollte den unter dem Vorbehalt der Alliierten stehenden Staat sicherheitspolitisch entlasten, ihm internationale Bewegungsspielräume verschaffen und nicht zuletzt die westlichen Verbündeten auf das nationale Ziel der Wiedervereinigung festlegen. Dabei vertraute die Bundesrepublik auf das Interesse der Westmächte und an einer politischen Einbindung ihres ökonomischen und militärischen Potentials und seiner Ausrichtung auf Anforderungen des Kalten Kriegs. So konnte die politische Klasse der Bundesrepublik weitgehend darauf verzichten, eigene ambitionierte Pläne zur Weiterentwicklung der westeuropäischen Integration vorzulegen, die über ihre sicherheits-, außen- und deutschlandpolitischen Interessen hinausgingen, zumal der den wirtschaftlich freien Zugang sichernde Gemeinsame Markt der EG ein wachsendes Guthaben vor allem für das bundesdeutsche Kapital bot. Mit einem im Vergleich zu Frankreich oder Großbritannien niedrigem außen- und sicherheitspolitischen Profil konnte die Bundesrepublik zur stärksten Macht in Westeuropa aufsteigen.
Heute übertrifft das Bruttoinlandsprodukt des vereinigten Deutschlands (1356 Mrd. Dollar im Jahr 1989) das BIP Frankreichs (951 Mrd. Dollar) um 43 Prozent. Es liegt damit nur rund 19 Prozent unter dem BIP der ehemaligen UdSSR (1639 Mrd. Dollar). Da die sozioökonomische Rekonstruktion der GUS ungleich komplizierter und krisenhafter verlaufen wird als die Integration der ehemaligen DDR in die Bundesrepublik Deutschland, spricht einiges für die Prognose, daß die Bundesrepublik Deutschland die Wirtschaftskraft der ehemaligen UdSSR um die Jahrtausendwende übertreffen wird. Aufgrund dieses ökonomischen Gewichts und seiner Transformation in politischen Einfluß hängt die Zukunft der EG stärker als in der Vergangenheit von der Bereitschaft der Bundesrepublik ab, die Integration nicht nur zu erweitern, sondern auch zu vertiefen. Einer krisenhaft verlaufenden Integration der Gesellschaft der DDR in das ökonomisch, soziale und politische System der Bundesrepublik kann allerdings eine politische Dynamik freisetzen, die stärker auf einen nationalen als auf einen europäischen Weg drängt. Dies könnte bedeuten, „daß die Bundesrepublik in den nächsten Jahren wegen der Konzentration der politischen Kräfte auf ihre internen Konflikte den Problemen des Integrationsprozesses in Europa möglicherweise weniger Beachtung schenken wird.“ (Busch 1991, S. 310 f)
Die mit der Vereinigung Deutschlands entstandene neue Struktur der EG bricht sich jedoch an der inneren und äußeren Dynamik des westeuropäischen Integrationsprozesses. So hat das Binnenmarktprojekt der EG die »Westausrichtung« des bundesdeutschen Kapitals weiter verstärkt. Profit wird vorwiegend auf Märkten der Triade EG, USA, Japan realisiert. Und auch die Bundesregierung ist zur Bewältigung der aus der Vereinigung und dem Umbruch in Osteuropa resultierenden Anforderungen sowie aufgrund der gegenüber der GUS und den anderen osteuropäischen Staaten eingegangenen Verpflichtungen vorläufig auf eine weitgehend konfliktfreie Beziehung zu den EG-Staaten angewiesen. Einem von staatlichen Apparaten inszenierten neuen Nationalismus wie auch einer Lockerung der Einbindung in die EG sind damit zumindest mittelfristig Grenzen gesetzt. Damit können die Chancen wachsen, ein neues – politisches – Gleichgewicht in der EG durch eine stärkere Einbindung der vergrößerten Bundesrepublik herzustellen. Eine verstärkte Einbindung läßt sich allerdings nur durch eine Vertiefung der politischen und ökonomischen Integration und ihrer Institutionalisierung in der EG erreichen. Dies würde seitens der Bundesregierung aber eine aktive Politik der außenpolitischen Selbstbeschränkung und Selbsteinbindung voraussetzen, die wiederum nur das Ergebnis veränderter, über neue Machtkonstellationen auf Regierungsebene hinausgehender politischer Kräfteverhältnisse sein kann.
Mit Volldampf in die Politische Union
Auf den Umbruch in Osteuropa reagierte die EG mit einer Beschleunigung des Integrationsprozesses. Vorbereitet durch zwei Regierungskonferenzen, verständigte sich der Europäische Rat in Maastricht auf die Verträge zur Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) und zur Politischen Union (PU). Die in Maastricht vereinbarte „immer engere Union unter den Völkern Europas“ (Helmut Kohl) soll auf drei Säulen ruhen. Die erste Säule erweitert die Zuständigkeiten der EG in der Industrie-, Sozial-, Umwelt- und Bildungspolitik, fügt die WWU in die bestehenden Verträge ein und räumt dem Europäischen Parlament geringfügig erweiterte Rechte ein. Großbritannien wird die Sozialpolitik der EG allerdings nicht mittragen. Die zweite Säule, die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), soll den Prozeß der Kooperation in den Außenbeziehungen und der Militärpolitik verbessern. Sie verbleibt aber außerhalb der EG-Verträge. Die WEU soll zum militärischen Arm der PU ausgebaut werden und gleichzeitig als Brücke zur NATO fungieren. Auch die dritte Säule, die Innen- und Justizpolitik, sieht nur eine intergouvernementale Zusammenarbeit vor. Die Einwanderungs- und Asylpolitik sowie die polizeilichen Aufgaben sollen künftig stärker abgestimmt werden. Neuland wird dem beratenden Regionalauschuß als Vertretung der Regionen, Bundesländer und Kommunen betreten.
Den konkreten Festlegungen für die WWU steht die offene Gestalt der PU gegenüber. Im politischen Bereich sind die Mitgliedstaaten der EG von einer geschlossenen Handlungseinheit, einem »europäischen Machtstaat«, noch weit entfernt. Auch nach dem Gipfel von Maastricht bleibt die EG ein nationalstaatlich fragmentiertes Machtzentrum, das nur eine „zusammengesetzte“ Außen- und Sicherheitspolitik (Rummel 1982) betreiben kann. Diese Struktur begünstigt eher eine reaktive, abwehrende als eine aktive, vorausschauende Politik. Das ökonomische Gewicht der EG übersetzt sich nur langsam in politische Macht: „Die wirtschaftliche Macht der Einzelstaaten der EG stellt sich im Hinblick auf die Gesamtheit erst allmählich als politische Größe dar und dann eher auch als Schutzfaktor im Parallelogramm der Weltwirtschaftskräfte, denn als Potential etwa im Kampf um globalen Einfluß.“ (Hartwig 1991, S.<|>145) Dennoch ist zu erwarten, daß die EG-Staaten, die nun mehr in dem bisherigen Maß auf den sicherheitspolitischen Beistand der USA angewiesen sind, ihre globalen Interessen nachhaltiger als bisher verfolgen und partiell auch militärisch absichern werden (Laursen 1991).
Erleichtert werden die Pläne für eine Militarisierung des EG-Systems durch die auch in der sozialdemokratischen Parteienlandschaft Europas verbreiteten Auffassung, daß eine engere Kooperation in der Sicherheitspolitik einschließlich ihrer militärischen Komponente die Voraussetzung für eine strategische Entkoppelung von den USA ist. Ein von den USA unabhängigeres Europa könnte dann, weltpolitisch zurückhaltend agierend wie der »Handelsstaat« Japan, ein Gegenmodell zu der wie im Golf-Konflikt überreizt reagierenden und sich leicht in militärische Abenteuer verstrickenden USA bilden. Diese Argumentation übersieht bewußt, daß mit einer militärischen Erweiterung der EG oder der WEU nicht nur eine Abkoppelung von den USA vollzogen wird, sondern zugleich die Grundlage für eigenständige militärische Optionen zur Durchsetzung der Interessen einer »Festung Europa« gelegt wird. Vor allem für die ehemaligen Kolonialmächte Frankreich und Großbritannien kann sich eine europäische Eingreiftruppe als ein attraktives Instrument für Interventionen in der »turbulenten Zone« jenseits der OECD-Welt entwickeln.
Daß die Maastrichter Beschlüsse reibungslos umgesetzt werden, ist aufgrund der schlecht ausgefallenen Referenden in Dänemarkt und Frankreich sowie der schleichenden »Europamüdigkeit« in allen EG-Mitgliedstaaten sowie aufgrund der für die Zeit nach 1992 anstehenden Erweiterungen der EG um beitrittswillige EFTA-Staaten und angesichts der ungewissen ökonomischen, sozialen und politischen Entwicklung in Osteuropa kaum zu erwarten. Dies gilt vor allem für den Vertragsteil über die PU.
Dennoch werden die Strukturen Europas in einem zunehmenden Maß durch Regime wie EG und KSZE geprägt, in denen die internationale Zusammenarbeit durch formelle und informelle Regeln und Normen gesteuert wird (Senghaas 1990). Zwar bleibt die politische Landschaft Europas weiterhin vorwiegend von Nationalstaaten geprägt, die allerdings zunehmend weniger in der Lage sind, die politische, ökonomische und soziale Entwicklung im nationalstaatlichen Rahmen autonom zu gestalten. Der Verlust von Souveränität, der auch aus einem stärkeren Einfluß gesellschaftlicher Interessen auf die Außenpolitik resultiert (Czempiel 1991, S. 86), geht aufgrund der Internationalisierungsprozesse einher mit einem Zwang zur Kooperation auf internationaler Ebene. Nicht viel, aber ein wenig Hoffnung gegen nationalistische Düsternis.
Literatur
Altvater, Elmar (1991), Universalismus, Unipolarität, Polarisierung. Wiedersprüchliche Strukturprinzipien einer »neuen Weltordnung«, in; Prokla 84, S. 345-367
Bergsten, Fred C. (1990), The World Economy after the Cold War, in: Foreign Affairs, Vol. 69, No. 3, S. 96-112
Busch, Klaus (1991), Umbruch in Europa. Die ökologischen und sozialen Perspektiven des einheitlichen Binnenmarktes, Köln
Charta (1990) von Paris für ein neues Europa – Ein neues Zeitalter der Demoktratie, des Friedens und der Einheit. Erklärung des KSZE-Treffens der Staats- und Regierungschefs in Paris vom 21. November 1990, in: Europa Archiv 24/1990, S. D 656 – D 664
Czempiel, Ernst-Otto (1991), Weltpolitik im Umbruch. Das internationale System nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, München
Deppe, Frank, (1991) Jenseits der Systemkonkurrenz. Überlegungen zur neuen Weltordnung, Marburg 1991
Fukujama, Francis (1989), The End of History, in: The National Interest, Sommer, S. 3-19
Hartwig, Dieter (1991), Sicherheitspolitik und Verteidigung der Europäischen Gemeinschaft. Gegenwartsdiskussion und Perspektive, Baden-Baden
Hoagland, Jim (1990), Europe's Destiny, in: Foreign Affairs, Vol. 69, No. 1, S. 33-50
Hoffmann, Stanley (1990), Abschied, Abschied von der Vergangenheit. Politik und Sicherheit im Europa der neunziger Jahre, in: Europa-Archiv 10, S. 595-606
Laursen, Finn (1991), The EC in the World Context. Civilian power or suprerpower?, in: Futures, No 7, S. 747-759
Loth, Wilfried (1991), Das Ende der Nachkriegsordnung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 18, S. 3-10
Maier, Lutz (1991), Ökonomische Realitäten in Europa, in: IPW 10, S. 11-16
Rummel, Reinhardt (1982), Zusammengesetzte Außenpolitik. Westeuropa als internationaler Akteuer, Kehl a. Rh., Straßburg
Schöpflin, George (1991), Probleme des Postkommunismus, in: Europa-Archiv 8, S. 255-264
Senghaas, Dieter (1991), Internationale Politik jenseits des Ost-West-Konflikts, SWP – AP 2722, Ebenhausen
Senghaas, Dieter (1990), Europa 2000. Ein Friedensplan, Frankfurt a.M.
Snyder, Jack (1990), Averting Anarchy in the New Europe, in: International Security, Spring, S. 5-41
Klaus Peter Weiner ist Politikwissenschaftler in Marburg