Europas Dilemma
Die EU und der russisch-ukrainische Konflikt
von Hanna Shelest
Die Frage danach, wie sich die EU im Lösungsprozess des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine einbringen soll, steht seit 2014 auf der Agenda und noch immer gibt es keine eindeutige Antwort. Ist es die EU als Ganzes oder sind es Frankreich und Deutschland, die die Rolle des Mediators einnehmen? Sollte die EU eine Peacekeeping-Mission in die Ukraine schicken? Was kann die EU außer Sanktionen noch tun? Im Folgenden einige Überlegungen zur derzeitigen und zur möglichen zukünftigen Rolle der EU und ihres Engagements im russisch-ukrainischen Konflikt.
Obwohl sich das EU-Engagement in der Ukraine seit 2014 insgesamt bedeutend vertieft hat, lässt sich das Gleiche nicht über die Rolle der EU im Friedensprozess sagen. Viele EU-Beamte betonen, dass die Organisation durch Frankreich und Deutschland im Normandie-Format vertreten sei. Dies wird allerdings weiterhin eher als französische und deutsche Mediationsbemühungen wahrgenommen, denn als Bemühungen der EU, so sehr Frankreich und Deutschland auch kontinuierlich die anderen Mitgliedsstaaten über die Fortschritte informieren und sich in ihren Positionen abstimmen.
Im ersten Mediationsversuch im Konflikt um die Ukraine im April 2014 – dem sogenannten Genfer-Format – waren die Ukraine, Russland, die USA und die Europäische Union Verhandlungspartner*innen. Die EU war hier als Organisation anwesend. Die geringe Bereitschaft der USA, in diesem Konflikt eine aktive Rolle als Mediator*in einzunehmen, hat dieses Format torpediert und so dazu geführt, dass das neue Normandie-Format aufgesetzt wurde. Hier ist die EU jedoch nicht als Organisation präsent, sondern wird von Deutschland und Frankreich vertreten, die jeweils als Akteure in sich und als Stimme der EU auftreten.
Die letzten sechs Jahre des Konfliktes und seiner Fortentwicklung haben zwei Probleme des Formats für die EU offenbart: zum einen die Entscheidung, nur entweder staatlicher oder institutioneller Mediator sein zu können. Denn wann präsentieren Deutschland und Frankreich ihre je eigene Vision für die Konfliktbeendigung und wann vertreten sie eine gemeinsame Linie der EU? Trotz aller Beteuerungen der Beamt*innen, dass das Gegenteil der Fall sei, hat es Brüssel immer noch nicht geschafft, für eine öffentliche Wahrnehmung seines Engagements zu sorgen und das Engagement von Deutschland und Frankreich wird als individuelle Mediation zweier Staaten gesehen.
Zum anderen verhandeln die Ukraine und Russland Fragen rund um konkrete Konfliktthemen direkt mit Paris und Berlin. Wenn die Ukraine und Russland also beispielsweise über die Modalitäten eines Friedensplans, eines Waffenstillstands, den Umgang mit ausländischen Kämpfern oder Sicherheitsgarantien sprechen wollen, so diskutieren sie dies mit Frankreich und Deutschland. Die EU kommt dabei üblicherweise nur ins Bild, wenn es um Sanktionsmechanismen und den Wiederaufbau nach Konfliktende geht.
Politische Instrumente
Verschiedene Mitgliedsstaaten der Europäischen Union haben einen reichen Erfahrungsschatz, wenn es um Konfliktlösung und Mediation geht, die EU als Ganzes allerdings hat nur beschränkte Erfahrungen in dieser Hinsicht. Die Stärke der EU liegt eher in ihrer Rolle als »Peacebuilder«, wenn es um Fragen des Wiederaufbaus und der Versöhnungsprozesse, Reformbestrebungen oder den Umgang mit umstrittenen Territorien geht. Erst kürzlich wurden Konfliktpräventionsmechanismen überhaupt zu den außenpolitischen Prioritäten der EU hinzugefügt. Die EU-Globalstrategie für Außen- und Sicherheitspolitik von 2016 stellt Mediation auf eine Linie mit präventiver Diplomatie und betrachtet sie als ein Instrument der vorsorglichen Friedenssicherung und für frühzeitiges Handeln: „Vorwarnung ist nur von geringem Nutzen, wenn sie nicht von frühzeitigem Handeln begleitet wird. Das beinhaltet regelmäßige Berichterstattung und Vorschläge an den Rat der EU, sich durch die EU-Delegationen und EU-Sondergesandten in präventiver Diplomatie und Mediation zu üben“ (EEAS 2016, S. 30). Der Politische Dialog ist eines der Hauptinstrumente der EU-Außenpolitik für Konfliktmanagement, das darauf abzielt das Verhalten der Konfliktparteien zu verändern. Aber im Fall der Ukraine fällt es der EU nicht leicht, sich zu entscheiden, wessen Positionen sie verändern möchte. Zudem ist unklar, ob die EU nicht auch selbst als Konfliktpartei betrachtet werden sollte.
Genau aus dieser Unklarheit speist sich die strategische Schwäche der EU an dieser Stelle: Sie ist weder anerkannte Konfliktpartei noch eine unparteiische Mediatorin. Da die Revolution von 2013-2014 auf einen Weg der Ukraine in die EU abzielte und die Unterzeichnung des Assoziationsabkommens mit der EU einer der Trigger für die russische Aggression war, entzogen die anderen Konfliktparteien (allen voran die russische Föderation, aber ebenso die separatistischen Regionen Donezk und Lugansk) der EU ihre »Neutralität« in diesem Konflikt. Die EU wird von der russischen Föderation und den separatistischen Gebieten nicht als Mediatorin akzeptiert, da sie Sanktionen gegen Russland eingesetzt hat und weiterhin einen Annäherungskurs mit der Ukraine fährt.
Gleichzeitig sollte die EU den »ukrainischen Fall« weitgehender betrachten, als nur durch die Linse der russisch-ukrainischen Beziehungen. Für Russland ist diese Konfrontation eine über europäische Ordnungsmacht, ein Wettstreben mit den USA und eine Möglichkeit, den eigenen Einflussbereich gegen Europa in Stellung zu bringen. Für die EU hingegen sollte es hier um eine schwere Verletzung der Souveräntität und territorialen Integrität eines Staates, um Menschenrechte und Millionen Menschenleben, das Völkerrecht und die Unterstützung anderer unabhängiger Staaten gehen.
Seit 2014 hat es die EU nicht geschafft, einen Sondergesandten für die Ukraine zu benennen. Während die EU als Ganzes zwar umfassend im Dialog mit der Ukraine war, hatte die außenpolitische Komponente die geringste Bedeutung. Die Nachbarschaftspolitik, Energiefragen, Justiz-, Wirtschaft- und Handelsreformen, Visaerleichterungen – all diese Fragen führten schlussendlich zur Unterzeichnung des Assoziationsabkommens und des Freihandelsabkommens, zu verstärktem politischen Dialog und Handelsbeziehungen. Während der gleichen Zeit reiste die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini nur zweimal in die Ukraine und priorisierte beide Male Reformen und den Anti-Korruptions-Prozess gegenüber dem Friedensprozess. Sie war stark in den Verhandlungen zu Kosovo und zur iranischen Atomfrage eingebunden, dem Donbas allerdings schenkte sie wenig Beachtung und reiste auch nie dorthin, trotz ausgesprochener Einladungen. Der Wechsel der EU-Kommission 2019 hat an dieser Situation und den EU-Prioritäten gegenüber der Ukraine nichts verändert.
Unentschlossene Peacekeeping-Versuche
2015 hatte der damalige ukrainische Präsident offiziell eine EU- oder UN-geführte Peacekeeping-Mission in der Ukraine angefordert. Die EU-Version einer solchen Mission wurde schnell abgelehnt, nachdem sich alle Expert*innen über die geringen Erfolgsaussichten einer solchen Peacekeeping-Mission einig zu sein schienen. Der wichtigste Grund dafür war wohl der drohende Verlust der Neutralität in diesem Konflikt; aber viel grundlegender galt es zu berücksichtigen, dass die EU keine relevante Erfahrung mit der Durchführung von Peacekeeping-Missionen hat.
Vielmehr konzentriert sich die EU normalerweise auf zivile Aufgaben, den Prozess des »Peacebuilding«, vertrauensfördernde Maßnahmen, Wiederaufbauprojekte und Konfliktprävention. So sind auch beide derzeitigen Missionen in der Ukraine zivile Missionen – die EU »Grenzunterstützungsmission (Border Assistance Mission)« in Moldawien und der Ukraine (EUBAM, seit 2005) und die »EU Beratermission zur Reform des zivilen Sicherheitssektors in der Ukraine« (EUAM Ukraine, seit März 2014. EU-Militärmissionen sind typischerweise kurze Einsätze und als Unterstützung der Aktivitäten anderer internationaler Organisationen angelegt. Obwohl ein EU-interner Beschluss für ihren Einsatz genügt, hat die EU in der Vergangenheit nur dort Einsätze gestartet, wo schon andere internationale Organisationen vor Ort waren. Peacekeeping überlässt die EU immer noch gerne vor allem anderen Organisationen.
Im postsowjetischen Raum verlassen sich die EU und ihre Mitgliedstaaten bei Konflikten traditionell auf die OSZE. Die direkten Einladungen für einen Einsatz in der Ukraine 2015 und 2018 wurden mit dem Hinweis abgelehnt, dass die EU-Mitgliedstaaten bereitstünden durch die UN und die OSZE am Konflikt zu arbeiten. Die Sonderbeobachtungsmission der OSZE in der Ukraine ist keine Peacekeeping-Mission im eigentlichen Sinne des Wortes, aber sie ist die einzige derartige Mission, die derzeit vor Ort ist. Indem sie die Mission politisch, diplomatisch und finanziell unterstützt, kann die EU eine halbwegs neutrale Rolle beibehalten und dennoch den Peacekeeping-Prozess beeinflussen, muss aber nicht tiefergehender involviert sein.
Was folgt nun?
Während die nächste Waffenstillstandsverlängerung so gut wie sicher ist, kann sich die EU in die Friedensverhandlungen aktiver einbringen, die aufgrund der Pandemie und russischem Widerstand zum Erliegen gekommen sind. Die »Krim-Plattform«, wie sie kürzlich vom ukrainischen Außenministerium angekündigt wurde, könnte ein neues Format sein, in dem sich die EU als Organisation mehr einbringt (MFA 2020).
Mittlerweile lassen sich Rufe danach, den Konflikt einzufrieren und die Sanktionen gegen Russland aufzuheben, häufiger vernehmen – obwohl ihre Urheber*innen den Kreml offen für die Annexion der Krim und den Krieg im Donbas anklagen. Viele europäische Think-Tanks haben schon vorgeschlagen, Russland in einen Dialog über die neue EU-Sicherheitsordnung einzubinden, in der Hoffnung, dass dies zur Konfliktbeilegung im Donbas beiträgt (vgl. ICG 2020, EASLG 2020). Viele von ihnen lassen dabei die Frage der Krim außen vor. De facto ist ein Szenario eines eingefrorenen Konfliktes aber die schlechteste Option, da es der internationalen Staatengemeinschaft erlauben würde, den Vorgängen in der Ukraine und den konstant erneuerten Forderungen aus Moskau noch weniger Beachtung zu schenken. Dialogbereitschaft und ein Einfrieren des Konfliktes fühlen sich daher mehr nach einem Beschwichtigungsversuch, als nach einer Konfliktlösung an.
An den Ausgangsbedingungen hat sich seit 2014 nichts verändert. Jeder Ruf nach Dialog sollte mit einem klaren Verständnis davon einhergehen, wie weit die europäischen Staaten bereit sind, Kompromisse bei ihren Prinzipien und Werten einzugehen. Wenn die EU eine normative Kraft hat und keine militärische, und wenn sie weichere Methoden und Sanktionen über militärische Optionen bevorzugt, dann kann es immer einen Weg für eine Position der »Offenen Karten« geben, nämlich mit der EU-Mitgliedschaftsperspektive für die Ukraine weiter voranzugehen. Das würde ein klares Signal an die russische Föderation senden, dass all ihre militärischen Manöver, hybride Kriegsführung oder politische Einmischung die EU nicht davon abhalten wird, neue Mitglieder einzuladen und den Einflussbereich ihrer Werte und Normen auszuweiten.
Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass sich die EU als Organisation mehr einbringen wird. Die gegenwärtige Situation, in der die zwei einflussreichsten Mitgliedsstaaten im Normandie-Format präsent sind, scheint alle anderen Mitgliedstaaten zu befriedigen und dennoch der EU-Kommission genug Spielraum für ihre eigenen Manöver zu lassen. Mit den anstehenden Wahlen in Deutschland und Frankreich kann sich diese Situation aber in absehbarer Zeit ändern – eine mögliche neue Chance für die EU, sich als einheitliche Stimme und mögliche Mediatorin im russisch-ukrainischen Konflikt zu präsentieren.
Literatur
European External Action Service (EEAS) (2016): Shared Vision, Common Action: A Stronger Europe. A Global Strategy for the European Union‘s Foreign and Security Policy. June 2016.
Euro-Atlantic Security Leadership Group (EASLG) (2020): Twelve Steps toward Greater Security in Ukraine and the Euro-Atlantic Region. February 2020.
International Crisis Group (2020): Peace in Ukraine I: A European War. Report 256. 27.04.2020.
Ministry of Foreign Affairs of Ukraine (MFA) (2020): Crimean Platform to Keep Occupation of Crimea in Focus of Constant International Attention – Emine Dzhaparova. 05 October 2020.
Dr. Hanna Shelest ist Direktorin der Programme für Sicherheitsfragen beim außenpolitischen Think-Tank »Ukrainska Prisma« und Chefredakteurin der Zeitschrift »UA: Ukraine Analytica«.
Aus dem Englischen übersetzt von David Scheuing