W&F 2021/1

Europas Hinterhof?

»Ertüchtigung« und Militarisierung der Sahel-Region

von Christoph Marischka

Die EU betreibt die systematische Militarisierung der Sahel-Region. Bereits die ersten eigenständigen Schritte einer militärisch gestützten Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) ohne Rückgriff auf NATO-Strukturen erfolgten auf dem afrikanischen Kontinent – 2003 in der DR Kongo. Aktuell ist die EU mit diversen Missionen in der erweiterten Sahel-Region aktiv. Das sind die EU-Trainingsmissionen (EUTM) in Somalia und Mali, die Mission zum Kapazitätsaufbau (EUCAP) in Somalia, die EUCAP-SAHEL-Missionen ebenfalls in Mali und dem benachbarten Niger sowie eine Mission zur militärischen Beratung in der Zentralafrikanischen Republik. Eine weitere Mission zur Unterstützung der Grenzsicherung (EUBAM) in Libyen ist von Tunesien aus aktiv.

Die deutlich erkennbare Fokussierung der Europäischen Sicherheitspolitik auf den afrikanischen Kontinent lässt sich neben der relativen geografischen Nähe auch auf andere Gründe zurückführen. Zum einen sind hier die Einflussgebiete der international führenden Mächte nicht so klar abgesteckt und zugleich hart umkämpft, wie etwa im Mittleren Osten oder dem Kaukasus.

Zum anderen entsprechen viele postkoloniale afrikanische Staaten ziemlich exakt dem Szenario, welches die EU in ihrer 2003 verabschiedeten Sicherheitsstrategie unter dem Titel »Ein sicheres Europa in einer besseren Welt« als Rahmenbedingung für eigenständiges militärisches Handeln entworfen hat. Auch hier stehen nicht geopolitische Konkurrenten und die möglicherweise notwendige »Verteidigung« gegen einen etwa gleichwertigen militärischen Gegner im Mittelpunkt, sondern sogenannte »scheiternde Staatlichkeit«, unter der nicht nur die jeweils ansässige ­Bevölkerung zu leiden hätte, sondern die auch die Grundlage für verschiedene Bedrohungen wie Terrorismus, Kriminalität, die Proliferation von Massenvernichtungswaffen und – oft in einem Atemzug damit genannt – (illegale) Migration bildet, die hier ihren Ausgang nähmen und auch Europa beträfen.

Zuletzt zeigt auch die räumliche Verteilung europäischer Missionen auf dem Kontinent, dass dabei ein Fokus auf den ehemaligen französischen Kolonien liegt. Viele der frühen EU-Missionen wären nicht nur ohne die postkoloniale französische Militärpräsenz und Infrastruktur, sondern auch ohne die damit verbundenen diplomatischen Kontakte und entsprechenden außenpolitischen Wissensbestände kaum denkbar gewesen. Vergleichbare Strukturen bildeten sich in der Europäischen Verwaltung erst ab 1999 ansatzweise und weitgehend ad hoc und wurden erst ab 2010 mit der Einrichtung des »Europäischen Auswärtigen Dienstes« (EEAS) zunehmend systematisiert aufgebaut, z.B. durch Abteilungen mit regionalen Schwerpunkten.

Nachträglich könnte man durchaus mutmaßen, dass zumindest die frühen EU-Missionen auf dem afrikanischen Kontinent weniger den im jeweiligen Mandat festgelegten (humanitären) Zielen im Einsatzland dienten, sondern dem neuen außenpolitischen Akteur EU nicht nur eine gewisse Sichtbarkeit, sondern v.a. auch Erfahrungswerte liefern sollten.

Hinterhof-Politik

Die aktuelle Konzentration europäischer Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik auf die Sahel-Region allerdings erscheint weniger experimentell als viel mehr strategisch. Seit etwa 2005 formieren sich im entstehenden diplomatischen Apparat der EU Personengruppen und Strukturen, die in den Beziehungen zu den Staaten Mauretanien, Mali und Niger vonseiten der EU einen länderübergreifenden Ansatz propagieren. Problematisiert werden dabei von diesen Staaten ausgehende Bedrohungen wie Organisierte Kriminalität, Drogenhandel und zunehmend auch Terrorismus. Befördert wurde diese Tendenz durch die EU-Grenzschutzagentur Frontex und andere EU-Programme, die »illegale Migration« weit jenseits der eigenen Außengrenzen in den Herkunfts- und Transitstaaten untersuchten, problematisierten und als »Ströme« konzipierten, die es bereits hier aufzuhalten gelte. In der Konsequenz wurde die Region politisch als »Hinterhof Europas« verstanden, vom damaligen deutschen Entwicklungsminister Dirk Niebel gar ganz Afrika als Europas »Vorgarten« bezeichnet. Ganz in diesem Sinne erfuhr die Region zeitgleich mit der sicherheitspolitischen Problematisierung auch eine wachsende Aufmerksamkeit hinsichtlich ihrer ökonomischen Potentiale. Beispielhaft dafür ist die 2009 v.a. mit deutschem Kapital gegründete Desertec Industrial Initiative (Dii) GmbH, welche die Versorgung europäischer Energiemärkte mit »Wüstenstrom« aus der Sahara propagierte und vorantrieb.

Kurz nachdem der EEAS Ende 2010 seine Arbeit aufgenommen hatte, veröffentlichte er im März 2011 mit der »Strategie für Sicherheit und Entwicklung im Sahel« seine erste Regionalstrategie überhaupt. Als Ziele werden benannt, das Potential dortiger Terrorgruppen, Anschläge in Europa zu verüben, zu verringern, „Drogenschmuggel und anderen kriminellen Handel nach Europa einzudämmen, legale Handels- und Kommunikationswege durch den Sahel (Straßen, Pipelines) zu sichern, […] bestehende ökonomische Interessen zu schützen und die Basis für Handel und Investitionen aus der EU zu schaffen“ (EEAS 2011, S. 4). Die Strategie basierte u.a. auf vier Fact-Finding Missionen, welche die EU bereits zwischen Juli 2009 und Juli 2010 in Mauretanien, Mali, Niger und Algerien durchgeführt hatte und die in den drei erstgenannten Staaten „mangelnde operationale und strategische Kapazitäten“ im gesamten Sicherheitssektor offenbart hätten, woraus u.a. eine ungenügende „Kontrolle des Territoriums“, Rechtsdurchsetzung und ein ineffizientes Grenzmanagement resultieren würden (Ebd., S. 3). Die Bemühungen der EU fokussieren sich seitdem darauf, diese Kapazitäten aufzubauen.

Zwischen der Veröffentlichung der Sahel-Strategie und ihrer Umsetzung in den Missionen EUCAP Sahel Niger (Aug. 2013), EUTM Mali (März 2013) und EUCAP Sahel Mali (April 2014) lagen allerdings zwei – miteinander in Verbindung stehende – Ereignisse, welche die Lage in der Region grundsätzlich veränderten: Mit der NATO-Intervention »Unified Protector« wurde Libyen als Regionalmacht ausgeschaltet, das Land in einen bis heute anhaltenden Bürgerkrieg gestürzt und eine große Zahl von Waffen und Kämpfer*innen mobilisiert. Der darauf folgende Aufstand im Norden Malis, der einen Putsch im Süden des Landes auslöste, führte Anfang 2013 zu einer massiven französischen Militär­intervention und zur Stationierung von über 10.000 Soldat*innen, vorwiegend aus afrikanischen Staaten, die zunächst unter dem Dach der Afrikanischen Union (AU-Mission AFISMA), bald aber unter UN-Führung (MINUSMA) standen, was auch eine umfangreiche deutsche Beteiligung (bis zu 1.100 Kräfte) ermöglichte.

»Ertüchtigung« in der Sahel-Region

MINUSMA bildet seitdem die militärische Grundlage für eine Vielzahl von Ausbildungs- und Ausrüstungsinitiativen. Im Rahmen der EUTM-Mission wurden bislang laut EU-Außenbeauftragtem Borrell „90 % der malischen Armee“ (EEAS 2020) fortgebildet, deren Gesamtumfang auf knapp 20.000 Soldat*innen geschätzt wird. Das EUTM-Mandat wurde schrittweise auf die Nachbarstaaten ausgeweitet, damit auch weitere Angehörige der »Force Conjointe du G5 Sahel« ausgebildet werden können – gemeinsame Eingreifkräfte der Armeen Mauretaniens, Malis, Nigers, Burkina Fasos und des Tschad, für deren Aufbau Deutschland und Frankreich im Februar 2018 mehr als 400 Mio. € mobilisiert hatten1 und die vor allem in den Grenzregionen aktiv sind. Ende Mai 2020 wurde auch die Ausbildung nigrischer Soldaten durch Kampfschwimmer*innen der Bundeswehr – zuvor ohne Mandat als »Operation Gazelle« durchgeführt – in das deutsche Mandat der EUTM aufgenommen. Neben den deutschen Kampfschwimmer*innen und einem deutsch-französischen Logistikdrehkreuz in Niamey sind im Niger auch geschätzte 800 US-Soldat*innen, überwiegend Spezialkräfte, und die französische Operation »Barkhane« aktiv. Sie führen gemeinsame Anti-Terror-Operationen mit lokalen Einheiten durch, die ebenfalls häufig als Ausbildungsunterstützung dargestellt werden. Wie viele andere Staaten liefert Deutschland im Rahmen seiner »Ertüchtigungsinitiative« militärisches Material – von gepanzerten Fahrzeugen bis zu Helmen und Schutzwesten – nach Mali und Niger und baut vor Ort militärische Infrastruktur, Werkstätten und Munitionsdepots auf. Im Rahmen der EUCAP-Missionen in beiden Staaten werden darüber hinaus Grenzschutz-, Gendarmerie- und Polizeikräfte aufgebaut. Zuletzt wurden zudem immer wieder Gerüchte kolportiert, dass auch Russland zunehmend in Mali aktiv sei und u.a. zwei Kampfhubschrauber geliefert hätte (Muvunyi 2020), was wiederum in der EU als Argument dafür genannt wird, die eigenen Anstrengungen zu intensivieren.

Angesichts des gewaltigen Umfangs dieser internationalen Aufrüstung ist es kein Wunder, dass sowohl bei der Niederschlagung der Proteste gegen den ehemaligen malischen Präsidenten Keïta als auch bei dessen Sturz durch das Militär am 18. August 2020 jeweils von der EU ausgebildete »Sicherheitskräfte« beteiligt waren. Auch die Tatsache, dass nur einen Monat zuvor der malischen Armee in jener Basis, von welcher der Putsch ausgegangen war, im Beisein des deutschen Botschafters feierlich Fahrzeuge und Ausrüstung übergeben wurde, verdeutlicht eher die Alltäglichkeit solcher Zeremonien als irgendeine heimliche Komplizenschaft. Beispielhaft für den völligen Kontrollverlust im Zuge der militärisch gestützten »Stabilisierung« sind sie allemal.

Fragilitäts-Dilemma

Die Forschungsstelle Flucht und Migration (FFM) spricht im Hinblick auf die Region von einer »Counter-Terrorism Governance« die sich dort als neue Staatsräson etabliert habe, aber nur „in Verbindung mit ausländischer Militärpräsenz“ funktioniere. Darin zeige sich das sogenannte »Fragilitäts-Dilemma«: „Je mehr Militär dort hingeschickt wird, je mehr das Sahel-Militär aufgerüstet wird, desto schwächer werden dort die Staaten [und andere gesellschaftliche Machtstrukturen], desto abhängiger werden [sie] von der EU und den USA“ (FFM 2020). Das lässt sich auch rein monetär abbilden: Die Kosten einer flächendeckenden militärisch-polizeilichen Präsenz, wie sie v.a. den EU-Strateg*innen vorschwebt, würde die Gesamthaushalte der betreffenden Staaten um ein Vielfaches übersteigen. Die von außen zuströmenden Mittel entwickeln und versorgen vor Ort (und in Paris, Brüssel, Calw, …) korrupte, militaristische Strukturen, die keinerlei Interesse an einer Lösung und Demilitarisierung der Konflikte haben. Der Krieg ernährt sich selbst und hält die Sahel-­Region im Status eines unruhigen Hinterhofs. Höchste Zeit, diese »Ertüchtigung« zu beenden.

Anmerkung

1) Die Gelder stammten von der EU und ihren Mitgliedsstaaten, den USA, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Saudi-Arabien.

Literatur

EEAS (2011): Strategy for Security and Development in the Sahel.

EEAS (2020): Informal meeting of EU Defence Ministers: Remarks by the High Representative/Vice-President Josep Borrell at the press conference. Berlin, 26.8.2020.

Forschungsstelle Flucht und Migration (FFM) (2020): Aufstandsbekämpfung im Sahel. Beitrag der FFM zum Kongress der Informationsstelle Militarisierung, 21.11.2020, nachzuhören unter: https://www.wueste-welle.de/mp3/77954_Panel4_FFM-MP3.mp3.

Muvunyi, F.; Cascais, A. (2020): Putsch in Mali – Welche Rolle spielt Russland? Deutsche Welle, 28.8.2020.

Christoph Marischka ist Mitglied im Vorstand der Informationsstelle Militarisierung und arbeitet dort zu den Schwerpunkten der EU-Afrikapolitik und der Technologiepolitik.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2021/1 »Friedensmacht« EU ? – Zwischen Diplomatie und Militarisierung, Seite 29–30