Fait accompli
Ist die Denuklearisierung Koreas noch möglich?
von Herbert Wulf
Um die Verhandlungen über Nordkoreas Atomprogramm und die Denuklearisierung der koreanischen Halbinsel ist es in den letzten Monaten still geworden. Verstärkt durch die Aufmerksamkeit für andere globale Probleme rückt der Konflikt über Nordkoreas Atomambitionen in den Hintergrund. Dabei treibt das Land sein militärisches Programm mit Raketentests voran und signalisiert zugleich: Ihr müsst schon mit uns verhandeln! Dem überraschenden und dann als historisch bezeichneten Treffen zwischen Donald Trump und Kim Yong-un im Juni 2018 in Singapur folgte ein als Misserfolg bewertetes zweites Treffen im Februar 2019 in Hanoi und dann auch rasch die Ernüchterung. Von einem Durchbruch oder historischen »Deal« ist nicht mehr die Rede. Doch die diplomatischen Verhandlungen verlaufen weiter, diskret, auf niederschwelligem Niveau.
Folgende Vereinbarungen wurden getroffen, um die kritische Situation um das nordkoreanische Atomwaffenprogramm zu entschärfen:
Die Regierung Nordkoreas stimmte zu,
- das Nuklearprogramm einzufrieren und u.a. die Reaktoren stillzulegen, in denen waffenfähiges Material produziert wird,
- umfassende Inspektionen der Internationalen Atomenergieorganisation zuzulassen,
- den Abtransport des nuklearen Materials zu erlauben und
- sämtliche militärisch relevanten Nuklearanlagen abzubauen.
Die USA sagten zu,
- technische Hilfe im Energiesektor zu leisten und
- die Normalisierung der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen anzustreben – einschließlich der diplomatischen Anerkennung und der Aufhebung der Wirtschaftssanktionen.
Ziel ist die Denuklearisierung der gesamten koreanischen Halbinsel und die Zusammenarbeit bei der Verwirklichung der Nicht-Weiterverbreitung von Nuklearwaffen.
Gestern: Hoffnung und Enttäuschung
Was für ein zukunftweisender »Deal«! Schade nur, dass dies nicht bei dem Treffen zwischen Präsident Donald Trump und Regierungschef Kim Jong-un 2018 in Singapur vereinbart wurde, sondern der Kern des Abkommens zwischen den USA und Nordkorea aus dem Jahr 1994 war. Vor mehr als 25 Jahren gelang es nach zähen Verhandlungen in Genf, das so genannte »Agreed Framework« abzuschließen; es regelte bis auf das nordkoreanische Raketenprogramm sämtliche nordkoreanischen Nuklearwaffenprobleme.
Statt darüber zu spekulieren, was heute auf die Treffen in Singapur und Hanoi folgen und ob daraus vielleicht doch noch ein »historischer Deal« werden könnte, ist es interessant, zu analysieren, warum denn das weitreichende Abkommen von 1994 nicht umgesetzt wurde und was daraus für heute folgt. Was also ging bei der Umsetzung des »Agreed Framework« von 1994 schief?
Das Grundproblem dieses Abkommens war das mangelnde gegenseitige Vertrauen der beteiligten Regierungen. Gegen Nordkorea blieb weiterhin der Verdacht, im Geheimen am Atomprogramm zu arbeiten. Nordkorea warf den westlichen Vertragsteilnehmern vor, ihren Verpflichtungen nicht nachzukommen. Teil dieses Vertrages war es, Nordkorea zwei Leichtwasserreaktoren zur Energiegewinnung zu liefern, eine Zusage, die nicht nur von den USA, sondern auch von der Europäischen Union und Japan mitgetragen und finanziert werden sollte, aber nie verwirklicht wurde. Im Nachhinein muss man es als naiv bezeichnen, einer Regierung Zusagen für die Lieferung moderner Nukleartechnologie zu machen, wenn man sie im Verdacht hat, weiterhin Atompläne zu verfolgen.
1998 wurde ein auf Geheimdienstinformationen basierender Artikel in der New York Times lanciert, der behauptete, Nordkorea baue einen unterirdischen Plutoniumreaktor und eine Wiederaufbereitungsanlage zur Abtrennung des Plutoniums. Die Regierung in Washington hegte den Verdacht, dass Nordkorea am »Agreed Framework« vorbei eine alternative Quelle zur Herstellung waffenfähigen Materials erschließen wolle. Der Zeitungsbericht lieferte den Gegnern des Abkommens Munition, mit der sie den Beweis für Nordkoreas Betrugsmanöver zu besitzen glaubten. Nach Inspektionen einer US-Delegation gab das Außenministerium jedoch bekannt, dass die betreffenden Anlagen in Nordkorea nicht zur Herstellung von Waffenmaterial geeignet seien.
Nordkorea heizte die prekäre, von gegenseitigem Misstrauen gekennzeichnete Situation damals zusätzlich an, indem es eine mehrstufige ballistische Rakete mit einer Flugbahn über Japan hinweg testete. Erst ein Jahr später »normalisierten« sich die Beziehungen wieder, und die USA lieferten zusätzliche Nahrungsmittel, nachdem Pjöngjang ein Testmoratorium für weitreichende Raketen ankündigt hatte.
Entscheidend für die erneute Beendigung des Tauwetters war der Regierungswechsel in Washington im Januar 2001. Bill Clintons Außenministerin Madeleine Albright hatte Pjöngjang im Oktober 2000 in der Erwartung besucht, das »Agreed Framework« zu retten, ein Folgeabkommen über das nordkoreanische Raketenprogramm zu erzielen und damit eine weitere Stufe der Normalisierung der Beziehungen anzubahnen. Die neue US-Administration unter George W. Bush hingegen verfolgte eine andere Nordkoreapolitik, der zwei sich ausschließende Strategien zugrunde lagen. Das von Colin Powell geführte Außenministerium verhandelte zwar weiter mit Nordkorea, die Hardliner aber riefen zu einer härteren Gangart auf. Insbesondere Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und der damalige UN-Boschafter der USA und spätere Sicherheitsberater John Bolton torpedierten die Verhandlungen. Das zarte Pflänzchen vorsichtiger Annäherung erstarb abrupt, als US-Vizepräsident Richard Cheney apodiktisch erklärte: „Ich bin vom Präsidenten beauftragt, sicherzustellen, dass mit keiner der Tyranneien dieser Welt verhandelt wird. Wir verhandeln nicht mit dem Bösen, wir besiegen es.“
Hatte die Clinton-Regierung abgewartet und auf einen Zusammenbruch des nordkoreanischen Regimes aufgrund der sich verschlechternden wirtschaftlichen Lage spekuliert, so versuchte die Bush-Regierung aktiv, dies durch Verschärfung der Sanktionen herbeizuführen. Es kam anders: 2003 trat Nordkorea aus dem Nichtverbreitungsvertrag aus, 2005 erklärte es sich offiziell zum Atomwaffenstaat.
Unterdessen wurde dennoch wieder verhandelt und ein weiteres Abkommen vereinbart, das im Jahr 2005 im Rahmen der so genannten Sechs-Parteien-Gespräche zwischen Nord- und Südkorea, den USA, China, Russland und Japan zustande kam. Nordkorea verpflichtete sich darin, „alle Atomwaffen und bestehenden Nuklearprogramme“ aufzugeben und dem Atomwaffensperrvertrag wieder beizutreten. Auch dieses Abkommen scheiterte 2009. Die Differenzen über die als notwendig erachteten Inspektionen vor Ort veranlassten die nordkoreanische Regierung, sich einseitig aus den Gesprächen zurückzuziehen.
Heute: Stillstand oder zukunftsweisende Diplomatie?
Die Ergebnisse des Treffens in Singapur mehr als zwei Jahrzehnte später muten gegenüber dem Abkommen von 1994 vage, zaghaft und nichtssagend an. Kim Jong-un verpflichtete sich in der Abschlusserklärung zur vollständigen Denuklearisierung der koreanischen Halbinsel, allerdings ohne festen Zeitplan und ohne Angaben, was unter »Denuklearisierung« zu verstehen sei. Donald Trump sagte im Gegenzug »Sicherheitsgarantien« zu, ebenfalls ohne Details, worin sie bestehen sollen. Darüber hinaus wollen die Regierungen dem Wunsch beider Völker nach „Frieden und Wohlstand“ entsprechen. Heißt dies, Nordkorea gibt sein Atomprogramm auf? Heißt dies, die USA ziehen ihre Soldaten aus Südkorea ab und kündigen den Atomschutzschirm für Südkorea und Japan?
Was für blumige, zu nichts verpflichtende Worthülsen! Inzwischen ist die Zeit der großen Sprüche vorbei, stattdessen wird im Stillen weiterverhandelt. Dies ist sicherlich erfolgversprechender als schlecht vorbereitete pompöse Treffen auf höchster Ebene.
Morgen: Und was bedeutet dies für die unmittelbare Zukunft?
Die jahrzehntelangen Verhandlungen mit der nordkoreanischen Regierung haben gezeigt, dass Pjöngjang mit seinem wiederholten Ausstieg aus den Verhandlungen, mit militärischen und sicherheitspolitischen Provokationen, mit gelegentlichem Entgegenkommen, gar mit Bereitschaft zur Unterzeichnung von Rüstungskontroll- und Abrüstungsabkommen ein äußerst schwieriger und nicht leicht berechenbarer Verhandlungspartner ist.
Doch auch die Politik der USA war bedeutsamen Schwankungen unterworfen. Die stark ideologisch motivierten Beurteilungen der nordkoreanischen Politik in Washington waren geprägt vom Misstrauen gegenüber den drei Kim-Regierungen. Signale der Entspannung gingen meist mit Drohungen einher. Und nicht nur Nordkorea nahm es mit der Vertragstreue nicht so genau.
Was sind nun die Treffen in Singapur und Hanoi und die jetzigen diplomatischen Kontakte wert? Historisch war das Treffen in Singapur insofern, als erstmals ein US-Präsident mit einem nordkoreanischen Machthaber zusammenkam. Geschickt und überraschend zugleich hatte Kim Jong-un seine Strategie der sicherheitspolitischen Provokationen der letzten Jahre zu einer Charmeoffensive Richtung Südkorea und USA verändert und damit eine sicherheitspolitisch durchaus gefährliche Situation in Südostasien entschärft. Trumps spontane Bereitschaft zum Treffen, dann seine Absage und später die abermalige Zusage zeigen, wie unvorbereitet, ja konfus die US-Regierung in diese Gespräche ging. Das Kim-Regime wurde zweifellos international aufgewertet: Der Sieger, um es in Trump‘schen Denkmustern auszudrücken, ist Kim Jong-un.
Folgende Schlussfolgerungen lassen sich daraus ziehen:
1. Euphorie über die Annäherung ist keinesfalls angebracht. Selbst der Abschluss detaillierter Abkommen bedeutet nicht, dass diese auch Realität werden, wie die Vergangenheit gezeigt hat. Außerdem ist der Weg zu einem neuen Abkommen noch weit.
2. Nordkorea wird kaum auf sein Atomprogramm verzichten, es sei denn, Kim Jong-un wird seitens der USA glaubhaft versichert und verbindlich zugesagt, auf einen Regimewechsel zu verzichten. Indes bedeuten auch solche Zusagen der US-Regierung wenig, wie die einseitige Kündigung des Iran-Deals durch die USA zeigt. Das heißt: Die nordkoreanische Regierung wird von Trump kaum Vertragstreue erwarten.
3. Nach den Erfahrungen mit von außen forcierten Regimewechseln im Irak und in Libyen betrachtet Kim Jong-un das Atomprogramm als Lebensversicherung für sein Regime. Man muss dem Machthaber schon viel bieten, um ihn zu Zugeständnissen zu veranlassen.
4. Trotz der vertrackten Lage sollte die Chance auf Entspannung wahrgenommen werden, denn zu Verhandlungen gibt es nur zwei Alternativen: erstens, eine schlechte und nicht akzeptable, nämlich eine militärische Auseinandersetzung, möglicherweise mit Atomwaffen; zweitens, Abwarten und Nichtstun wie unter Obama. Die Konsequenz wäre der weitere Ausbau des Atomprogramms.
Hindernisse auf dem Weg zur Denuklearisierung
Es existiert eine Vielzahl Hindernisse und Konflikte, die für den Abschluss eines wirksamen und nachhaltigen Abkommens aus dem Weg geräumt oder zumindest berücksichtigt werden müssten.
- Innergesellschaftlich hat das Atomprogramm eine große Bedeutung in Nordkorea. Es ist nicht nur ein Prestigeprojekt der Kim-Regierung. Mit Pathos und nationalem Stolz feiert die Bevölkerung die wissenschaftliche Ingenieurleistung. Das Atomprogramm hat durchaus eine soziale Funktion, die die Regierung sich zunutze macht.
- Im Fokus der Kim-Regierung steht bei ihren Verhandlungen mit den USA nicht allein das Atomprogramm. Auch das innerkoreanische Verhältnis ist zu beachten. Eine »deutsche« Lösung für die Teilung, die einer Annexion durch Südkorea entspräche, ist für Nordkorea eine Horrorvorstellung. Deshalb sind Sicherheitsgarantien für Nordkorea unabdingbar.
- Die Isolierung Nordkoreas, teils selbst herbeigeführt durch eine bewusste Politik der Autarkie, teils erzwungen durch die jahrzehntelangen US- und UN-Sanktionen, will die nordkoreanische Regierung unbedingt durchbrechen, nicht zuletzt, um wirtschaftlichen Fortschritt zu ermöglichen.
- Das Verhältnis zwischen den USA und Nordkorea wurde von Nordkorea schon immer mit dem Ziel gestaltet, auf Augenhöhe zu verhandeln. Daher rührt die relativ unkomplizierte Akzeptanz, mit dem »Dealmaker« aus Washington in entspannter Atmosphäre Gespräche zu führen. Endlich erhielt man die Anerkennung, die jahrzehntelang verweigert worden war.
- Auf einer Metaebene spielt die US-chinesische Rivalität in Asien und global eine entscheidende Rolle. Nordkorea ist in seinem Außenhandel zu 95 Prozent von China abhängig und kann die chinesische Position nicht ignorieren. Gerade weil sowohl China als auch die USA nordkoreanische Atomwaffen nicht tolerieren wollen, hat Nordkorea mit seinem Arsenal ein Faustpfand für Verhandlungen in der Hand.
In dieser Situation könnte es hilfreich sein, dass eine neutrale Partei eine Moderatorenrolle übernimmt. Dazu bietet sich eigentlich die EU an, die häufig von Verantwortung für den Frieden in der Welt spricht. Brüssel äußert sich allerdings kaum zu einem Dialog mit Nordkorea oder einer Vermittlung in dieser Situation.
Vielleicht hilft ein Blick auf andere Länder, um eine Idee zu bekommen, wie es mit dem nordkoreanischen Atomprogramm weiter gehen könnte.
- Da ist das Modell Israel: Die Existenz israelischer Nuklearwaffen wird stillschweigend hingenommen.
- Libyen: Die Regierung Gaddafi verzichtete 2003 auf Atomwaffen, aber die zugesagte Normalisierung der internationalen Beziehungen blieb aus. Seit einer internationalen Militärintervention 2011 und dem Sturz Gaddafis herrscht Chaos im Land.
- Indien: Das Land ist nicht Mitglied des Atomwaffensperrvertrags und kritisiert diesen Vertrag als unfair. De facto ist Indien als Nuklearmacht anerkannt.
- Iran: Der Vertrag mit dem Iran von 2015 ist ein hervorragendes Modell. Bekanntermaßen hielten sich die USA nicht an diesen völkerrechtlich verbindlichen Vertrag und kündigten ihn 2018 auf.
- Südafrika gab sein weit fortgeschrittenes Nuklearwaffenprogramm nach dem Fall des Apartheid-Regimes 1989 auf und ließ die Überprüfung durch die Internationale Atomenergieorganisation zu.
Für Nordkorea erscheint ein Dreistufenplan erfolgversprechend. In Phase 1 sollte über das Atomprogramm und die wirtschaftliche Sicherheit des Landes verhandelt werden, also Einfrieren des Atomprogramms und graduelle Lockerung der Wirtschaftssanktionen. Phase 2 sollte der Durchführung von Vereinbarungen gewidmet sein, einschließlich Inspektionen durch die Internationale Atomenergieorganisation, vertrauensbildenden Maßnahmen, wie die Reduzierung der konventionellen Waffenarsenale, der kompletten Aufhebung der Sanktionen sowie wirtschaftlicher Hilfe in Infrastruktur und Landwirtschaft für Nordkorea. Phase 3 schließlich sollte den kompletten Abbau militärisch relevanter Nuklearkapazitäten und den Abzug der auf US-Kriegsschiffen in der Region vorhandenen Nuklearwaffen vorsehen. Gleichzeitig sollte die Grenze zwischen Nord- und Südkorea demilitarisiert werden und die Normalisierung sämtlicher politischer und wirtschaftlicher Beziehungen stattfinden. Ob der politische Wille und die Ausdauer auf beiden Seiten für eine solche Lösung reichen?
Herbert Wulf, Professor für internationale Beziehungen i. R., war Leiter des Bonn International Center for Conversion (BICC) und leitete ein Projekt der Vereinten Nationen zur Rüstungskontrolle in Nordkorea. In dieser Funktion war er mehrfach in Nordkorea tätig.