Fehlende »Vergangenheitsbewältigung« in Japan
Der Versuch einer Erklärung
von Kenichi Mishima
Die Japaner – wie viele meinen – sind rätselhaft und unzugänglich. Ihr Verhältnis zum grauenhaften Kapitel unseres Jahrhunderts ist schlicht unverständlich. Sie versuchen auf bilateraler Ebene, ohne Gegenleistung die Versöhnung zu erzwingen. Ihr Auftreten in der internationalen Politik kann man auch nicht unbedingt als versöhnlich bezeichnen. Von ihrem Anspruch auf die Rückgabe von vier Kurileninseln wollen sie keinen Zentimeter abrücken. Möglicherweise sind sie der Ansicht, sie seien eine auserwählte Nation. Was ihr Verhalten in Ostasien betrifft, so glauben sie anscheinend an ihre Unfehlbarkeit und betrachten ihre Führungsrolle dort als gottgegeben und gottgewollt. Daher rührt auch die ständig praktizierte Täter-Opfer-Vermischung. So sieht nach meiner Einschätzung das gängige Bild Japans aus, das vor unserem geistigen Auge entsteht, wenn es um »Erbschaft der Schuld« geht. Und dieses Bild ist im großen und ganzen richtig. Dieses Bild kann aber zu einer undifferenzierten Wahrnehmung führen und ein kritisches Verständnis erschweren.
Natürlich ist Japan wie jede Nation keine dumpfe Masse. Auch auf dem kleinen Inselstaat gibt es vielfältige intellektuelle Landschaften, verschiedenste Diskussionsrichtungen, politische Oppositionen unterschiedlichster Couleur. Damit Sie sich ein Bild machen können: es gibt in der japanischen intellektuellen Szene durchaus Entsprechungen für Herren wie Nolte, Walser, Grass, Habermas usw. in Hülle und Fülle (vielleicht erlebt man dort oft Diskussionen in einer für Mitteleuropäer nicht sofort einleuchtenden, interessanten Mischung von Argumentationstypen). Es finden erbitterte öffentliche Diskussionen statt. Außerdem haben die Anhänger der verschiedenen intellektuellen Lager z.B. in Deutschland oft untereinander Berührungsängste. Dies alles ist hier kaum bekannt. Und doch sollte man – ohne über Einzelheiten unterrichtet zu sein – sich zumindest vorstellen können, daß in einer modernen Industrienation alles so anders nicht sein kann.
Warum aber entsteht so ein Bild, wie ich es vorhin kurz angedeutet habe? Weil unsere politische und wirtschaftliche Elite, und ein Teil der kulturellen Elite auch, dazu neigte und heute noch dazu neigt, in Konkurrenz gegen den Westen geschlossen aufzutreten, um zumindest subjektiv, d.h. nach ihrem Selbstverständnis, die Nation vor der Bedrohung durch den Westen zu schützen, um aber objektiv gesehen ihre herrschende Stellung innerhalb der Nation abzusichern. Und an dieser mentalen Struktur hat sich in den letzten 130 Jahren nicht so viel geändert. Diese These kann befremdend sein. Ich möchte sie kurz erläutern.
Der seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts in die Seelen der nationalen Elite tief eingeprägte Slogan lautet: den Westen imitieren, ihn einholen und überholen. Japan öffnete sich gerade zu der Zeit, als der europäische Kolonialismus seinen Höhepunkt erreichte. Leitartikel repräsentativer Zeitungen aus der Meiji-Zeit sind voll von mahnenden Stimmen gegen die „heimtückischen Europäer“. Tatsächlich mußten die Japaner bei der Öffnung des Landes durch den Abschluß sogenannter ungleicher Verträge viele Konzessionen machen: Abtretung der Zollhoheit an die Westmächte und Exterritorialität der Handelspartner in Sachen Justiz. Den Mangel an Souveränität aufzuheben, galt bis Ende des vorigen Jahrhunderts als oberstes Staatsziel, das für die Eliteschicht mentalitätsbildend wirkte. Hier gilt die Regel der historischen Erinnerung: Kolonialisierte und Beinahe-Kolonialisierte haben ein viel besseres Gedächtnis als Kolonialherren; eine Regel, die die Japaner in ihrem Verhältnis zum »western challenge« beherzigt, die sie aber in ihrem Verhältnis zu den Opfern der japanischen Kolonialisierung schnell vergessen haben. Das geschah durch das Ausscheren Japans aus dem westlichen Club des »inoffiziellen Imperialismus«, mit dem man gemeinsam und unter gegenseitiger Achtung von Interessensphären China ständig ausquetschte. Mit diesem Ausscheren wurde die Voraussetzung für die Entfesselung der Brutalität geschaffen.
Das anhaltende Trauma, das die Nation seit Commodore Pery durch die »Bedrohung von Westen« mehrmals erlitten hat, hat einerseits die Folge, daß sich die Führungsschicht, wie angedeutet, an den Stil der stärkeren Nationen anzugleichen versuchte, nicht nur im Alltagsleben, sondern auch in der Außenpolitik, daß also im eigenen Vorgarten (genauer in der Region von Manshu bis Indochina und Indonesien) eine Hegemonie angestrebt wurde. In der Verhandlung nach dem Sieg im chinesisch-japanischen Krieg 1894/5 haben die Japaner gegenüber den Chinesen für sich selbst günstigere Konzessionen durchgesetzt als die Westmächte.
Das Trauma hat andererseits die Folge, daß die kulturelle Elite Japans, hin- und hergerissen zwischen dem Minderwertigkeitskomplex gegenüber dem Westen einerseits und dem Glauben an die Überlegenheit der eigenen Lebenswelt andererseits, hartnäckig die Besonderheit ihrer Kultur behauptete und um die dementsprechende Inszenierung der eigenen Tradition bemüht war und heute noch ist. Wurde früher, d.h. bis Ende des Zweiten Weltkrieges und vielleicht noch weiter in die sechziger Jahre hinein, in der traditionellen Ästhetik der Grund für die eigene kulturelle Singularität gesehen, so wird im Zuge des Prosperitätszuwachses in den letzten drei Jahrzehnten immer mehr in der sogenannten gruppenorientierten Flexibilität und Loyalität etwas Einzigartiges gesehen, etwas, was nach Meinung der kulturellen Elite unsere Tradition auszeichnet, was deswegen aus ihrer Sicht die rationalen Europäer bei aller Anstrengung nicht einmal annähernd verstehen, geschweige denn nachahmen können. Beides zusammen heißt: im Kampf um die Hegemonie den Westen überholen und zwar aufgrund der eigenen kulturellen Überlegenheit.
Und nur mit Hilfe dieser Strategie war die Selbsterhaltung der kleinen Schar, die die politische Elite bildete, möglich. Denn sie war bei der Meiji-Restauration nicht durch einen demokratischen Legitimationsprozeß an die Macht gekommen. Mit ihr hat sich auch die neue wirtschaftliche Elite schnell amalgamiert. Das Gefälle zwischen Armut und Reichtum war vor dem Krieg unvorstellbar groß.
Um dies alles zu rechtfertigen, braucht der weltoffene Ethnozentrismus der Eliteschicht mindestens zwei Bündel wirksamer Praktiken und Diskurse. Erstens eine Inszenierung des »public memory«, zweitens die Verschleierung des Entscheidungsprozesses.
Zur Steuerung bzw. Inszenierung von »public memory"gehörte vor dem Zweiten Weltkrieg z.B. der Mythos der Staatsgründung und der 2600-jährigen Kontinuität des Kaiserhauses; dazu gehörte die Heroisierung einer kleinen Gruppe wichtiger Akteure der Meiji-Restauration und großer Politiker und Generäle aus der Meiji-Zeit (neulich hat das Kultusministerium angeordnet, mehr Unterrichtszeit für die Behandlung von solchen »Männern« zu verwenden als bisher), dazu gehörte die para-religiöse Glorifizierung der gefallenen Soldaten in dem früher staatshintoistischen Yasukuni-Schrein (als »lieu de mémoire«); dazu gehörte auch der Diskurs über Kirschblüten als quasinationale Symbole, obwohl die Kirschbaumsorten, an deren Schönheit man sich heute erfreuen kann, erst im 18. Jahrhundert von einem Gärtner künstlich geschaffen worden sind. Die Liste könnte ich noch beliebig verlängern. Eines muß ich noch hinzufügen: Früher wurde sogar die Geschichte gefälscht. Nach der Version der altjapanischen Geschichte, die man vor dem Krieg in der Schule zu hören bekam, die ich auch in den fünfziger Jahren lernen mußte, war die japanische Armee schon im 6. und 7. Jahrhundert bis zum Festland vorgedrungen, bis zur heutigen koreanisch-chinesischen Grenze. Und damals habe Japan in Südkorea eine Kolonie unterhalten. Dieses »Wissen« legitimierte den japanischen Anspruch auf die koreanische Halbinsel. Die Wirklichkeit sah so aus: Die Inschrift auf einer aus dem 6. Jahrhundert stammenden großen Steinplatte an der Grenze von Korea zu China wurde in der ersten Meiji-Zeit von einem japanischen Stabsoffizier so gefälscht, als ob eine große Gruppe von japanischen Kriegern schon am Beginn unserer Geschichte dort gestanden hätte.
Die zugunsten des Ethnozentrismus veranstaltete Inszenierung von »public memory« geschah auch in bezug auf den Zweiten Weltkrieg. Das legendäre Schicksal der beiden damals weltgrößten Kriegsschiffe in der Seeschlacht wurde in verschiedenen Verpackungen x-mal weiter erzählt, verfilmt, für Comics verarbeitet, in Form einer Dokumentarliteratur fixiert; es wurden Hunderte von Legenden – der Richthofenlegende ähnlich – fabriziert, sogar so etwas wie die Kyffhäuserlegende, wonach eine verschwundene Staffel von japanischen Fliegern mit ihren »zero-fightern« in einer Höhle auf einer Südseeinsel auf den nächsten Befehl warten. Es wurden auch Legenden von großen Admiralen und Generälen erzählt, die, im vollen Bewußtsein der Aussichtslosigkeit ihrer Operationen, nur im Vertrauen auf die Regeneration des japanischen Volkes, gegen die an Kriegsmaterial überlegene amerikanische Flotte gekämpft hätten und schicksalsergeben in den Tod gegangen wären. Moralische Dignität strahlen in solchen Geschichten immer nur die japanischen Admirale und Generäle aus, nicht aber die Amerikaner, die, ihren Kaugummi im Mund, als bloße Kampfmaschinen dargestellt werden.
Zu einer solchen selektiven Inszenierung von »public memory« gehört auch der Diskurs über die Kriegsursachen. Man war sich nach 1945 schnell einig, wer die Schurken waren. Das sind chauvinistische Führer im Militär, die, losgelöst von der Kontrolle durch die Regierungszentrale, ihre expansiven Operationen durchgeführt haben. Das sind aber auch einige Bosse der Industrie, die sich durch Aufträge in der Rüstungsindustrie kurzfristige Profite erhofften. Merkwürdigerweise wurde die Beamtenschaft, abgesehen von einigen Kriegsverbrechern, als ganze nicht an den Pranger gestellt. Und für viele war der Zweite Weltkrieg eine bedauerliche, aber unvermeidliche Reaktion auf die weltweit vom heimtückischen Westen organisierte wirtschaftliche Repression. Für sie war der Krieg ein zwar mit falschen Mitteln geführter, aber in der Intention durchaus legitimierbarer Kampf gegen die westliche Hegemonie, ein Kampf, der bereits mit den sogenannten ungleichen Verträgen angefangen hätte. Die japanische Linke hat sich bis zu einem gewissen Grad an dieser selektiven Gestaltung von »public memory« auch beteiligt. Sie hob neben Militär und Industrie das Tenno-System als Ursache für jegliches Unheil hervor. Über die selbstdestruktiven Strukturen im Vorkriegsjapan, über die Mentalität, die die hegemoniale Politik unterstützte, wird – außer in Fachkreisen der Historiker – kaum analytisch diskutiert.
Dies ist der Nährboden für das Selbstverständnis des Volkes als Opfer des von Militär und Industrie eigenwillig angezettelten Krieges. In ihrem Verständnis haben die einfachen Japaner, die kleinen Leute auf der Straße, die größten Leiden erlitten; und zwar nicht nur als Opfer der Atombomben, sondern auch als Soldaten, die im Schlamm des Südseedschungels buchstäblich »krepierten« oder im brennenden Motorraum eines Kriegsschiffes auf den Meeresgrund gezogen wurden; als Frauen, die ihre Männer verloren und mit den niedrigsten Löhnen ihre Kinder allein erziehen mußten. Das sind Geschichten, die meine Generation immer wieder zu hören bekam. Die Opfer werden als unschuldig heroisiert. Der Abwurf der Atombomben auf die beiden Städte und die unzähligen Opfer, ihre unbeschreiblichen Leiden – dies alles bekam bald eine Alibifunktion. Das Selbstverständnis des Volkes als Opfer der Staatshandlung ermöglichte eine schnelle Identifikation mit den Atomopfern, erkauft durch Ignoranz gegenüber den Opfern der japanischen Invasion. Natürlich hat diese eigenartige Selbststilisierung in weiten Kreisen der Bevölkerung zur Herausbildung einer neuen Mentalität beigetragen, nämlich der des unnachgiebigen und totalen Pazifismus. Der Slogen „Nie wieder Krieg, nie wieder Waffengang“, der vielleicht nur egoistisch gedacht war, fand nach 1945 lange Zeit große Unterstützung.
Man sieht hier sofort: Der Selbsterhaltungsdiskurs der ethnozentrisch denkenden, sich weltoffen zeigenden Elite verseucht damit auf doppelte Weise die Masse. Diese betrachtet sich selbst als Opfer des japanischen Systems. Sie identifizieren sich aber auch nach bekannter Logik mit den Diskursen der politischen und kulturellen Elite. Den einen Satz, den der französische Präsident Mitterrand am 8. Mai dieses Jahres in Berlin gesagt hat, die deutschen Soldaten hätten „den Verlust ihres Lebens für eine schlechte Sache hingenommen“, würde, wenn ein japanischer Politiker ihn auf unsere Geschichte übertragen würde, die Volksseele zum Kochen bringen. Natürlich haben sich einzelne Diskurse und Praktiken verändert. Aber in allen diesen Prozessen hatte die nationale Elite, sowohl die wirtschaftliche als auch die politische, wozu sich immer auch ein Teil der kulturellen hinzugesellte, die Macht inne.
Der zweite Komplex von Diskursen und Praktiken ist ein verschleierter Entscheidungsprozeß. In den westlichen Ländern gilt die Transparenz im Entscheidungsprozeß als eine der unerläßlichen Bedingungen für Demokratie. Das heißt natürlich nicht, daß diese Bedingung immer erfüllt worden wäre. Zumindest dem Prinzip nach aber wird sie anerkannt. Dagegen hat sich in Japan im Laufe von Jahrzehnten nach der Meiji-Restauration der Praxis der ungleichmäßigen Partizipation am Entscheidungsprozeß und ein Versteckspiel der Entscheidungs- und Verantwortungsträger ergeben. Die Folgen sind bekannt: Paternalismus und autoritäre Expertokratie, aber auch Lethargie und Verantwortungslosigkeit gegenüber dem Geschehenen.
Was ich in Ermangelung eines besseren Ausdrucks »Versteckspiel der Entscheidungsträger« nannte, bedarf einer Erläuterung. Im Vordergrund steht eine Marionette und der eigentlich Mächtige steht unsichtbar im Hintergrund – so etwas gab und gibt es auch anderswo. Der Ausdruck »Graue Eminenz« in der deutschen Sprache kommt nicht von ungefähr. Die politische und militärische Entscheidungskette Japans seit spätestens 1931 läßt sich ohne diese Praktiken kaum erklären. In bezug auf den Führungsstil besteht ein großer Unterschied zum Nationalsozialismus. Das Militär gewann in den dreißiger Jahren im Namen des Kaisers immer mehr Einfluß und dehnte seinen Operationsradius im Alleingang aus. Und die Regierung, deren Ministerpräsident oft nach nur 3-5 Monaten »durchbrannte«, versuchte vergeblich, diesen Alleingang unter Kontrolle zu bringen. Der nächste Ministerpräsident gab dann der vollendeten Tatsache ihr Plazet. Kein Akteur wußte, wo, wie und was wirklich entschieden wurde.
Diese Doppelstruktur von Autorität und Macht gibt es überall. Aber im modernen Japan wurde sie sehr raffiniert eingesetzt. Denn hinter dieser Doppelstruktur wurde – Historiker wissen das schon längst – innerhalb der Elite eine relativ klare Expansionsstrategie unaufhaltsam in die Tat umgesetzt. Die beiden Pole können sich stets ändern. Für viele ist der Autoritätspol noch der Tenno, der Kaiser. Dazu äußerte sich später der Ministerpräsident Nakasone am 29.8.1987 in einer Klausurtagung der LDP (Liberal-Demokratische Partei Japans): „Der Tenno hat eine Stellung wie die Sonne, die an der höchsten Höhe des Himmels leuchtet. … Wir können deswegen ruhig unserem irdischen Geschäft nachgehen, manchmal auch unerfreuliche Dinge tun und miteinander streiten; über allem ruht die leuchtende Sonne. Die irdische Welt ist unsere Partei. Das irdische Geschäft übernimmt die LDP. Wir haben dieses Zwei-Welten-System.“ Kein Wunder, daß nach 1945 nicht nur die Alliierten, sondern auch die (wieder)hergestellte demokratische Öffentlichkeit sich schwer tat, die Träger individueller Schuld zu identifizieren. Vor allem die bis heute andauernde Diskussion über die Kriegsschuld des Kaisers zeigt diesen Sachverhalt.
Zwar wurde nach 1945 dank der amerikanischen Besatzungspolitik ein umfangreiches Reformprogramm in Angriff genommen. Teilweise wurde es konsequent durchgeführt, z.B. in Form von Agrarreform und Entflechtung der Holding-Gesellschaft. Beides erwies sich als geeignet für den zweiten wirtschaftlichen take-off. Der Rest blieb auf der Strecke, vor allem die Demokratisierung der Beamtenschaft und die Stellung des Tennos. In Deutschland dankte der Kaiser im November 1918 ab, es blieben aber die Generäle. Bei uns wurden nach 1945 die Militärs abgesetzt. Der alte Staatsapparat und dessen Selektionsmechanismus, vor allem der Tenno blieb aber unberührt. Unangetastet blieb damit auch die Möglichkeit einer Inszenierung von »public memory« und einer weiteren Verschleierung des Entscheidungsprozesses.
Ein Beispiel: Das ehemalige Sowjetrußland hatte in Japan ein ausgesprochen schlechtes Image. Oft wurde dafür die Erklärung angeführt, Stalin habe den Nichtangriffspakt gebrochen. Es folgten die üblichen Klagen über Vergewaltigung und Plünderung durch die Rote Armee. Es wurde dabei verschwiegen, daß das Gebiet, in das Sowjetrußland eindrang, keineswegs ein international anerkanntes japanisches Territorium war. Es war eine Art Schutzzone als Produkt des japanischen Imperialismus, erobert mit Hilfe der Verschleierungsmethoden.
Das zweite Beispiel: Die Dramatisierung des sogenannten nördlichen Territoriums. Über die Rechtslage kann man streiten. Aber politisch wird diese Frage immer wieder dramatisiert, und obwohl mit diesen vier Inseln überhaupt kein kulturelles Vermächtis, keine Erinnerung an irgendeine kulturelle Leistung der Japaner verbunden ist, sind sie inzwischen ein wichtiger Bestandteil von »public memory«.
Das dritte Beispiel: Die Gleichung Ausschwitz-Hiroshima. Daß es sich um eine nicht vertretbare Gleichung handelt, dazu brauche ich nicht viele Worte zu verlieren. Die Strukturen, aus denen die Opfermentalität entstanden ist, habe ich bereits erwähnt. Viele meiner Landsleute, vor allem die Intellektuellen, glauben, die Japaner seien besonders privilegiert, sich mit dem Appell für die Abschaffung von Atombomben an die Weltöffentlichkeit zu wenden.
Die imperialistischen Strukturen, die der Westen geschaffen hat, haben die Japaner eifrig imitiert. Peter Duus, Professor in Stanford, spricht davon, daß bei den Japanern die Verehrung des Westens die Form der Imitation angenommen hat. Vielleicht hat er recht. Aber es fand nicht nur eine Imitation statt, sondern auch die Absicherung der Eliteschicht durch eine Politik der Selbstbehauptung. Sie fand ab und zu unter dem Namen der Befreiung Asiens von den europäischen Mächten statt. In Wirklichkeit ging es aber um die Aufrechterhaltung ihrer Position innerhalb der Nation. Und diese Struktur ist heute noch präsent. Nur eine funktionierende demokratische Öffentlichkeit kann die »public memory« umstrukturieren, und zwar so, daß als erste an die asiatischen Opfer der japanischen Kriege erinnert wird. An die Opfer des europäischen Imperialismus zu erinnern, oder daran zu erinnern, daß auch Japan vielleicht durch einen »inoffiziellen Imperialismus« hätte beherrscht werden können, ist nicht die Aufgabe unserer demokratischen Öffentlichkeit. Die Rückkehr zur Normalität, die die nationale Elite jetzt mit allen Kräften vorantreibt, kann dieser demokratischen Öffentlichkeit nur im Wege stehen.
Dr. Kenichi Mishima ist Professor für Philosophie und arbeitet an der Fakultät der Humanwissenschaften der Universität Osaka. Er hat dort einen Lehrstuhl für Vergleichende Kulturwissenschaft und Sozialphilosophie inne.