W&F 2007/4

»Festung Europa«

von Gabriele del Grande

Täglich sterben Menschen beim Versuch, auf ihrer Flucht vor Krieg und Verfolgung, Elend, Umweltzerstörung und Gewalt nach Europa zu gelangen. Für uns im Norden sind sie namenlos, aber ihre Angehörigen bangen und hoffen, von ihnen ein Lebenszeichen zu hören. Die Initiative »fortresseurope« bemüht sich darum, die tödlichen Ergebnisse der EU-Abschottungspolitik zu erfassen. Wir dokumentieren den Bericht für den Monat September.

Unseren internationalen Presseberichten nach sind mindestens 99 Personen im September dieses Jahr an den Pforten Europas gestorben. Es gibt 1.096 Opfer seit Anfang des Jahres, 10.355 Migranten sind seit 1988 gestorben. Im letzten Monat sind 43 Personen vor den Kanarischen Inseln ertrunken; 19 auf dem Weg zu der französischen Insel Mayotte im Indischen Ozean, 11 Leute starben auf dem Weg zwischen der algerischen und spanischen Küste, 13 starben im Kanal von Sizilien und 10 vor den griechischen Inseln. Drei tschetschenische Mädchen, im Alter von 6, 10 und 13 Jahren sind beim Versuch, mit ihrer Mutter von der Ukraine zu Fuß nach Polen zu gelangen, erfroren. Die Zahl der Ankünfte über See nimmt ab (-75% in Spanien und -7% in Italien), nicht aber die Zahl der Opfer. Unterwegs zwischen Libyen und Spanien, sind dieses Jahr bereits 500 Personen gestorben, verglichen mit den 302 des ganzen vorigen Jahres. Inzwischen geht in Libyen das Leiden der 600 Eritreer weiter, die in Misratah gefangen sind. Aber Europa schaut weg und Frattini kündigt ein neues Abkommen mit Tripoli an, um Migranten, die im Meer aufgegriffen werden, zurückzuschicken.

Am 10. September überwachten Frontex-Patrouillen den Kanal von Sizilien und den Süden von Sardinien, von Annaba aus, entlang der algerischen Route nach Italien. Im ersten Teil ihrer Mission, genannt »Nautilus II«, die im Juni und Juli 2007 stattgefunden hat, wurden 464 Migranten festgenommen und 166 gerettet. Der EU Kommissar Frattini hat vor kurzem mitgeteilt, dass diese Patrouillen ab 2008 permanent eingesetzt werden und dass Libyen dann mitarbeiten wird. Der Kommissar hat bereits 30 Millionen Euro zusätzlich erbeten, mit denen das Frontex-Budget aufgestockt werden soll (34 Millionen Euro in 2007) – und das, obwohl ein Verfassungszusatz des Europäischen Parlaments verlangt hat sofort 30% der administrativen Ausgaben einzufrieren. Momentan ist »fortresseurope« sehr besorgt über die zukünftige Zusammenarbeit mit Libyen, um Migranten zurückzuschicken.

Frontex schickt sie bereits in Mauretanien und Senegal zurück, wo mehr als 1.500 Personen in 2007 abgefangen wurden und wo mehr als 18.000 Senegalesen im Jahr 2006 von Europa aus abgeschoben wurden. Human Rights Watch teilt mit, dass sie große Besorgnis über Misshandlungen und Folter von Migranten in Libyen hege. Aber Europa schaut weg. Frontex hat bereits Kontakt mit libyschen Offiziellen aufgenommen. Brüssel schenkt Gaddafi ein elektronisches Sicherheitssystem, um die südlichen Grenzen zum Niger, Tschad und Sudan zu überwachen, von wo aus Tausende Menschen jedes Jahr ins Land eindringen und manchmal weiter nach Lampedusa reisen. Frattini wird in Kürze eine Truppe nach Tripoli schicken, um die Geräte zu installieren, wie der italienischen Innenminister Giuliano Amato am 18. September verkündete.

Am selben Tag – was für ein schizophrenes Europa! – hat eine offizielle Mitteilung der Europäischen Union das „ernste Missachten der Menschenrechte“ in Eritrea verurteilt. Aber kein Wort wurde über die 2.589 eritreischen Flüchtlinge verloren, die im Jahr 2006 an der sizilianischen Küste ankamen, nachdem sie der Diktatur entflohen waren. Sie machen 12% der 22.016 Migranten aus, die im letzten Jahr illegal in Italien angekommen sind, und 20,8% der 10.438 AsylbewerberInnen der gleichen Zeit. Und nichts wurde gesagt über die 600 Eritreer, die seit einem Jahr und 6 Monaten in Misratah gefangen sind, 200 km östlich von Tripoli, unter menschenunwürdigen Verhältnissen, darunter drei schwangere Frauen, zwei Babies und mehr als zehn Kinder. Weitere 70 Eritreer wurden in Zawiyah in einer Razzia in der Nacht vom 8. auf den 9. Juli 2007 festgenommen. Viele von ihnen sind vom Flüchtlingshilfswerk der UNO anerkannte Flüchtlinge, die versuchen eine Umsiedlung zu organisieren. Die meisten von ihnen sind der Armee und dem Krieg entflohen. Sie haben die Sahara durchquert und haben versucht durchs Mittelmeer nach Italien zu gelangen und politisches Asyl zu beantragen. Wenn sie zurückgebracht werden, steht ihr Leben auf dem Spiel, so wie das der 161 Kriegsdienstverweigerer, die im Jahr 2005 nach Angaben von amnesty international in Eritrea erschossen wurden. Die eritreische Diaspora demonstrierte am 18 September überall in Europa für ihre Freilassung.

Das Grünbuch der EU zum Thema Asyl vermerkt, dass es eine Vermischung der Arbeitsmigration mit den Flüchtlingen ohne Papiere gibt. Europäische Statistiken zeigen, dass im Jahr 2006 192.000 Migranten in den 27 EU-Ländern um Asyl nachgesucht haben; das ist nur ein Fünftel der 670.000 Anfragen im Jahr 1992 in damals 15 Ländern. Die Anzahl der Asylanträge ist in den letzten fünf Jahren um die Hälfte zurückgegangen. Das ist das Ergebnis der Jagd auf die illegale Migration, die die meisten der Iraker, Sudanesen, Afghanen und anderen Flüchtlinge dazu zwingt, Europa auf illegalem Weg zu erreichen. Europa wehrt sich gegen sie mit Armeen, rassistischen Gesetzen, Mauern und Gefängnissen und bringt sie zurück in ihren Krieg.

Sie kommen aus dem Irak, Afghanistan und Iran und sie gelangen in Patras und Igoumenitsa an Bord von Touristenschiffen aus Griechenland und erreichen so Italien. Täglich findet die italienische Polizei Dutzende von Migranten ohne Papiere in den Häfen der Adria. Sie werden an Bord festgehalten, bis das Schiff wieder nach Griechenland zurückkehrt, wo sie dann festgenommen werden und vielleicht in die Türkei abgeschoben werden, die sie dann wiederum in ihre Heimatländer abschiebt. Nach italienischen Pressemitteilungen vom September wurden 194 Migranten zurückgeschickt; davon waren 95 Iraker, 30 Türken und 19 Afghanen. Die meisten von ihnen wurden in Griechenland wieder »aufgenommen«. Am 19. September wurde eine irakische Familie – Mutter, Vater und 4 Kinder im Alter von einem bis acht Jahren, vom Hafen in Ancona nach Griechenland zurückgeschickt. Im August wurden mindestens 362 Personen auf die gleiche Art zurückgebracht. Vom Hafen von Bari aus – so die Angaben der Grenzpolizei – wurden im Jahr 2006 850 Migranten nach Griechenland zurückgebracht, davon waren 300 Iraker und 170 Afghanen. Am 9. April 2007 wurden – wiederum von Bari aus – an einem einzigen Tag mindestens 150 Iraker auf die gleiche Weise zurückgebracht; 120 Iraker waren es im August 2007 und 43 im September.

Einen Asylbewerber zurückzuschicken, ist nach italienischem Gesetz sowie nach UN-Konvention für Flüchtlinge verboten. Das europäische Parlament und das UNHCR haben Empfehlungen gegen die Wiederaufnahme von Irakern in Griechenland ausgesprochen.

Einem EU-Bericht nach hat Griechenland noch kein einziges Mal einen Iraker als Flüchtling anerkannt. Im Gegenteil: Griechenland hat im Jahr 2001 einen Rückführungsvertrag mit der Türkei unterschrieben. In den ersten acht Monaten des laufenden Jahres haben die griechischen Behörden über 4.500 Migranten festgenommen, wovon viele in die Türkei abgeschoben wurden, darunter auch Iraker. Und von der Türkei aus wurden im Juli dieses Jahres 135 Iraker deportiert, so die UNHCR. Am 11. September habe die türkischen Behörden 145 Migranten bei Durchsuchungen in Edirne und Ipsala festgenommen. Die Orte liegen nahe der griechischen Grenze. 50 Afghanen, 21 Somalier und 74 Iraker, Mauretanier, Ruander, Georgier, Palästinenser und Birmesen.

In der Zwischenzeit wird in der Türkei eine 473 km lange Mauer entlang der irakischen Grenze gebaut, um den bewaffneten Kampf der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) und das Eindringen von Migranten zu stoppen. Syrien hat die östliche Grenze Tanaf geschlossen und Saudi Arabien hat 3,2 Billionen Dollar investiert, um einen 900 km langen Stacheldrahtzaun zur irakischen Grenze zu ziehen. Wundert sich da noch jemand, dass die Zahl der Asylanträge rückläufig ist?!

Zäune, die an die von Ceuta und Melilla erinnern und die die Geister der 17 Migranten rufen, die von der Marokkanischen »Forces Auxiliaires« und der Spanischen »Guardia Civil« im Sommer und Herbst 2005 erschossen wurden. Zwei Jahre später, am 21. Oktober, wird eine Karawane zu diesen Orten zurückkehren, eine Karawane der Solidarität, um an die Opfer eines Krieges zu erinnern. Ein Krieg gegen die Migranten, der noch nicht vorbei ist und der seine Opfer ebenfalls an der östlichen Front fordert.

Der neue Vorhang verläuft von der Slowakei über Polen, Ungarn und Rumänien. Die externe Grenze der EU ist der Ukraine anvertraut. Auch dort ist die Behandlung von Flüchtlingen und Asylsuchenden jedoch häufig nicht an menschenrechtlichen Standards orientiert. „Die Ukraine misshandelt regelmäßig Migranten und Asylbewerber, sperrt sie unter unmöglichen Bedingungen ein, verübt Gewalt, Folter und Ausbeutung und schiebt sie danach ab, zurück in die Folter und die Gefangenschaft“, so ein Bericht von Human Rights Watch (HRW) im November 2005. „Das Asylsystem funktioniert kaum, und das führt zu Zwangsrückführungen in Länder, in denen die Einwohner Folter und Verfolgung riskieren“. Daher verlangt HRW von der EU, dass zunächst eine Reihe von Verbesserungen hinsichtlich der Behandlung von Asylsuchenden mit der Ukraine vereinbart werden müssen, bevor irgend ein neuer Rückführungsvertrag unterschrieben wird. Es gibt bereits Rückführungsverträge zwischen der Ukraine und ihren EU-Nachbarn, um Migranten und Asylsuchende in die Ukraine abzuschieben. Dies ruft zum Teil große Sorge hervor, weil dabei Asylbewerber aus Tschetschenien und Usbekistan oft nach Russland abgeschoben werden – trotz des Risikos der Verfolgung, dem sie dort ausgesetzt sind.

Die Ukraine hat im Jahre 2004 5.000 Migranten und in den ersten 6 Monaten des Jahres 2005 2.346 Migranten zurückgeschickt – 50% davon nach Russland, die anderen nach China, Indien, Pakistan und Bangladesh. Die EU wusste davon Bescheid, doch Brüssel hat am 18. Juni 2007 bereits einen Wiederaufnahme-Vertrag mit Kiew unterzeichnet. Der Vertrag soll noch vor Ende dieses Jahres in Kraft treten. Der HRW-Bericht wurde vor zwei Jahren veröffentlicht, aber der kürzlich erschienene Bericht von Pawschino, einer ukrainischen Organisation, verdeutlicht, das sich nichts zum Positiven verändert hat.

Gabriele del Grande ist Mitarbeiter des Projektes »fortresseurope« (fortresseurope.blogspot)

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2007/4 Europäische Sicherheitspolitik, Seite