Forschen für den Frieden: Im Geiste des Humboldtschen Erbes
von Günther Rose, Bernd P. Löwe
Die friedenswissenschaftlichen Arbeiten an der Humboldt-Universität zu Berlin tragen ein unverwechselbar eigenes Gesicht. An mehr als zehn Sektionen wurden in den letzten Jahren Projekte einer fachspezifischen Friedensforschung bearbeitet. Die neue historische Dimension der Friedensfrage wurde dabei ebenso behandelt wie die Rolle regionaler Konflikte für das System internationaler Beziehungen, das Verhältnis von Arbeiter- und Friedensbewegung und die Entwicklung der Konzeption der friedlichen Koexistenz. Speziellere Themen waren: Beiträge des Völkerrechts zur Durchsetzung des Gewaltverbots in den zwischenstaatlichen Beziehungen; Kriegsdeutung, Kriegsanalyse und Friedensstrategie in der Literatur der DDR und anderen Ländern, Dietrich Bonhoeffers Erbe von der Friedensverantwortung der Christen, die Aktualität des Friedensgedankens in der deutschen Klassik etc.
Neben diesen vor allem gesellschaftswissenschaftlich geprägten Arbeiten wurden auch naturwissenschaftliche Dimensionen der Friedensforschung erschlossen und entwickelt: Die Bedrohung des Friedens durch Kernwaffen der neuen Generation, physikalische Aspekte eines umfassenden Atomteststopps und nuklearer Abrüstung, Modellierungen zum Komplex „nuklearer Winter“, die Verantwortung des Naturwissenschaftlers im Nuklearzeitalter, die IPPNW und das Friedensengagement der Mediziner der DDR.
Resultate dessen sind in einem Sammelband „Friedensforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin“ (1985) zu finden. Eine nicht weniger umfangreiche Palette bringt das „Humboldt-Journal zur Friedensforschung“ (1986), mit dem jährlich Forschungsergebnisse, Entwicklungstendenzen und wissenschaftliches Leben vorgestellt und internationale Trends reflektiert werden. In der jüngst erschienenen Nummer sind – neben Aufsätzen aus den eben erwähnten Forschungslinien und Lehrveranstaltungen – auch Beiträge der Psychologie zur Friedensforschung, der Pädagogik zur Friedenserziehung, der Philosophie zum Clausewitzschen Denken und seiner Bedeutung für die aktuelle Theoriebildung, der Politökonomie zur Relation von Weltwirtschaft und Weltfrieden, der Theologie zum Problem „Theologie der Befreiung“ in Lateinamerika, der Anglistik bzw. Amerikanistik zum Friedensdenken und Friedensengagement an US-amerikanischen Universitäten und Hochschulen enthalten. Das Journal wird auch weiterhin primär Leistungen bilanzieren, die disziplinär, multi- und vor allem interdisziplinär an der Humboldt-Universität erbracht wurden und werden. Zugleich wird berichtet über Ergebnisse der Arbeit mit den Kooperationspartnern in der DDR sowie im Ausland. Das wird bereits der Fall sein, wenn der 87er Band des „Humboldt-Journals zur Friedensforschung“ vorliegt, in dem Beiträge des im November 1986 stattgefundenen 3. Humboldt-Kolloquiums zur Friedensforschung enthalten sind, das mit breiter internationaler Beteiligung unter dem Thema durchgeführt wurde „Sicherheitstheorie und Sicherheitspolitik im Dialog marxistischer und nichtmarxistischer Friedensforscher“.
Einen besonderen Stellenwert für die Entwicklung der Friedensforschung an der Humboldt-Universität besitzt das „Internationale wissenschaftliche Seminar – Verantwortung und Wirken der Universität für Frieden und sozialen Fortschritt“, das am 23./24. Oktober 1985 anläßlich des 175. Gründungsjubiläums der Alma mater berolinensis und des 275. Gründungsjubiläums der Berliner Charité entstand.49 Rektoren, Präsidenten und führende Repräsentanten von 45 Partneruniversitäten aus 30 Ländern Europas, Asiens und Amerikas hatten sich auf diesem bisher einzigartigen Forum ungeachtet unterschiedlicher Auffassungen in anderen Fragen einmütig zur besonderen Verantwortung des Wissenschaftlers für den Frieden und den sozialen Fortschritt bekannt. „In Erwägung dessen, daß es in einem Nuklearkrieg weder Sieger noch Besiegte geben kann und daß ein solcher Krieg zur Selbstvernichtung der Menschheit führen würde, erblicken wir im Frieden die Ultima ratio, die Grundbedingung menschlicher Existenz“, heißt es in der einmütig gebilligten abschließenden Erklärung. Beachtung verdient auch die einhellige Ablehnung der mit dem SDI-Projekt verbundenen Militarisierung des Weltraums und der damit angestrebten militärstrategischen Überlegenheit. (Der Protokollband erschien 1986 in der Wissenschaftlichen Schriftenreihe der Humboldt-Universität zu Berlin.)
Mit der Reihe „Humboldt-Vorträge zur Friedensforschung“, in der vor allem international bekannte Friedensforscher aus ihrer Tätigkeit berichten sollen, Wissen und Erfahrungen ausgetauscht werden sollen, wollen wir einen eigenen Beitrag leisten zur Koalition der Vernunft und des Realismus, die der außenpolitischen Linie des XI. Parteitages der SED entspricht. Wir sind überzeugt, daß die Wissenschaften ein gleichsam unerschöpfliches Problemlösungspotential enthalten, um für alle Menschheitsfragen gangbare Lösungen zu finden. Das gilt auch für die Abwendung der Gefahren eines nuklearen Infernos und die Begründung eines dauerhaften Friedensprozesses. Dies mit Rationalität und Redlichkeit als Teil intellektueller Verantwortung und mit nimmermüdem Engagement als Teil der politischen Verantwortung anzugehen, macht heute die Pflicht zur Vernunft aus. Ein akademischer Imperativ dieser Art und Qualität sollte die scientific community in unserem Zeitalter prägen.
In diesem Bewußtsein realisierte sich auch unsere Beteiligung an Aktivitäten der internationalen Friedensforschung. Dazu zählen die Teilnahme des Rektors der Humboldt-Universität an der „Internationalen Konsultation“ der UNESCO „Bildung und Frieden“ im Januar 1986 in Athen bzw. am Internationalen Symposium zur Friedenserziehung in Genf, das von der Weltorganisation der Universitäten veranstaltet wird; in diese Reihe gehört auch die aktive Beteiligung am Inter University Centre Dubrovnik, die Teilnahme an der Begegnung „Appell von der Akropolis“ im August dieses Jahres in Athen, die Beteiligung an der IPRA-Arbeit und die Beteiligung am UNESCO-Projekt „Friedenserziehung an Universitäten“.
Schließlich möchten wir den besonderen Platz der „Humboldt-Kolloquia zur Friedensforschung“ hervorheben. Nachdem zunächst auf dem ersten dieser Art im November 1985 politikwissenschaftliche Aspekte der Friedensforschung behandelt wurden, auf dem folgenden politökonomische Aspekte bzw. wirtschaftswissenschaftliche Beiträge zur Friedensforschung im Mittelpunkt standen, steht das dritte – mit nunmehr internationaler Beteiligung – unter dem Schwerpunkt „Sicherheit“ (s.o.) und dient vor allem dem internationalen Dialog und der Kooperation. Mit dem Blick auf Reykjavik im UNO-Jahr des Friedens ist dies unser spezifischer Beitrag, mitzuhelfen, die Kunst zu beherrschen und die Wissenschaft zu entwickeln, daß die Völker trotz unterschiedlicher Gesellschaftsordnungen vernünftig miteinander leben können (M. Gorbatschow). Dies zu befördern wird im Jahr 1987 mit besonderen Vorzeichen versehen – die fortschrittliche Menschheit begeht den 70sten Jahrestag der Oktoberrevolution und damit auch den von Lenins „Dekret über den Frieden“; internationalen Charakter tragen auch die Festlichkeiten zum 750. Jahrestag der ersten urkundlichen Erwähnung der Stadt Berlin. Die von der Humboldt-Universität durchgeführten internationalen Seminare und Kurse für Studenten und Graduierte werden fortgesetzt. Die vielfältigen politischen Standpunkte, wissenschaftlichen Thesen und Weltbilder, die dabei vertreten werden, sind eine gute Grundlage für wissenschaftlichen Meinungsstreit – dabei dient die sachliche Austragung von Kontroversen dem common sense in der substantiellen Zwecksetzung. Das soll so bleiben und noch ergebnisreicher gestaltet werden. Im Oktober 1985 wurde der Zentrale Arbeitskreis Friedensforschung der Humboldt-Universität konstituiert. Ihm gehören unter Leitung von Günther Rose die Leiter der entsprechenden Projekte und Maßnahmen sowie weitere führende Wissenschaftler der Universität an. Die Hauptfunktion besteht in der konzeptionellen Führung und koordinierenden Tätigkeit, damit jede Disziplin aus den Gesellschafts-, Natur- und Agrarwissenschaften ebenso wie aus der Medizin, den Technik- und Informationswissenschaften und last but not least der Theologie ihren arteigenen Beitrag zu leisten und in wachsendem Maße in den Dienst einer interdisziplinären Qualifizierung von Lehre und Forschung zu stellen vermögen. Natürlich werden hier auch die internationalen Verbindungen und Kooperationen konzentriert, die für die Friedensforschung und ihr Wirksamwerden für die Friedensbewegung relevant sind.
Einen nicht geringen Stellenwert besitzen die seit 1984 durchgeführten intersektionellen und demzufolge multidisziplinären Friedensvorlesungen, zu denen auch die Berliner Öffentlichkeit eingeladen ist. Schließlich erfüllen Studentenzirkel, Forschungskollektive vor allem der Nachwuchswissenschaftler und größere Forschungskreise – wie z.B. der speziell für Friedensforschung an der Sektion Marxismus-Leninismus – eine wichtige Funktion bei der Entwicklung einer Wissenschaft vom Frieden. Die Breite der Aktivitäten widerspiegelt eine Seite der Sensibilisierung für das Menschheitsproblem Nr. 1, von dem auch unsere Universität positiv beherrscht wird.
Günther Rose, Bernd P. Löwe: Zentraler Arbeitskreis Friedensforschung der Humboldt-Universität zu Berlin, Unter den Linden 6, 1086 Berlin/DDR