W&F 2013/1

Forschen für den Krieg

Psychologische Aspekte der Rüstungsforschung im Nationalsozialismus

von Marianne Müller-Brettel

In allen kriegführenden Gesellschaften stellten Gelehrte, Handwerker und Techniker ihr Wissen und ihre Fähigkeiten den jeweiligen Herrschern für die Entwicklung von Waffen und die Planung von Kriegen zur Verfügung. Ohne Wissenschaftler und Ingenieure, ohne die Kooperationsbereitschaft der Forschungsinstitutionen hätte die Wehrmacht nicht aufrüsten und der deutsche Faschismus den Eroberungskrieg nicht führen können. Heute verurteilen wir das Verhalten der akademischen Elite im Nationalsozialismus. Doch die Frage bleibt, wie konnte es dazu kommen?

Wir haben nicht nur eine individuelle, sondern auch eine kollektive Identität. Wir sind eingebunden in ein soziales System, das uns prägt und das zu verlassen uns Angst macht. Sozialpsychologische Experimente wie das Milgram-Experiment oder das Stanford-Prison-Experiment1 zeigen, dass Loyalitäten und soziale Rollen das konkrete Handeln stärker bestimmen als individuelle Persönlichkeitseigenschaften und Wertvorstellungen. Die »Macht der Situation« bringt ganz normale Menschen dazu, sich grausam zu verhalten.

Dazuzugehören ist ein Grundbedürfnis des Menschen. Der soziale Konsens ist ein entscheidender Faktor dafür, was als recht und unrecht empfunden wird (Morris & Donald 1995). Denn weiche ich zu sehr von den Werten meiner jeweiligen Bezugsgruppen ab, so werde ich ausgeschlossen, was Verlust bedeutet und im schlimmsten Fall tödlich sein kann. Intellektuelle sind in doppelter Weise in das meist von Eliten bestimmte gesellschaftliche Wertesystem eingebunden: Sie formulieren und kommunizieren die jeweils gültigen Normen und Werte, die wiederum ihre eigenen Wertvorstellungen prägen. Das Verhalten der Wissenschaftler im Nationalsozialismus ist ohne das damals herrschende Wertesystem (Zeitgeist), dessen Wurzeln im 19. Jahrhundert liegen, nicht zu verstehen.

Der Zeitgeist oder die Macht der Situation

Durch die Industrialisierung und die damit einhergehende Säkularisierung verloren Christentum und Kirche an gesellschaftlicher Bedeutung. Nation und Nationalismus sollten ihre Funktionen übernehmen. Die nationale Idee sollte die Sehnsucht nach Erlösung befriedigen, während der Nationalstaat eine über alle Stände hinweg geltende Wertegemeinschaft bilden und damit den gesellschaftlichen Zusammenhalt garantieren sollte. In gesellschaftlichen Umbruchsituationen, die mit Verunsicherung für jede Bürgerin und jeden Bürger einhergehen, wird häufig Sicherheit in der kollektiven Gewalt gesucht. Entsprechend spielten und spielen bis heute Militär und Krieg bis hin zum Völkermord bei der Nationenbildung eine wesentliche Rolle. „Es scheint, als ob der moderne Staat, der sich als ein homogenes »Selbst«, als ein politisch, ethnisch und/oder religiös begründetes imaginäres »Wir« begreift, immer dazu neigt, sich gegen einen Anderen herauszubilden, den es zu vertreiben, ja zu vernichten gilt.“ (Sémelin 2004, S.368)

In Preußen wurden die Kriege gegen Napoleon von Gelehrten und Literaten zum großen Befreiungskrieg, zur „bellizistischen Gründungstat“ der Nation, stilisiert (Haase 2009, S.93). Das Militär wurde zur wertsetzenden Instanz. Entsprechend wurden militärische Tugenden wie Opferbereitschaft, Tapferkeit und Kameradschaft als herrschende Werte proklamiert. Der Militarismus erfasste alle Bereiche der Gesellschaft, disziplinierte und strukturierte sie (Reichherzer 2012). Militär und Krieg sollten nationale Einheit und Erlösung bringen. Der Glaube an die nationale Idee, an das Vaterland, trat neben den Glauben an Gott, was in der Kriegseuphorie von 1914 gipfelte, die auch die Mehrheit der Intellektuellen erfasste.2

Die Niederlage im Ersten Weltkrieg und die Demütigung durch den Versailler Vertrag verstärkten den Gelehrten-Nationalismus. Die Mehrheit der Wissenschaftler lehnte die Demokratie ab. Vielmehr sollten Wissenschaft und Militär Hand in Hand die Niederlage wettmachen. So schwärmte Friedrich Körber, Direktor des Kaiser-Wilhelm-Institus (KWI) für Eisenforschung, 1939 vom „Titan Deutschland“, der es nun im zweiten Anlauf der Welt zeigen werde (zit. nach Hachtmann 2009, S.40). Nicht zuletzt galt es, »den Bolschewismus« zu bekämpfen.

Seit Mitte der 1920er Jahre kooperierten die führenden Forschungsinstitute mit der Reichswehr, die einen neuen Krieg plante. Das Ziel des KWI-Direktors und Entwicklers der Giftgastechnologie, Fritz Haber, war es, die während des Ersten Weltkrieges erfolgreiche Kooperation zwischen Militärs, Naturwissenschaftlern, Technikern und der Großchemie im Frieden fortzusetzen (Szöllösi-Janze 2000). Dies bekräftigte 1934 der Verwaltungsausschuss der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG): Es herrschte „Einmütigkeit darüber, dass die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft es als ihre vornehmste Aufgabe betrachte, ihre wissenschaftlichen Interessen mit den militärischen Interessen, die zur Zeit für unser Vaterland besonders wichtig seien, zu verbinden“ (Niederschrift über die Sitzung des Verwaltungsausschusses der KWG, 6.3.1934, zit. nach Deichmann 2000, S.240).

Die Kapitulation und Entmilitarisierung führten 1945 – anders als 1918 – zu einem Bruch im Wertesystem. Das Militär war diskreditiert, entsprechend auch die Zusammenarbeit von Wissenschaft und Militär. Die Wertfreiheit der Wissenschaft wurde verkündet, wodurch die Wissenschaftler sich selbst entlasteten, denn eine wertfreie Wissenschaft konnte nicht für die Verbrechen des Nationalsozialismus verantwortlich gemacht werden. Wie stark diese Sichtweise die Wahrnehmung in der Bundesrepublik prägte und die Leugnung der Forschungstätigkeit im Dienste des Faschismus möglich machte, zeigt das Beispiel von Adolf Butenandt, Nobelpreisträger und von 1960 bis 1972 Präsident der Max-Planck-Gesellschaft (MPG): Er ließ 1974 die Behauptung, dass Institute der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Rahmen der Euthanasie Hirnforschung betrieben hätten, gerichtlich verbieten (Heim 2000).3

Die Legende von der Wertfreiheit der Wissenschaft und der Unschuld der Forscher an den Verbrechen des Nazi-Regimes war zum einen möglich, weil Professoren und Historiker die Deutungshoheit über die Geschichte haben (Heim 2000, S.77f.). Zum anderen wurde die Leugnung erleichtert durch den Rückschaufehler oder »Hindsight Bias« (Hoffrage & Pohl 2003). Das heißt, wir erinnern ein Ereignis nicht dadurch, dass wir die damalige Situation eins zu eins aus unserem Gedächtnis abrufen, sondern dadurch, dass wir das Ereignis rekonstruieren, wobei neue Informationen und Bewertungen mit einfließen. Das Sterben von KZ-Häftlingen bei ihrem Arbeitseinsatz oder in einem Experiment war mit dem nationalsozialistischen Wertesystem vereinbar – es handelte sich ja um »minderwertiges Leben«. Spätestens nach den Nürnberger Prozessen aber wurde es auch in Deutschland als Verbrechen gewertet. Da die Mehrheit der Wissenschaftler sich bemühte, nicht gegen das herrschenden Wertesystem zu verstoßen, rekonstruierten sie ihre Erinnerungen automatisch vor dem Hintergrund der nach 1945 geltenden Normen.

Charakteristisch sind die Gespräche der in Farm Hall4 internierten Atomwissenschaftler, beispielsweise von Erich Bagge: „[W]enn wir während des Krieges Menschen in Konzentrationslager [steckten] – ich habe das nicht getan, ich wusste nichts davon und ich habe das immer verurteilt, wenn ich davon hörte.“ Oder Otto Hahn: „[W]as hat Laue alles gegen den Nationalsozialismus unternommen, und auch ich glaube, dagegen gekämpft zu haben.“ (Hoffmann 1993, S.121f.) Die Verfälschung der Erinnerungen geht bis zur Leugnung objektiver Tatsachen. So behaupteten Wissenschaftler, die in Peenemünde am Raketenbau beteiligt waren, es habe in den Werkstätten und Labors keine KZ-Häftlinge gegeben (Eisfeld 1996, S.98). »Hindsight Bias« entlastet uns von der Auseinandersetzung mit dem eigenen Fehlverhalten. Nicht anders als der Mehrheit der deutschen Bevölkerung erlaubte dieser Gedächtnismechanismus den Wissenschaftlern, ihre Beteiligung an dem nationalsozialistischen System zu verdrängen. Mit der Leugnung der aktiven Zusammenarbeit mit dem Hitlerregime befanden sich die Wissenschaftler in der Nachkriegszeit wieder im Einklang mit dem Zeitgeist.

Sozialer Status und Gehorsam

Neben den allgemeinen gesellschaftlichen Wertvorstellungen wird unser Verhalten auch durch unsere Sozialisation und gesellschaftliche Stellung beeinflusst. Die Klassenlage der Intellektuellen bestimmt sie historisch eher zum Diener der herrschenden Klasse als zum Oppositionellen (Wellmann & Spielvogel 1990). Professoren und Wissenschaftler sind als Beamte eine Stütze des Staates. Eine akademische Laufbahn kann jedermann unabhängig von seiner Herkunft einschlagen. Voraussetzung ist weder Grundbesitz noch Kapitalvermögen, sondern das Bestehen der entsprechenden Prüfungen wie Abitur, Promotion und Habilitation. Die Bereitschaft, sich einer solch reglementierten Laufbahn zu unterwerfen, macht die Mehrheit der Forschenden und Lehrenden zu loyalen Staatsdienern, die die Regierung beraten, notfalls kritisieren, nicht aber das bestehende System in Frage stellen.

Nach Harrell & Stahl (1981) ähneln Wissenschaftler in ihrer Persönlichkeitsstruktur stärker Offizieren als Managern. Wie bei den Angehörigen der Wehrmacht war für die Mehrheit der Akademiker die Loyalität gegenüber der faschistischen Regierung wichtiger als die persönliche Meinung. So wie ein Offizier, der von der Unsinnigkeit der Weiterführung eines Krieges überzeugt ist, glaubt sich moralisch zu verhalten, wenn er aus Loyalität gegenüber der ihm anvertrauten Truppe weiterkämpft (Hartmann & Herz 1991), so hielten auch Forscher, die dem Nationalsozialismus skeptisch gegenüber standen, die Zusammenarbeit mit Hitler für ihre Pflicht. So wie Gehorsam für einen Offizier selbstverständlich ist, so führten auch die von ihrer politischen Einstellung und wissenschaftlichen Reputation her unterschiedlichen KWI-Direktoren Richard Kuhn, Peter Adolf Thiessen und Wilhelm Rudorf jede Anordnung (wie Entlassungen von Juden) des Regimes widerspruchslos aus, obgleich ein KWI-Direktor auch unter Hitler relativ große Freiheiten besaß (Deichmann 2000). Der Physiker Walther Gerlach sah sich 1945 „selbst in der Position eines geschlagenen Generals“ (Hoffmann 1993, S.60ff.). Auch die meisten Physiker, Chemiker und Ingenieure des US-amerikanischen Atomwaffenprogramms in Los Alomos fühlten sich als Militärangehörige. Widerstandslos akzeptierten sie die damit einhergehende Unterordnung der eigenen Urteilsfähigkeit unter die militärische Order (Dyson 1984).

Macht und Karrieren

Machtstreben passt nicht zum Selbstbild von Wissenschaft, und doch ist Macht ein wesentliches Motiv, Rüstungsforschung zu betreiben. Zum einen haben auch Wissenschaftler Allmachtsphantasien. Carl Friedrich von Weizsäcker gesteht am Ende seines Lebens: „Es war der träumerische Wunsch, wenn ich einer der wenigen Menschen bin, die verstehen, wie man eine Bombe macht, dann werden die obersten Autoritäten mit mir reden müssen.“ (Hoffmann 1993, S.338) Der Atomphysiker Walter Gerlach hatte zwar Angst, „an die Bombe zu denken“, stellte sich aber vor, „derjenige, der mit dem Einsatz der Bombe drohen konnte, würde alles erreichen können“ (ebd. S.158). Inwieweit die Faszination der Macht beim Bau der Atombombe ein Rolle spielte, sei dahin gestellt. Fakt ist, dass Idee und Anstoß zum Bau der Bombe aus der Wissenschaft kamen.5 Moore & Moore (1958) analysierten anhand von Sitzungsprotokollen den Entscheidungsprozess, der im August 1945 zum Abwurf der Atombomben auf Japan führte. Danach gab das Votum der »leading scientists« den Ausschlag für Präsident Trumans Entscheidung, die Bomben über Hiroschima und Nagasaki abzuwerfen.6 Denn wie Robert Oppenheimer bekannte: „Wir wollten, dass es geschah, ehe der Krieg vorüber war und keine Gelegenheit mehr dazu sein würde.“ (zit. nach Hochhuth 2006, S.24)

Zum anderen geht es um das Ansehen eines Faches, um den Einfluss der Wissenschaft in der Gesellschaft, um Forschungsgelder und nicht zuletzt um individuelle Karrieren. Viele Disziplinen, auch sozialwissenschaftliche,7 haben von Faschismus und Krieg profitiert. Der Nationalsozialismus befreite Anthropologen und Mediziner von ethischen Schranken und schuf neue Aufgabengebiete für die Eugenik, Rassenhygiene, Volkstumsforschung und Lebensraumpolitik (Heim 2000). Eugen Fischer, Direktor des KWI für Anthropologie, schrieb in der Deutschen Allgemeinen Zeitung vom 28.3.1943: „Es ist ein besonderes und seltenes Glück für eine an sich theoretische Forschung, wenn sie in eine Zeit fällt, wo die allgemeine Weltanschauung ihr anerkennend entgegenkommt, ja wo sogar ihre praktischen Ergebnisse sofort als Unterlagen staatlicher Maßnahmen willkommen sind.“ (zit. nach Müller-Hill 2000, S.223)

Eine »Uranmaschine«, eine Atombombe oder eine Weltraumrakete konnten nur in Großforschungseinrichtungen gebaut werden. Die Regierungen aber finanzierten Großforschung nur, wenn sie rüstungsrelevant war, wie der Raketenbau in Deutschland oder die Entwicklung der Atombombe in den USA. Generalmajor Walter Dornberger, der im Heereswaffenamt für das Raketenwaffenprogramm zuständig war, legitimierte nachträglich die Rüstungsforschung mit den Worten: „Die „Entwicklung großer Flüssigkeitsraketen musste […] zwangsläufig zunächst den Weg über die Waffenentwicklung nehmen“, denn es „gab keinen Geldgeber, der willens war, Millionen, selbst Milliarden von Mark in ein Unternehmen zu stecken, […] das auf Jahre hinaus noch keinen Verdienst abwerfen konnte.“ (Dornberger 1963, S.7)

Die Initiative für neue Rüstungsprojekte ging in den meisten Fällen von den Forschern aus. Nicht selten mussten Wissenschaftler, wie der Vorsitzende der Deutschen Mathematiker-Vereinigung Süss, die entsprechenden NS-Stellen erst von der Kriegsrelevanz ihres Faches überzeugen (Epple & Remmert 2000).8 Auch die Kontaktaufnahme zur SS für die Rekrutierung von KZ-Häftlingen ging von Ingenieuren (Eisfeld 1996) und Medizinern (Klee 1997) aus. Dank der Bereitschaft der Wissenschaftler, für den Krieg zu forschen, stieg der Etat des Reichswissenschaftsministeriums von 22 Millionen RM 1938 auf 97 Millionen RM 1942 (Fahlbusch 2000, S.470).

Nicht nur Forschungsgelder, auch Privilegien und die gesellschaftliche Aufwertung („zum ersten Mal wurden Wissenschaftler zum vollwertigen und verantwortlichen Partner bei der Kriegsführung“; Roth 1989, S.22) machten die Zusammenarbeit mit dem Heereswaffenamt und anderen Regierungsstellen attraktiv. Neben Vergünstigungen wie der Befreiung vom Fronteinsatz, Karrierechancen und materiellem Wohlstand bot die Rüstungsforschung die Möglichkeit, Forschungsträume zu verwirklichen, die in der zivilen Forschung aus ethischen – wie die Menschenexperimente an KZ-Häftlingen – oder aus finanziellen – wie das deutsche Raketen- oder das US-amerikanische Manhattan-Projekt – Gründen unmöglich gewesen wären. Allerdings trug die Realisierung dieser Träume im Verhältnis zum Aufwand nur wenig zum wissenschaftlichen Fortschritt bei und erbrachte keinen gesellschaftlichen Nutzen.

Ähnlich wie die Loyalität eines Offiziers seiner Truppe und dem Oberbefehlshaber gilt, unabhängig davon, ob es sich um einen Diktator oder eine demokratische Regierung handelt, galt die Loyalität der deutschen Raketenbauer und Atomwissenschaftler primär ihren Projekten und den sie finanzierenden Regierungen. Entsprechend hatten weder die Physiker und Ingenieure von Peenemünde noch die Wissenschaftler und Techniker des »Uranprojektes« nach Kriegsende Skrupel, für die USA oder die Sowjetunion zu arbeiten (Albrecht et al. 1992). Charakteristisch sind die in Farm Hall protokollierten Überlegungen Werner Heisenbergs: „Wenn mir die Engländer also sagen: ‚Sie dürfen allerhöchstens mit minderwertigen Apparaturen arbeiten’ und die Russen sagen: ‚Sie bekommen ein Institut mit einem Jahresetat von einer halben Million’, dann würde ich mir überlegen, ob ich nicht doch zu den Russen gehe.“ (Hoffmann 1993, S.254)

Walker, der die Geschichte der Atombombe rekonstruierte, kommt zu dem Schluss, dass sich Wissenschaftler unter Hitler, Stalin und in den USA im Kalten Krieg ähnlich verhielten. Sie nahmen die Geheimhaltung, das Arbeiten unter einem Diktator und die Entwicklung von Atomwaffen als Kriegsnotwendigkeit hin. „Moderne Wissenschaft, insbesondere was heute als »Big Science« bezeichnet wird, hängt von staatlichen Stellen ab. In Kriegszeiten wird der Staat immer noch mächtiger. Ein Wissenschaftler kann entweder emigrieren (oder fliehen) oder aus dem Beruf aussteigen oder innerhalb des politischen und damit ideologischen Systems arbeiten. Die meisten wählen Letzteres […].“ (Walker 2000, S.327)

Es gab Ausnahmen wie Max Planck, der 1914 noch kriegsbegeistert war, sich aber seit Mitte der 1930er für Frieden und Aussöhnung mit Frankreich einsetzte. Nach dem Scheitern seiner Bemühungen ging er „in die Stille Resistenz“ (Hachtmann 2009, S.44). Dieses Beispiel zeigt, dass es auch im Nationalsozialismus möglich war, sich dem System und seinen Rüstungsambitionen zu verweigern, denn in jeder Diktatur gibt es Nischen. Doch für die meisten Wissenschaftler überwog das Bedürfnis, dazuzugehören, an bedeutenden Projekten zu arbeiten, einen gesicherten Arbeitsplatz und gesellschaftliches Ansehen zu besitzen.

Anmerkungen

1) Milgram-Experiment: Nur sehr wenige Versuchspersonen weigerten sich, auf Anweisung des Versuchsleiters Probanden schmerzhafte Stromstöße zu versetzen (Milgram 1974). Stanford-Prison-Experment: Studenten wurde per Zufall die Rolle eines Gefangenen oder eines Wärters zugewiesen. Die Gefangenen verbrachten 24 Stunden, die Wärter acht Stunden am Tag in einer simulierten Gefängnissituation. Die zuvor gesunden und friedlichen Studenten verhielten sich als Wärter aggressiv, zum Teil sadistisch, und als Gefangene pathologisch. Das Experiment musste vorzeitig abgebrochen werden (Haney & Zimbardo 1977).

2) Nationalismus und Kriegsbegeisterung waren kein deutsches Phänomen, sondern erfassten Intellektuelle aus allen am Ersten Weltkrieg beteiligten Nationen (Müller-Brettel 1994).

3) Erst in den 1990er Jahren bekannte sich die MPG zu der »braunen« Vergangenheit ihrer Vorgängerin, der KWG, und setzte eine HistorikerInnenkommission ein, die die Geschichte der KWG aufarbeitete.

4) 1945 internierten die Alliierten für mehrere Monate zehn deutsche Atomphysiker des »Uranprojektes« auf dem Landsitz Farm Hall in England; dort hörte der britische Geheimdienst ihre Gespräche ohne ihr Wissen ab, protokollierte sie und übermittelte sie an die USA. Die Protokolle wurden 1991 veröffentlicht.

5) In einem Brief an Roosevelt beschrieb Einstein 1939 die Möglichkeit, eine Atombombe zu bauen, und schlug vor, die entsprechenden Forschungsarbeiten in den USA zu intensivieren. Er vermutete, dass auch in Deutschland an der Bombe gearbeitet wurde (hypertextbook.com/eworld/einstein.shtml).

6) Hohe US-Offiziere lehnten den Abwurf der Atombombe ab. Truman zögerte und veranlasste eine Befragung von Physikern an den Universitäten Chicago und Berkeley sowie in Los Alamos. Mehrheitlich sprachen sich die Physiker gegen eine Demonstration der Bombe über unbewohntem Gebiet aus und befürworteten den militärischen Einsatz, d.h. den Abwurf über bewohnten Städten des Feindes.

7) In den USA fristete die Psychologie ein Nischendasein, bis es Psychologen im Ersten Weltkrieg mit Hilfe von Eignungstests gelang, innerhalb kürzester Zeit 1,75 Millionen Wehrpflichtige entsprechend ihren Fähigkeiten den jeweiligen Truppen zuzuordnen. In Deutschland verdankt die Psychologie ihre Diplomprüfungsordnung von 1941 dem Einsatz für die Wehrmacht (Riedesser & Verderber 1985). Während des Zweiten Weltkrieges entstand in den USA die Disziplin »American Studies« (Harders 2009) und in Deutschland florierten die Wehrwissenschaften (Reichherzer 2012).

8) Schon im Ersten Weltkrieg fuhr Fritz Haber persönlich an die Front, um die Offiziere zu überzeugen, sein Giftgas einzusetzen.

Literatur

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Dr. Marianne Müller-Brettel ist Psychologin und war von 1972 bis 2003 wissenschaftliche Mitarbeiterin des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2013/1 Geopolitik, Seite 39–43