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W&F 1987/2

Fraktionen unvermeidlich? Die Friedensbewegung in der Wissenschaftlergemeinschaft.


Prinzipielles * Erfahrungen * Schwierigkeiten

von Gernot Böhme

Vorbemerkung:

Die nun folgenden Überlegungen bedürfen einer methodischen Vorbemerkung. Ich stelle sie nicht als jemand an, der die Friedensbewegung von außen beobachtet, Fakten feststellt und Hypothesen über mögliche Bewegungsgesetze formuliert. Meine Perspektive ist vielmehr die Teilnehmerperspektive. Das in dieser Perspektive angestrebte Wissen muß wissensoziologisch als Orientierungswissen bezeichnet werden. Es geht darin neben dem Feststellen von Fakten um das bewußte Aufsuchen von Strukturen und Tendenzen, die Handlungschancen eröffnen. Meine Perspektive ist durch den realen Kontext eines westlichen Landes, der Bundesrepublik Deutschland, geprägt. Das bedeutet, daß meine Überlegungen nicht ohne eingehende Diskussion auf andere Kontexte übertragbar sind.

Prinzipielles:

Der Begriff der sozialen Bewegung ist schwer Handhabbar, aber für die moderne soziologische Analyse unvermeidlich. Er bezeichnet eine Menge von Menschen und das ihnen gemeinsame Handlungspotential. Dabei kann man weder mit Bestimmtheit sagen, wer zur sozialen Bewegung gehört und wer nicht, noch, zu welcher Art von Handlungen das charakteristische Handlungspotential führen kann. Einstellungen können sich bekanntlich in Gesellschaften ohne eine existierende soziale Organisation verbreiten, aber man kann immerhin soviel sagen, daß die für soziale Bewegungen charakteristischen Einstellungen ein Potential zur Selbstorganisation enthalten. Charakteristisch für moderne soziale Bewegungen ist die Vernetzung (Telefonketten und ähnliches), die Kontaktadresse, die Arbeitsgruppe, die Initiative - die Organisationsformen können aber auch über den Verein bis zur Partei reichen. Ferner kann man sagen, daß alle möglichen Aktivitäten einer sozialen Bewegung eine gemeinsame Intention enthalten, d.h. auf ein wenn auch noch so vage definiertes Ziel gerichtet sind. Dieses Ziel ist für die Frauenbewegung die Gleichberechtigung der Frau, für die Ökologiebewegung die gute Natur, für die Friedensbewegung der Frieden. Wichtig scheint mir nun zu sein, daß alle modernen sozialen Bewegungen durch eine vage Wahrnehmung von Widerständen gegen die Realisierung ihrer Intentionen bestimmt sind. Ich betone moderne soziale Bewegungen, weil die Arbeiterbewegung ja historisch sehr bald ihren Widerpart als Klassengegner erkannt hat. Jede soziale Bewegung hat ihren Widerpart, aber moderne soziale Bewegungen haben es sehr viel schwerer, diesen überhaupt gesellschaftlich zu identifizieren. Er wird deshalb häufig als „das System“ bezeichnet, als das Patriarchat beispielsweise oder das Industriesystem, oder schlicht als Gegensatz zur eigenen sozialen Verfaßtheit (einer grassroot-movement) als „der Staat“ oder „die Etablierten“ (so gelegentlich in der Studentenbewegung). Die Schwierigkeit, den Widerpart der sozialen Bewegung als Gegner sozialer Auseinandersetzung zu identifizieren, hängt auch mit dem Internationalismus der sozialen Bewegungen zusammen. Nun ist sicher Internationalismus eine gute Sache, aber konkrete soziale Auseinandersetzungen müssen im nationalen Handlungskontext ausgetragen werden. Auch die Arbeiterbewegung hätte wohl schwerlich viel erreicht, wenn sie nur das kapitalistische System als ihren Gegner bezeichnet hätte und nicht in die Auseinandersetzung mit nationalen Bourgeoisien eingetreten wäre.

Auch die Friedensbewegung scheint mir an den genannten Schwächen zu leiden. Dabei hat ihr Internationalismus eine für diesen Fall sogar besonders positive Bedeutung. Man glaubt nämlich, durch die Vernetzung der internationalen Friedensbewegung selbst ein gewichtiges Stück der Arbeit fr den Frieden geleistet zu haben. Das darf man aber nicht überschätzen, denn der Frieden ist - heute jedenfalls - kein Problem der Mentalitäten. Der Widerpart der Friedensbewegung wird vage als „die Großmächte“ gesehen. Entsprechend richten sich die Appelle der Friedensbewegung an deren Repräsentanten, heute also an Reagan und Gorbatschow. Dabei werden die Großmächte wie zwei Riesenhirsche gesehen, die sich miteinander in ihren Geweihen verhakt haben und die es durch behutsames Zureden zu bewegen gilt, voneinander abzulassen. Internationalismus und die Fixierung auf das „System“ (hier des Wettrüstens) drohen das Handlungspotential der Friedensbewegung unschädlich zu machen und quasi in Ideologie zu sublimieren. Es gilt deshalb meiner Ansicht nach, für die Friedensbewegung nationale Adressaten zu identifizieren und zu erkennen, daß es gesellschaftliche Fraktionierungen bezüglich der Fragen von Krieg und Frieden, von Rüstung und Abrüstung gibt.

Thesen: Meine Hauptthese ist, daß es gesellschaftliche Fraktionen bezüglich der Friedensfrage gibt. Ich kann diese These allerdings nur spezifizieren unter Zuhilfenahme einer Hilfsthese, welche besagt: das Problem zwischen Ost und West, d.h. zwischen den beiden Großmächten bzw. dem Warschauer Pakt und der NATO, ist heute ein Problem der Abrüstung. Diese Hilfsthese beruht natürlich auf einer politischen Einschätzung und bedürfte als solche einer ausführlichen Begründung. Meiner Einschätzung nach ist der faktische Frieden, in dem wir leben, heute nicht durch einen ideologischen Gegensatz, durch wirtschaftliche Gegensätze oder durch die Unterschiede von Gesellschaftssystemen bedroht, sondern durch die Existenz der Waffensysteme auf beiden Seiten. Das war sicherlich nicht immer so, aber heute muß man wohl sagen, daß der Antagonismus der Waffen jeden anderen überdeckt.

Die Spezifikation meiner allgemeinen These heißt demnach: Es gibt gesellschaftliche Fraktionierungen bezüglich der Frage von Rüstung und Abrüstung, d.h. es gibt innergesellschaftliche Kräfte, die einem Fortschritt in der Friedensfrage insbesondere einem Fortschritt in der Abrüstung entgegenstehen. Solche Kräfte gilt es zu identifizieren, damit die Friedensbewegung wirkungsvoll werden kann. Ober solche innergesellschaftlichen Kräfte bzw. Interessen, die Fortschritten in Frieden und Abrüstung entgegenstehen, möchte ich mich zunächst allgemein äußern. Ein solches Interesse ist beispielsweise das Interesse der Herauslagerung des Klassenfeindes nach draußen. Durch diesen Mechanismus werden innergesellschaftliche Gegensätze vermieden bzw. jeweils der eine oder der andere Part solcher Gegensätze desavouiert. Er ist wohl für eine lange Periode der deutsch-deutschen Beziehungen charakteristisch gewesen. Ferner kann man Interessen bestimmter gesellschaftlicher Gruppen an der Fortsetzung des Wettrüstens unterstellen. Insofern ist das Militär und alles, was daranhängt, insofern ist auch die Rüstungsindustrie samt den in ihr beschäftigten Arbeitern, wenn sie um ihren Arbeitsplatz fürchten müssen, Fraktion. Solche retardierenden Interessen können sich auch in der Regierungspolitik niederschlagen.

Die nun im Sinne meines Themas eigentlich wichtige Spezifizierung meiner allgemeinen These ist folgende: Es gibt innerhalb der Gemeinschaft der Wissenschaftler und Techniker (der wissenschaftlich-technischen Intelligenz) eine Fraktion, die an einer Fortsetzung des Wettrüstens interessiert ist. Mit „Interesse“ meine ich dabei - wie das auch beim Begriff des Klasseninteresses üblich ist - nicht notwendig ein bewußtes Interesse, sondern ein Interesse, das durch die gesellschaftliche Stellung, durch Ausbildung und Arbeit implizit mitgegeben ist. Die Begründung meiner These ist einerseits eine quantitative, andererseits stützt sie sich auf Überlegungen der Struktur militärischer Forschung und Entwicklung.

Nach Schätzungen der UNO und des SIPRI sind heute 25 bis 40 % aller Naturwissenschaftler und Ingenieure weltweit in militärischer Forschung und Entwicklung tätig.1 Das heißt aber, wenn man diese Tatsache ganz nüchtern betrachtet, daß hier Kapazitäten vorhanden sind, die ständig ihre Nutzung fordern. Dieses Kapazitätsproblem ist erstmalig deutlich geworden, als zum Bau der Atombombe im 2. Weltkrieg eine Forschungs- und Entwicklungskapazität von industrieller Größenordnung geschaffen worden war, die nach der Niederwerfung von Nazi-Deutschland eigentlich überflüssig geworden wäre. Die vorhandenen Kapazitäten bedeuten einen ständigen Druck auf Fortsetzung des Wettrüstens. Nun gibt es natürlich von Seiten der Friedensbewegung viele Überlegungen und Initiativen zur Konversion. Diese an sich richtigen Bemühungen dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß wir heute gemessen an friedlichen Zwecken eine Überkapazität an Wissenschaft und Technik haben. Obgleich der Friede ein noch größeres Problem ist als der Krieg, bedarf es wohl nicht primär der Wissenschaft zu seiner Realisierung. Der Krieg ist heute ein wissenschaftlich-technisches Projekt, der Friede ist es nicht.

Die Entwicklung neuer Waffensysteme ist heute ein hochartifizielles und langwieriges Geschäft. Man muß wohl davon ausgehen, daß die Forschung und Entwicklung für neue Waffensysteme mindestens 15 Jahre in Anspruch nimmt. Das heißt aber, daß weder Militärs, noch Politiker die technischen Möglichkeiten künftiger Waffen übersehen und daß umgekehrt Wissenschaftler und Techniker bereits Waffensysteme entwerfen, lange bevor dafür ein Bedarf im konkreten, militärischen und politischen Kontext artikuliert wird. Wissenschaftler und Techniker treten deshalb gegenüber Militär und Politik als Anbieter und Lobbyisten auf. Das Interesse, das sie dabei haben, mag sich als nationales Sicherheitsinteresse darstellen, es kann aber durchaus auch ein Arbeitsplatzinteresse sein oder ein Interesse an weitergehendem sozialem Einfluß, es kann aber schließlich auch ein wissenschaftliches und technisches Interesse im engeren Sinne sein: Rüstungsforschung ist in der Regel Frontforschung, Rüstungstechnik ist in der Regel extreme Technik, und Mittel für wissenschaftliche und technische Entwicklungen sind in jedem Fall am leichtesten zu bekommen, wenn sie sich nationalen Sicherheitsinteressen subsumieren lassen.

Meine Konsequenz aus dieser Analyse ist natürlich, daß Wissenschaftler und Ingenieure, die sich der Friedensbewegung verbunden fühlen, damit rechnen müssen, daß sie in der Gemeinschaft der Wissenschaftler und Techniker Fraktion sind.

Erfahrungen: Auch in der Friedensbewegung unter Wissenschaftlern spielt der Internationalismus eine große Rolle. Er hat hier sogar eine bessere Basis als in der Friedensbewegung im großen, insofern Internationalismus zum Wesen der Wissenschaft gehört und Vernetzungen hier seit je existieren. In der Tat ist ein hohes Maß von Verständigung auch in Perioden möglich gewesen, in denen ideologische Gegensätze die Kommunikation zwischen den Blöcken fast unmöglich gemacht hatten. Die Pugwash-Bewequng, die auf einen Aufruf von Einstein und Russen zurückgeht, lebt aus diesem Potential. Pugwash-Konferenzen haben in der Tat auch zu informellen Kontakten unterhalb der politischen Ebene gedient und manche Abrüstungsgespräche vorbereitet. Der Internationalismus wird hier mit gutem Recht als eine Form konkreter Friedensarbeit verstanden.

Eine zweite Möglichkeit, wie Wissenschaftler als solche meinen, für den Frieden arbeiten zu können, ist die sogenannte Friedensforschung. Natürlich muß man hier aufpassen, daß nicht einfach ein Teil der Rüstungsforschung sich als Friedensforschung deklariert im Sinne der allgemeinen Ideologie, daß Waffen und Militär dazu da seien, den Frieden zu sichern. Eigentliche Friedensforschung versteht sich daher als Kontrastforschung. Sie dient zum einen Teil dem klassischen Ziel der Aufklärung. Als Beispiel für diesen Typ ist die Arbeit des Stockholmer Friedensinstituts SIPRI zu nennen. Es geht in dieser Arbeit darum, eine kritische Auseinandersetzung um die Rüstungsentwicklung in der Öffentlichkeit zu ermöglichen, indem die wahren Tatsachen publiziert werden. Zum anderen geht es um eine Destruktion der von beiden Seiten aufgebauten Feindbilder und Bedrohungsbehauptungen. Wissenschaft im Sinne von Aufklärung wollen auch solche Untersuchungen leisten, die anhand von Kriegsszenarien die möglichen Konsequenzen militärischer Strategien der Öffentlichkeit vor Augen führen. Ein anderer Teil der Friedensforschung versucht, die Ursachen von Konflikten aufzudecken und Möglichkeiten nichtmilitärischen Konfliktaustragens bzw. nichtmilitärischer Konfliktlösung zu entwerfen.

Nehmen Wissenschaftler im Sinne des Internationalismus eine besondere Chance ihres Metiers wahr, so glauben sie, als Wissenschaftler auch eine besondere Verantwortung für den Frieden zu haben: anders als der durchschnittliche Bürger eines Landes hätten sie aufgrund ihrer Kompetenz die Möglichkeit, das hochkomplexe System der modernen Rüstung zu durchschauen und die möglichen Folgen von Strategien und Waffen zu beurteilen. Darüber hinaus aber gibt es auch viele Aktivitäten von Wissenschaftlern für den Frieden, die sich von den Aktivitäten anderer Menschen nicht unterscheiden, die lediglich Wissenschaftlern aufgrund ihres Arbeitszusammenhanges oder ihrer Berufsverbände zusammenführen. Gleichwohl erhalten die Appelle, die aus solchen Wissenschaftler-Initiativen stammen, ein besonderes Gewicht, das aus dem hohen Ansehen von Wissenschaft und Technik in unseren Gesellschaften im allgemeinen resultiert.

Die drei genannten Arten von Aktivitäten (Internationalismus, Friedensforschung, Appelle) - so wertvoll und unverzichtbar sie sind - behalten doch etwas Philiströses, wenn sie nicht durch eine vierte Form von Aktivitäten ergänzt und mitbestimmt werden. Gerade, wenn Wissenschaftler und Ingenieure sich eine besondere Rolle im Kampf für den Frieden zuerkennen, dürfen sie nicht vergessen, daß sie als Angehörige der wissenschaftlich-technischen Intelligenz Mitverantwortung dafür tragen, daß Wissenschaft und Technik selbst ein so gewichtiger Faktor im Rüstungswettlauf sind. Solange Wissenschaftler die Adressaten ihrer Friedensaktivitäten nur in „den Großmächten“, Regierungen oder der Öffentlichkeit erkennen, impliziert das ein Verkennen des nächstliegenden Problems. Das Problem der Abrüstung muß für Wissenschaftler und Techniker im eigenen Haus angepackt werden. Die Adressaten ihrer Appelle oder gegebenenfalls sogar die Gegner ihrer Aktivitäten können ihre nächsten Kollegen sein. Bevor ich auf die Probleme, die dieser Teil des Friedenskampfes enthält, eingehe, möchte ich noch kurz dessen mögliche Formen aufzählen. So hat es beispielsweise direkte Aktionen gegen Kriegsforschung im Sinne von Institutsbesetzungen und Blockaden der Zugänge zu Labors gegeben. Eine andere Form ist die Veröffentlichung von unter Verschluß geratenen rüstungsrelevanten Forschungsaufträgen.

Eine weitere Form, die nicht die Rüstungsforschung direkt angreift, aber doch die Fronten klarmacht, ist die Verweigerung. Es gibt sie als individuelle oder als aggregierte Verweigerung. Eines der berühmtesten Beispiele, das hier zu nennen wäre, ist das Manifest der 18 Göttinger Atomwissenschaftler von 1957. Darin heißt es: „Jedenfalls wäre keiner der Unterzeichneten bereit, sich an der Herstellung, der Erprobung oder dem Einsatz von Atomwaffen in irgendeiner Weise zu beteiligen.“ Derartige Verweigerungserklärungen gibt es inzwischen in großer Zahl. Sie stellen einen moralischen Druck auf die Rüstungsforschung bzw. die in ihnen tätigen Personen dar und entziehen der Rüstungseskalation intellektuelles Potential.

Da eine dieser Erklärungen von der Initiative für Abrüstung an der TH Darmstadt formuliert wurde, möchte ich sie hier als Beispiel zitieren. Sie kursierte unter dem Titel „Darmstädter Verweigerungsformel“ an mehreren Hochschulen der Bundesrepublik und wurde von Wissenschaftlern individuell unterschrieben:

„Ich erkläre hiermit, daß ich mich im Rahmen meiner Tätigkeit als Wissenschaftler oder Techniker an der Entwicklung militärischer Rüstung nicht beteiligen will. Ich werde mich vielmehr um eine Aufklärung des Beitrages meines Fachgebietes zur Rüstungsentwicklung bemühen und der militärischen Verwendung wissenschaftlichen und technischen Wissens entgegenwirken.“2

Ein anderes Beispiel ist der Brief an Bundeskanzler Kohl, in dem 350 Wissenschaftler der Max-Planck-Institute im Münchener Raum es ablehnen, sich an SDI zu beteiligen. Ferner gibt es die Petition gegen SDI, die an amerikanischen Hochschulen kursiert und die inzwischen von 10.000 Wissenschaftlern unterschrieben worden ist.3 Als letztes Beispiel möchte ich die Weigerung von Ärzten nennen, sich in Katastrophenmedizin ausbilden zu lassen, durch die sie deutlich machen wollten, daß es im atomaren Ernstfall doch keine ärztliche Hilfe gibt.

Probleme: Die zuletzt genannte Form von Aktivitäten der Wissenschaftler für den Frieden ist zweifellos die wichtigste, handelt es sich doch bei der Auseinandersetzung um die Rüstungsforschung und -entwicklung um ein Problem, das für Wissenschaftler und Techniker prinzipiell in erreichbarer Nähe liegt. Wenn irgendwo, so können hier ihre Aktivitäten zu einem wirksamen Handeln werden, zumal sie mit konkreten, identifizierbaren Widerständen zu rechnen haben. Da, wie gesagt, ein Teil der wissenschaftlich-technischen Intelligenz ein mehr oder weniger manifestes Interesse an der Fortsetzung der Rüstungseskalation hat, kann die Auseinandersetzung um die Rüstungsforschung zu einem Kampf für den Frieden im engeren Sinne werden. Ich möchte deshalb für diese Form der Aktivitäten von Wissenschaftlern für den Frieden auf die Probleme, mit denen man dabei zu rechnen hat, eingehen.

Die erste Form der Probleme möchte ich Probleme des Taktes nennen. Sie hängen damit zusammen, daß trotz aller notwendigen Kontroversen und Kritik Konsens eines der obersten Ziele der Wissenschaft ist. Fraktionen innerhalb der Wissenschaftlergemeinschaft sind an sich ein unerträglicher Gedanke. Da aber Kritik und Kontroverse auch notwendig zur Wissenschaft gehören, sind Höflichkeit, Takt und die Unterstellung von Ehrenhaftigkeit Verhaltensformen, die grundsätzlich gewahrt werden müssen. Man mag auf sachlichem Gebiet verschiedener Meinung sein, aber man tritt einem Kollegen nicht zu nahe. Dies ist der Grund, warum viele Wissenschaftler, die sich durchaus für den Frieden engagieren wollen, es ablehnen, auf Kollegen, die Rüstungsforschung betreiben, zu „deuten“.

Das zweite Problem, das ich nennen will, hängt eng mit dem Problem des Taktes zusammen, hat aber eine materielle Basis. Ich meine das Problem der Kapazität und der Arbeitsplätze. Viele Wissenschaftler wagen es nicht, direkt gegen Rüstungsforschung zu kämpfen, weil sie die Arbeitsplätze von Kollegen nicht in Gefahr bringen wollen. Tatsächlich liegt hier das größte Problem, weil die Rüstungsforschung mit ihrer vielfältigen Verflechtung in Militär, Staat, Industrie und Hochschule sich zu einem selbständigen innergesellschaftlichen Machtfaktor entwickelt hat. Ihre gewaltigen Kapazitäten saugen beständig manpower, finanzielle Mittel und neue Aufgaben an sich. Die Wahrheit, daß man wohl schwerlich alle Wissenschaftler und Ingenieure, die in der Rüstungsforschung und -entwicklung tätig sind, brauchen könnte, wenn die Rüstungsforschung abgeschafft wäre, wird nur mühsam durch die Vorschläge zur Rüstungskonversion überdeckt.

Die dritte Form von Problemen, mit denen sich der Kampf gegen die Rüstungsforschung konfrontiert sieht, möchte ich die Probleme der Zurechenbarkeit nennen. Tatsächlich läßt sich sehr schwer sagen, was eigentlich zur Rüstungsforschung gehört und was nicht. Das liegt zum einen daran, daß die Verwissenschaftlichung des Krieges, die ja nicht nur die Waffen im engeren Sinne betrifft, sondern ebenso die Aufklärung, die Gefechtsführung, die Logistik bis hin zur Menschenführung, daß die Verwissenschaftlichung des Krieges - sage ich - dazu geführt hat, daß nahezu jedes Wissen in kriegerischem Zusammenhang Verwendung finden kann. Wissenschaftler artikulieren die Schwierigkeit, mit der sie sich hier konfrontiert sehen, im allgemeinen als die Schwierigkeit, sich die Folgen ihrer Wissensproduktion selbstverantwortlich zurechnen zu können. Wegen der langen Wege, etwa zwischen Grundlagenforschung und -entwicklung einerseits und Technik andererseits, könnten sie im allgemeinen nicht übersehen, wozu sie durch ihre eigene Arbeit beitragen. Dieses Problem scheint schier unüberwindlich, solange man unter der Verantwortung der Wissenschaft für ihre Folgen die Verantwortlichkeit des individuellen Wissenschaftlers versteht.

Damit komme ich schließlich zur letzten Problemgruppe, die ich die Probleme der kollektiven Verweigerung nennen möchte. Auch das Problem der Zurechenbarkeit und der Verantwortung läßt sich nur lösen, wenn man Verantwortung als kollektive Verantwortung versteht. Das würde aber die Möglichkeit kollektiver Wissensbildunq in der Wissenschaftlergemeinschaft für oder gegen Rüstungsforschung voraussetzen. Ich habe oben von individueller und aggregierter Verweigerung gesprochen. Unter aggregierter Verweigerung meine ich das, was im Westen vielfach präzediert wird, nämlich die Sammlung von Unterschriften, wobei jede Unterschrift aber eine individuelle Erklärung beinhaltet. Diese individuellen Erklärungen und Verweigerungen besagen aber noch nicht viel, zum einen, weil der einzelne Wissenschaftler und Ingenieur nicht übersehen kann, ob seine Arbeit nicht doch in einem Kontext steht, der letzten Endes dem Kriege dient, und zum anderen, weil der einzelne aufgrund seiner Integration in einem Betrieb oder in eine Institution faktisch kollektiven Zwängen unterliegt. Wissenschaft und Technik sind im 20. Jahrhundert Unternehmen der kollektiven Wissensproduktion. Deshalb wäre erst die entscheidende, wirksame Strategie, daß ganze Labors, ganze Institute, ganze Fakultäten, ganze Universitäten beschließen würden, keine Rüstungsforschung zu betreiben. Wenn es Wissenschaftlern und Ingenieuren, die sich in der Friedensbewegung engagieren, gelingen würde, solche Beschlüsse herbeizuführen, so würden sie allerdings mit einem anderen, für die Wissenschaft sehr wichtigen Wert in Konflikt geraten, nämlich dem Prinzip der Forschungsfreiheit. Das Prinzip der Forschungsfreiheit hängt eng mit der Meinungsfreiheit zusammen und entstammt dem Ideenzusammenhang bürgerlich-liberaler Öffentlichkeit. Forschungs- und Meinungsfreiheit sind natürlich für das Leben und Gedeihen der Wissenschaft essentiell. Als Grundrechte festgeschrieben, sollten sie vor allem den einzelnen gegen staatliche Reglementierung und Repression schützen, schließen aber faktisch auch die Bindung des einzelnen Wissenschaftlers an kollektive Beschlüsse über Inhalt und Ausrichtung der Forschung aus. Deshalb würden in der Bundesrepublik Deutschland Entscheidungen von Gremien oder Institutionen der Wissenschaft gegen Rüstungsforschung dem Grundgesetz widersprechen.4 Artikel 5 Abs. 3 des Grundgesetzes lautet:

Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.

Anmerkungen

1 Einige Quellen zu dieser Frage stellt R. Brämer in: Die Kriegsforscherquote, Wechselwirkung Nr. 14, August 82, S. 40-43, zusammen. Mary Acland-Hood vom SIPRI Institut schreibt im 6. Kapitel des SIPRI Jahrbuches 1984: „Probably about a Quarter of all research and development expenditure and almost as high a Proportion of all the scientists and engineers engaged in research“. In den Conclusions and Recommendations des Pugwash/Unesco-Symposions in Ajaccio, Corsica, 19.- 23. Febr. 1982 heißt es: „About half a million scientists and technologists (...) are directly empioyed an military research and development“.Zurück

2 Kommentare zu dieser Erklärung finden sich in: Informationsdienst Wissenschaft und Frieden 2/84, S. 19 f., und in: A. Burckhardt (Hrsg.), Hochschule und Rüstung. Ein Beitrag von Wissenschaftlern der TH Darmstadt zur („Nach“)Rüstungsdebatte. Darmstadt: Verlag Darmstädter Blätter, S. 228-231.Zurück

3 Siehe Informationsdienst Wissenschaft und Frieden 5/85 und 2/87.Zurück

4 Näheres dazu in meinem Aufsatz „Schützt das Grundgesetz die Rüstungsforschung?“, in: Informationsdienst Wissenschaft und Frieden 1/86, S. 5-8. Zurück

Dr. Gernot Böhme ist Professor der Philosophie an der Technischen Hochschule Darmstadt und Mitherausgeber des Informationsdienstes.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1987/2 30 Jahre »Göttinger Erklärung«, Seite