Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit
Kunst und Kultur in der sudanesischen Revolution
von Christina Hartmann
Die im Dezember 2018 gestarteten Proteste der sudanesischen Bevölkerung gegen das seit 30 Jahren herrschende Regime von Präsident Baschir führten im April zu dessen Sturz. Am 17. August 2019 einigten sich Militär und zivile Revolutionsführer*innen schließlich auf die Einsetzung einer Übergangsregierung, bis freie Wahlen abgehalten werden. Ziel dieses Artikels ist es zu zeigen, wie künstlerische Widerstandsformen und Symbole der Friedfertigkeit in der Revolution genutzt wurden, den Zusammenhalt der Demonstrant*innen stärkten und letztlich eine Übergangsregierung mit paritätischer Beteiligung der Opposition erkämpften.
Im Dezember 2018 brachen in Atbara im nördlichen Sudan Proteste aus, die sich auf mehrere Städte ausbreiteten. Zunächst eine spontane Reaktion auf gestiegene Brotpreise und Mangel an Weizen, Benzin und Bargeld, richteten sich die Proteste bald gegen das Regime des seit fast 30 Jahren herrschenden Präsidenten Umar al-Baschir. Versuche der Sicherheitskräfte, die sich mehrenden Demonstrationen mit Tränengas und scharfer Munition zu stoppen, schlugen fehl. Immer mehr Sudanes*innen schlossen sich den Demonstrationen an.
Am 6. April marschierten in der Hauptstadt Khartum mehrere Zehntausend Protestierende zum Hauptquartier der Armee und riefen die Soldaten dazu auf, sich auf die Seite der Demonstrant*innen zu stellen. Die Demonstrierenden blieben vor dem Hauptquartier, bis das Militär schließlich am 11. April Präsident Baschir entmachtete und selbst die Herrschaft übernahm. Für die nächsten zwei Monate bildete sich auf den Straßen vor dem Militärhauptquartier ein riesiges Protestcamp, mit dem die Militärführung dazu bewegt werden sollte, die Macht an eine zivile Regierung abzugeben. Nach dem Scheitern der Verhandlungen ließ das Militär den Platz am 3. Juni gewaltsam räumen. Mehr als hundert Menschen kamen nach Angaben eines sudanesischen Ärztekomitees bei der Räumung ums Leben; weitere wurden vergewaltigt und verletzt. Für die nächsten Wochen wurde das Internet landesweit abgestellt.
Trotz des gewaltsamen Vorgehens des Regimes rief die »Sudanese Professionals Association«, ein Gewerkschaftsdachverband, der maßgeblich an der Organisation der Proteste beteiligt war, für den 30. Juni landesweit friedliche Demonstrationen aus, an denen mehrere Hunderttausend Menschen teilnahmen. Auf internationalen Druck und unter Mediation der Afrikanischen Union sowie Äthiopiens einigten sich Militär und Zivilist*innen am 17. August auf eine Übergangsregierung. Obgleich der weitere Verlauf bis zu den für 2022 vorgesehenen freien Wahlen abzuwarten bleibt, sind der Sturz von Machthaber Baschir und die zivile Repräsentation im Übergangsrat Erfolge der Demonstrant*innen.
Ziviler Widerstand als Erfolgsmodell
Die Friedensforscherinnen Chenoweth und Stephan (2011) und ihr Team untersuchten über 200 Kampagnen für einen Regimeumbruch. Das Ergebnis: Friedliche, gewaltfreie Kampagnen waren im Untersuchungszeitraum von 1900 bis 2006 doppelt so erfolgreich wie gewaltsame Umsturzversuche. In 53 % der Fälle führten sie zu politischem Wandel. Dabei waren die gewaltfreien Revolutionen nicht nur erfolgreicher, sie waren langfristig auch stabiler als gewaltsame. Eine Erklärung für dieses Ergebnis ist, dass gewaltfreie Revolutionen mit höherer Wahrscheinlichkeit eine größere Anzahl Unterstützer*innen aus breiten Teilen der Gesellschaft gewinnen. Physische und psychische Barrieren sind bei gewaltfreien Aktionen deutlich niedriger als bei gewaltsamen und erlauben so mehr Menschen eine Beteiligung.
Je größer die Anzahl von Unterstützer*innen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass das öffentliche Leben durch zivilen Ungehorsam beeinträchtigt wird und die Machthaber zum Einlenken gezwungen werden. Je größer der Bevölkerungsanteil, der an den Protesten teilnimmt, desto wahrscheinlicher ist es, dass sich unter diesen Familienangehörige oder Freund*innen der Sicherheitskräfte und Regimevertreter*innen befinden, was wiederum die Wahrscheinlichkeit für ein gewaltsames Vorgehen gegen Demonstrierende senkt. Dabei äußert sich Protest nicht nur durch die Teilnahme an Demonstrationen und Streiks, sondern auch durch Stellungnahmen in sozialen Medien.
Demonstrationen, Proteste, Sit-ins und Streiks
Chenoweth und Stephan (2011) weisen in ihrer Studie darauf hin, dass für den Erfolg eines friedlichen zivilen Widerstands nicht nur eine möglichst große Mobilisierung maßgeblich ist, sondern auch eine angepasste und diversifizierte Strategie. So werden durch Demonstrationen, Sit-ins und Streiks verschiedene Teile des Staates getroffen; außerdem haben sie unterschiedliche Teilnahmeschwellen und damit ein unterschiedliches Mobilisierungspotential; sie sprechen also verschiedene Bevölkerungsschichten an.
Im Sudan wurden mehrere Formen des friedlichen zivilen Ungehorsams angewandt. Von Dezember 2018 bis Anfang April 2019 kam es hauptsächlich zu organisierten Demonstrationen in den großen Städten des Landes sowie in der Hauptstadt Khartum. Obwohl bis April mehrere Dutzend Menschen durch Sicherheitskräfte getötet wurden, blieben die Proteste friedlich. Demonstrierende, die Gebäude verwüsten oder Steine auf Sicherheitskräfte werfen wollten, wurden von den anderen Teilnehmenden zurückgehalten. Die Slogans „Tasqut bas“ (Fall einfach!) und „huriya, salama, adala“ (Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit) wurden während der Protestmärsche als Motivationsgesänge gerufen und später von mehreren Künstler*innen musikalisch verarbeitet.1 Auch bei dem Sit-in vor dem Armeehauptquartier, das sich über eine Länge von ca. 3 Kilometer erstreckte, achteten Demonstrierende darauf, den Sicherheitskräften und dem herrschenden Militärrat keinen Anlass zu liefern, die Straßen zu räumen. Protestierende organisierten Eingangskontrollen und nahmen Eintretenden spitze Gegenstände sowie Waffen ab. So sollte Gewalt verhindert werden.
Abb. 1: Die friedliche Protestbewegung ist größer als die Gewalt des Regimes. Wandmalerei auf dem Gelände des Sit-in (Photo: Mohamed Zarroug).
Selbst nach der gewaltsamen Auflösung des Sit-in am 3. Juni blieben die Organisator*innen der Protestbewegung bei ihrer gewaltfreien Strategie. Als Gruppen einer paramilitärischen Einheit kurze Zeit später in der Krisenregion Darfur mehrere Menschen töteten, kam in den sozialen Medien der Hashtag „Wir sind alle Darfur“ auf. Durch die Gewalt in der Hauptstadt entstand eine Solidarisierung und Identifikation mit Menschen in anderen Landesteilen, die schon länger staatlicher Gewalt zum Opfer fielen. Zum ersten großen landesweiten Protestmarsch nach Auflösung des Protestcamps am 30. Juni setzte sich der Hashtag #KeepEyesonSudan durch. Dieser rief die internationale Gemeinschaft dazu auf, in Zeiten, in denen das Internet im Sudan abgeschaltet war, auf Gewalt gegen Demonstrierende zu achten.
Nachdem der Militärrat Unterstützung durch Saudi-Arabien und die Emirate erhielt, prangerte die Protestbewegung die Regimegewalt an und betonte die eigene Friedfertigkeit, um sich ihrerseits Unterstützung zu sichern. Insgesamt wurde versucht, bei allen Protestformen dem Revolutionsslogan „Silmiya“ (Frieden/friedlich) gerecht zu werden und das Konzept der Gewaltfreiheit mit der Identität der Bewegung zu verknüpfen.
Kunst und künstlerischer Widerstand
Kunst und Kultur begleiten gesellschaftlichen Wandel; durch die Ansprache von Emotionen kann das Gemeinschaftsgefühl gestärkt werden. Darüber hinaus können durch Kunst und Kultur die Geschehnisse in Richtung gesellschaftlichen Wandels eingeordnet werden (Lee & Lingo 2011). Kunst und Kultur sind eine Mobilisierungsstrategie, die mehr Menschen anspricht als textbasierte Aufrufe zu Demonstrationen und zivilem Ungehorsam. Durch Kunst sowie die Konstruktion einer gemeinsamen Identität und eines Gefühls der Zugehörigkeit kann ein positives emotionales Verhältnis zur Revolution und ihren Zielen sowie ihren Unterstützer*innen aufgebaut werden. Diese gemeinsame Identität kann selbst auf die Sicherheitskräfte übergehen, mit der Folge, dass diese Hemmungen haben, Gewalt gegen Demonstrierende anzuwenden.
Kunst und Künstler*innen waren treibende Kräfte hinter der Revolution im Sudan. Spielte sich sich die Kunst in der Anfangsphase hauptsächlich in den sozialen Medien ab, so drang sie im Laufe des Sit-in ins Straßenbild vor. Während der Protestmärsche verbreiteten sich vor allem Symbole des friedlichen Widerstands. Neben politischen Cartoons bekannter Künstler, wie Khalid Elbeih oder Boushra, die Humor als verbindendes Element einsetzten, wurden auch Bilder neuer digitaler Künstler*innen online geteilt.
In den sozialen Medien verbreiteten sich insbesondere solche Bilder, die den sozialen Zusammenhalt der Protestgemeinschaft widerspiegeln und beispielsweise die gegenseitige Unterstützung der Demonstrant*innen zeigen. Sogar die Flagge des Sudan war Gegenstand der digitalen Kunst. Mehrere Künstler*innen animierten das Foto eines Demonstranten, der auf einem Pick-up liegend von Sicherheitskräften abtransportiert wurde und dabei weiter die sudanesische Flagge hochhielt. Der Slogan „Tasqut bas“ wurde vielfach künstlerisch in den Alltag eingebaut, und entsprechende Bilder wurden in den sozialen Netzwerken geteilt. So wurde der Slogan aus Steinen gelegt, auf Hochzeiten mit Gewürzen auf Speisen des Buffets geschrieben oder aus leeren Tränengasdosen und Patronenhülsen gestaltet, womit gleichzeitig eine friedliche Umdeutung der Gewaltinstrumente stattfand. Tränengasdosen wurden zu Blumenvasen oder Stifthaltern umfunktioniert, während aus gefeuerter Munition Ringe gebastelt wurden. Mit der Verbreitung solcher Fotos in sozialen Medien wurde die Notwendigkeit eines friedlichen Vorgehens bei den folgenden Demonstrationen beworben.
Auf dem Sit-in wurde Kunst ins öffentliche Straßenbild gebracht, wobei ebenfalls auf friedliche Symbole geachtet wurde, etwa in einer Wandmalerei, in der Projektile von Bäumen abgefangen, also im Bild unschädlich gemacht wurden. Ebenfalls wurden Zukunftsvorstellungen dargestellt. Wandgemälde bildeten viele Frauen ab sowie Angehörige ethnischer Minderheiten, insbesondere afrikanischer, die bisher unter der ethnisch arabischen Regimeführung unterdrückt wurden. Dies beförderte ein Gemeinschaftsgefühl und verstärkte das Bild eines vereinten Sudan, der sich friedlich gegen das Regime wehrt.
Neuinterpretation des Märtyrerbegriffs
Wie im »Arabischen Frühling« fand auch im Sudan eine Umdeutung des Märtyrerbegriffs statt, weg vom Religiösen hin zum Sich-opfern für den Umbruch und die Gesellschaft. Das alte Regime verlor die Deutungshoheit darüber, wer als Märtyrer angesehen wird, an die Protestbewegung. Der Märtyrer gilt nicht mehr als Held, der sich für eine Ideologie opfert, sondern als unnötiges Opfer staatlicher Gewalt (Buckner und Khatib 2014). Märtyrerportraits und ihre Geschichten werden zur weiteren Mobilisierung verwendet. Dabei ist besonders wichtig, dass die Märtyrer gewöhnliche Menschen repräsentieren. Durch die (mehr oder weniger) zufällige Gewalt des Regimes und die Tatsache, dass auch andere Demonstrierende in der Rolle eines Märtyrers hätten enden können, wird erneut das Gemeinschaftsgefühl gestärkt.
Die künstlerische Darstellung und das Porträtieren von Opfern der Gewalt der Sicherheitskräfte fand im Sudan im öffentlichen Raum ebenso wie in den sozialen Medien statt. Die einen tauschten in den sozialen Netzwerken ihr Profilbild gegen das Portrait eines »Märtyrers« aus; die anderen zeichneten die Gesichter von Opfern auf Wände des Sit-in-Geländes. Ein Statement wurde über die Landesgrenzen bekannt: Freund*innen und Familienangehörige von Mohamed Mattar, der während der gewaltsamen Auflösung des Protestcamps am 3. Juni von einer paramilitärischen Einheit erschossen wurde, färbten ihr Profilbild in dessen Lieblingsfarbe blau. Mehrere Millionen Nutzer*innen sozialer Medien taten es ihnen weltweit gleich (#BlueForSudan). So wurde mit einem einfachen Symbol – der Farbe blau – Solidarität und Einigkeit ausgedrückt. Die internationale Unterstützung, selbst wenn diese nicht immer politisch war, motivierte viele Mitglieder der Protestbewegung, erneut auf die Straßen zu gehen.
Eine andere Variante der Verehrung von im Protest Getöteten durch die Bewegung ist die Einbeziehung der Familien von »Märtyrern«, vor allem ihrer Mütter. Regelmäßig wurde bei Demonstrationen oder dem Sit-in gefilmt, wie die Mütter der »Märtyrer« die Menge dazu aufriefen, nicht auf die Gewalt der Sicherheitskräfte einzugehen, sondern friedlich zu bleiben. Mit dem Slogan „Die Mutter des Märtyrers ist auch meine Mutter“ solidarisierten sich die Demonstrierenden wiederum mit den Verstorbenen und stifteten ein Zusammengehörigkeitsgefühl.
Die genannten Beispiele zeigen, wie sich die Protestbewegung im Sudan selbst verstand und versteht: als friedliche und gewaltfreie Bewegung, als Gegenbild zum Regime, das gestürzt werden sollte. Durch friedlichen Widerstand erreichte die sudanesische Protestbewegung mit der Einigung auf eine Übergangsregierung einen vorläufigen Teilerfolg. Ob der Sudan die These von Chenoweth und Stephan stützt, nach der ein friedlicher Widerstand längerfristig die Ziele der Protestierenden erreicht, bleibt abzuwarten.
Anmerkung
1) Beispielsweise NasJota feat. Mista D. »Tasgot Bas«, Voice of Sudan »System must fall«, Ahmed Amin »madania, huriya, salama«.
Literatur
Chenoweth, E.; Stephan, M. (2011): Why Civil Resistance Works. New York: Columbia University Press.
Buckner, E.; Khatib, L. (2014): The Martyrs’ Revolution – The Role of Martyrs in the Arab Spring. British Journal of Middle Eastern Studies, Vol. 41, Nr. 4, S. 368-384.
Lee, C.W.; Long Lingo, E. (2011): The “Got Art?” paradox – Questioning the value of art in collective action. Poetics, Vol. 39, S. 316-335.
Christina Hartmann ist Promotionsstudentin im Fach Politikwissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg.