Frieden durch Freihandel und Demokratie
Zur Genesis des liberalen Modells der Friedenssicherung
von Gottfried Niedhart
Der Weltkriegsgeneral und spätere Reichswehrminister der Weimarer Republik Wilhelm Groener beobachtete 1927, als die internationale Friedensordnung von Locarno noch nicht gescheitert war, widerstreitende Tendenzen in der Weltpolitik: auf der einen Seite „Bestrebungen der Regierungen, durch politische Friedensaktionen kriegerischen Entladungen vorzubeugen;“ auf der anderen Seite fortgesetzte Anstrengungen „die Völker für den Krieg zu organisieren.“ Dabei wollte er nicht ausschließen, daß sich das Interesse an Friedenswahrung durchsetzen und „die Menschheit“ an einem „Wendepunkt ihrer Geschichte stehen könnte“. Er führte dies nicht auf einen Bewußtseinswandel der Menschen nach dem Schock des Ersten Weltkriegs oder auf die Überzeugungskraft von Pazifisten zurück. Vielmehr glaubte er, einen strukturell wirkenden Damm gegen kriegerischen Konfliktaustrag entdeckt zu haben. Die Regierungen seien infolge globaler Interdependenzen wirtschaftlicher und finanzieller Art in ihrem politischen Handlungsspielraum eingeengt. Die moderne Wirtschaft, die mit ihren globalen Verzweigungen und Verflechtungen nicht mehr nur Sache der Nationalstaaten und ihrer Volkswirtschaften sei, übe möglicherweise „einen unwiderstehlichen Zwang zum Frieden“ aus. „Die internationalen Wirtschaftsbeziehungen werden oftmals mächtiger sein als kriegerische Bestrebungen.“ 1
In unserem Zusammenhang kommt es nicht auf den historischen Kontext der Äußerungen von Groener an, die er als Randbemerkungen zu einem Vortrag über die »Bedeutung der modernen Wirtschaft für die Strategie« machte, sondern auf das Argumentationsmuster, Krieg könne angesichts der grenzüberschreitenden Dynamik und internationalen Verflechtung der modernen Wirtschaft interessenwidrig sein. Handel und mehr noch finanzielle Verflechtungen ließen die Neigung der souveränen Nationalstaaten zur Anwendung militärischer Gewalt zurücktreten. Auch in dieser Zeitschrift wurde kürzlich die Überzeugung geäußert, kriegerische Konflikte seien in Mitteleuropa nicht zu erwarten, denn: <-2>„Die wirtschaftliche Verflechtung ist hochentwickelt und knüpft sich jeden Tag fester.“2
Der Glaube an die friedensstiftende Kraft der Wirtschaft datiert in der modernen Welt aus der Entstehungsphase einer zunehmend arbeitsteilig und global angelegten Industrie- und Dienstleistungswirtschaft im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert, wenn man so will, aus der Globalisierung vor der Globalisierung unserer Tage. Die liberale ökonomische Theorie forderte in ihrer Kritik an der vorindustriellen Wirtschaftspolitik des Merkantilismus, in der der Staat den Außenhandel regelte, eine weitgehende Liberalisierung nicht nur, weil erst dadurch wirtschaftliches Wachstum in Gang kommen könne, sondern auch, weil der Markt – im Unterschied zum Staat – den gewaltfreien Interessenausgleich nach sich ziehe. Als Vorreiter der Industrialisierung war Großbritannien der Ort, wo eine breit entwickelte liberale Publizistik die Orthodoxie des Merkantilismus in Frage stellte, internationale Wirtschaftsbeziehungen seien als Nullsummenspiel zu verstehen und der eigene Gewinn könne am Verlust gemessen werden, den andere Volkswirtschaften erleiden. Die moderne Wirtschaft, so wurde dem entgegengehalten, entfalte sich in einem internationalen Austauschsystem. Mehr noch: Der moderne Handelsstaat basiere auf der wirtschaftlichen Variante von Machtpolitik, so daß die militärische Variante als zu kostenträchtig und die Institution des Krieges als unproduktiv einzustufen seien. Krieg erschien als Ergebnis nicht funktionierender und durch staatlichen Dirigismus gelenkter Marktbeziehungen, Frieden dagegen als notwendige Konsequenz des Freihandels und zunehmender Waren- und Finanzströme.
Autoren wie David Hume oder Adam Smith setzten auf die regulierende Kraft des Marktes, wenn dem Staat auch eine wesentliche Ordnungsrolle erhalten bleiben sollte. Es liege auch im eigenen britischen Interesse, wenn sich die Wirtschaft der Konkurrenten günstig entwickle. Mit dem Blick auf den Hauptgegner um die Vormachtstellung in der Welt plädierte man für eine neue Wahrnehmung Frankreichs, das nicht mehr in erster Linie als zu bekriegender natürlicher Feind, sondern als normaler Konkurrent perzipiert werden müsse. Als Freihandel werde Handel, so Adam Smith 1776, nicht nur zu größerem Wohlstand führen, sondern auch das »Band der Freundschaft« zwischen den Staaten herstellen. 3
Damit war ein Thema angeschlagen, das in Verbindung mit weiteren Elementen zum Kernbestand liberal-aufklärerischer Friedensplanung gehörte und bis heute seine Wirkung entfaltet. Unabhängig davon, ob man im Anschluß an Francis Fukuyama das Ende der Geschichte in Erfüllung liberaler Ziele gekommen sieht, in Übereinstimmung mit Ernst-Otto Czempiel die Stunde der Gesellschaftswelt angebrochen wähnt oder mit Dieter Senghaas auf das zivilisatorische Hexagon setzt – der Ausgangspunkt ist in der liberalen Kritik am Staat des Ancien Régime zu sehen, für den Krieg ein legitimes Mittel seiner Interessenverwirklichung darstellte. Wie relevant diese Kritik noch heute ist, hat sich 1995 gezeigt, als anläßlich des 200. Jahrestags der Publikation von Immanuel Kants Schrift »Zum ewigen Frieden« zahlreiche Kongresse und Veröffentlichungen zu verzeichnen waren, in denen Kants Überlegungen und Forderungen im Licht gegenwärtiger Fragen diskutiert wurden.
Auch Kant erwartete vom Ausbau internationaler Handelsbeziehungen eine Eindämmung des kriegerischen Konfliktverhaltens der Staaten: „Es ist der Handelsgeist, der mit dem Kriege nicht zusammen bestehen kann und der früher oder später sich jedes Volkes bemächtigt.“ 4 Für Kant mußten darüber hinaus weitere Bedingungen gegeben sein, um Frieden »stiften« zu können. Im Innern der Staaten sollte ein höheres Maß an politischer Partizipation der Bevölkerung gegeben sein, und nach außen sollte der anarchische Naturzustand der internationalen Politik durch eine »föderative Vereinigung"_5 der Staaten überwunden werden. Mit Kants Friedensschrift war das liberale Modell der Friedenssicherung als Kern bürgerlichen Friedensdenkens ausformuliert, auch wenn zentrale Elemente wie Demokratie, Abrüstung, Soveränitätsverzicht zugunsten internationaler Organisationen erst später zur Entfaltung kamen.
Was an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert noch weiter entfernt war als Freihandel, war die Demokratie. Selbst in Großbritannien, dem Mutterland des Parlamentarismus und des organisierten Pazifismus, dauerte es bis 1928, ehe das Wahlrecht (fast vollständig) demokratisiert war. Es ist aber bemerkenswert, daß verschiedene prominente Vorkämpfer des Freihandels nicht nur für den Abbau von Zöllen, sondern auch – in den sechziger Jahren – für die Ausdehnung des Wahlrechts eintraten. Im Vordergrund stand freilich die Wirtschaft als Vehikel des reformerischen Wandels. Als 1846 eine für England historische Weichenstellung mit dem Abbau der Getreidezölle anstand, stellte der Textilunternehmer Richard Cobden aus Manchester die Liberalisierung des Außenhandels nicht nur als egoistisches Interesse der Baumwollindustrie dar, das sie ohne Zweifel auch war. Er war auch davon überzeugt, „daß der Freihandel das Gesicht der Welt verändern wird … Ich glaube, daß das Verlangen nach großen und mächtigen Weltreichsbildungen, nach gigantischen Armeen und großen Flotten aufhören wird, das Verlangen nach all den Dingen, die benutzt werden, um Leben zu zerstören und die Früchte menschlicher Arbeit zu verwüsten. All das wird aufhören, wenn die Menschheit eine Familie wird und jeder die Früchte seiner Arbeit mit seinem Mitmenschen frei austauschen kann. Ich glaube, daß in einer fernen Zeit die Welt wie eine städtische Gemeinde regiert wird. Und ich glaube, daß man in tausend Jahren die größte Revolution in der Weltgeschichte auf den Tag datieren wird, an dem das Prinzip des Freihandels sich durchsetzt, für das wir hier eintreten.“ 6
International erhielt das liberale Modell seine eigentliche Schubkraft mit dem Anspruch der USA, es zur Grundlage der internationalen Beziehungen zu machen. In seiner bekannten Erklärung vor dem Kongreß im April 1917 anläßlich des amerikanischen Kriegseintritts bestand Präsident Wilson auf dem Zusammenhang von Demokratie und Frieden: „Die Welt muß sicher gemacht werden für die Demokratie.“ Nur die „Partnerschaft demokratischer Nationen“ garantiere ein „beständiges Zusammenspiel für den Frieden“. In Wilsons Vision war der Anfang eines neuen Zeitalters gekommen, in dem demokratisch verfaßte Staaten sich ohne Überrüstung und Krieg in einem „Konzert der freien Völker“ würden begegnen können. Vorbei sollten die „alten unglücklichen Zeiten“ sein, „als die Völker nirgendwo von ihren Herrschern zu Rate gezogen und Kriege provoziert wurden im Interesse von Dynastien oder kleinen Gruppen ehrgeiziger Leute.“ 7 Eine Abrundung erfuhren diese Punkte mit dem amerikanischen Kriegszielprogramm der »Vierzehn Punkte« vom Januar 1918, die zum einen innenpolitischen Wandel in Deutschland als Voraussetzung für Friedensverhandlungen implizierten, die sich zum anderen mit der Forderung nach „Freiheit der Schiffahrt“ und „Aufhebung sämtlicher wirtschaftlicher Schranken“ 8 aber auch gegen Großbritannien richteten. Darüber hinaus sollten sie dem sozialistischen Modell Lenins, das Frieden durch Revolution verwirklichen wollte, den Rang ablaufen.
Die amerikanischen Maximalziele wurden nach Ende des Ersten Weltkriegs nicht erreicht. Aber es ist nicht zu leugnen, daß sich die USA mit ihrem Verlangen nach Liberalisierung tief in die Angelegenheiten anderer Staaten einmischten und daß mit der von Wilson betriebenen Gründung des Völkerbunds ein neues Kapitel in den internationalen Beziehungen begann. Spätere Grundsatzerklärungen wie die Atlantik-Charta von 1941 führten die von Wilson eingeschlagene Linie fort. Gestützt auf ihre überragende Wirtschaftskraft verfolgten die USA das Ziel der liberalen »One World« mit den USA als Führungsmacht, aber auch als in weltpolitischen und weltwirtschaftlichen Fragen Verantwortung tragende Steuerungsinstanz. Die westeuropäische Nachkriegsentwicklung und die Schaffung des »OECD-Friedens« sind ohne die amerikanische Durchsetzung des liberalen Modells nicht denkbar und belegen die »Relevanz von Friedenstheorien"_9 für die praktische Politik.
Die historische Bedeutung des liberal-aufklärerischen Modells der Friedenssicherung bestand darin, daß der Krieg nicht mehr als naturwüchsig und schicksalsverordnet angesehen wurde. Daß Kriege »ausbrechen«, hat sich andererseits bis heute in der Alltagssprache gehalten. Daß sie ein Mittel der Politik sind und Frieden also ebenfalls hergestellt werden kann, war ein Neuansatz politischen Denkens, der sich mit der politisch-ökonomischen Doppelrevolution an der Schwelle zur Moderne verband. Der Sturz des Ancien Régime in der amerikanischen und französischen Revolution und der Wandel von der Agrar- zur Industriegesellschaft in der Industriellen Revolution waren die neuen Rahmenbedingungen für friedenspolitisches Denken. Frieden erschien nicht länger als Utopie, sondern als Werk der Politik und wurde im 20. Jahrhundert schrittweise zur politischen Norm.
Zugleich war das 20. Jahrhundert ein Jahrhundert extremer Gewalt und millionenfachen Todes infolge von Kriegen. Das liberale Modell war fraglos kein Allheilmittel für die Krankheit Krieg. Dies hat es mit anderen Modellen gemeinsam. Die Ursachen liegen einerseits in der »Dialektik der Aufklärung«, zu der ganz wesentlich gehört, daß Gewaltverzicht keineswegs durchgängig zur bestimmenden Norm in Modernisierungsprozessen geworden ist. Die Grenzen des liberalen Modells liegen aber auch in ihm selbst begründet, insofern es einer historischen Konstellation entsprang, in der das Eintreten für den Frieden mit spezifischen Interessen liberaler Industriegesellschaften zusammenfiel, gleichzeitig aber zu einem allgemeinen Menschheitsinteresse erhoben wurde. Was als Verheißung daherkam, war materiell in den Bedürfnissen der »bürgerlichen« Internationale verankert, deren Weltbild westlich zentriert war.
Auch demokratische Handelsstaaten sind Machtstaaten. Die liberale »One World« schafft das internationale System der hierarchisch positionierten Mächte nicht ab. Mit anderen Worten: die Attraktivität des Wirtschaftsfriedens und die Anziehungskraft liberaler Gesellschaften westlicher Prägung sind keineswegs so automatisch gesichert, wie dies aus der Sicht derjenigen erscheint, die den liberalen Frieden wollen. Die Ausstrahlungskraft des liberalen Modells hängt von seiner Leistungsfähigkeit ab. Seine Verfechter können immerhin darauf verweisen, daß liberal-demokratische „Gesellschaften Kriege gegeneinander nicht führen.“ 10
Literatur
Ceadel, M. (1996): The Origins of War Prevention, The British Peace Movement and International Relations 1730-1854, Oxford.
Czempiel, E.-O. (1986): Friedensstrategien, Systemwandel durch Internationale Organisationen, Demokratisierung und Wirtschaft, Paderborn u.a..
Czempiel, E.-O. (1993): Weltpolitik im Umbruch, Das internationale System nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, 2. Aufl. München.
Dülffer, J. und Niedhart, G. (1997): Das internationale System und das Problem der Friedenssicherung (= Historische Friedensforschung, Kurseinheit 3), Hagen, FernUniversität.
Fetscher, I. (1972): Modelle der Friedenssicherung, München.
Höffe, O. (Hrsg.) (1995): Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden (= Klassiker Auslegen, Bd. 1). Berlin.
Holl, K. (1997): Pazifismus und Friedensbewegungen (=Historische Friedensforschung, Kurseinheit 2), Hagen, FernUniversität.
Lutz-Bachem, M. und Bohman, J. (Hrsg.) (1996): Frieden durch Recht, Kants Friedensidee und das Problem einer neuen Weltordnung, Frankfurt am Main.
Niedhart, G. (1984): Das liberale Modell der Friedenssicherung: allgemeine Grundsätze und Realisierungsversuche im 19. und 20. Jahrhundert, in: Schlenke, M. und Matz, K.-J. (Hrsg.): Frieden und Friedenssicherung in Vergangenheit und Gegenwart, München, S. 67-83.
Menzel, U. (1996): Weltinnenpolitik, Perspektiven und Grenzen eines idealistischen Projekts in weltbürgerlicher Absicht, in: Merkur (1996), S. 578-591.
Rosecrance, R. (1987): Der neue Handelsstaat, Frankfurt am Main.
Spillmann, K.R. (1984): Amerikas Ideologie des Friedens. Ursprünge, Formwandlungen und Geschichtliche Auswirkungen des amerikanischen Glaubens an den Mythos von einer friedlichen Weltordnung, Bern u.a.
Anmerkungen
1 Publiziert in: Weltwirtschaft 15 (1927), S. 68-70, auch in Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 19 (1971), S. 1170-1177. Zurück
2 Till Bastian in seinem Gastkommentar: Geloben? Öffentlich? in: Wissenschaft und Frieden 2/98, S. 5. Zurück
3 Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen. Aus dem Englischen von H.C. Recktenwald, München 1978, S. 410 Zurück
4 Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, in: ders., Werke, Bd. 9, Darmstadt 1983, S. 226. Zurück
6 N. McCord (Hg.), Free Trade. Theory and Practice from Adam Smith to Keynes, Newton Abbot 1970, S. 73 f. Zurück
7 Zitate bei Gottfried Niedhart, Internationale Beziehungen 1917-1947, Paderborn u.a. 1989, S. 13, 15. Zurück
9 Dieter Senghaas, Die Relevanz von Friedenstheorien für die Neugestaltung Europas, in: Manfred Knapp (Hg.), Konzepte europäischer Friedensordnungen, Stuttgart 1992, S. 27-52. Zurück
10 Dieter Senghaas, Hexagon-Sünden. Über die Kritik am „zivilisatorischen Hexagon“, in: Jörg Calließ (Hg.), Wodurch und wie konstituiert sich Frieden? Das zivilisatorische Hexagon auf dem Prüfstand (= Loccumer Protokolle 74/96), Loccum 1997, S. 327. Zurück
Professor Dr. Gottfried Niedhart lehrt am Historischen Institut derUniversität Mannheim