Frieden lernen – Der Weg aus dem Nichtschwimmerbecken
von Klaus Harnack
Neulich im Freibad fiel mir auf, was mir wirklich in den Zeiten der Isolation und des Social Distancing gefehlt hat: die öffentliche Bühne, der mit fremden Menschen geteilte Raum, die soziale Nähe. Es war schön, die fast vergessene Vielfalt der körperlichen Physiognomien und Verhaltensmuster zu bestaunen. Beim schweifenden Blick über das Nichtschwimmerbecken, beim Beobachten des bunten Treibens im kühlen Nass, kam mir der Leitgedanke der Konzeption dieser Ausgabe wieder in den Sinn:
Während zwei Jungen im Grundschulalter sich unerlässlich im gegenseitigen Untertauchen übten, trainierte eine weitere Fraktion Knirpse mit Wasserpistolen den gezielten Schuss ins ungeschützte Gesicht. Begleitet wurden diese Szenen von der im knietiefen Wasser hockenden Elternschaft, die damit beschäftigt war, den Nachwuchs zur Umsicht zu bewegen, auf andere Rücksicht zu nehmen und sich für Regelüberschreitungen direkt zu entschuldigen. Im kleinen westfälischen Nichtschwimmerbecken zeigte sich also, was auch allgemein gültig zu sein scheint: Während die Physis, die körperliche Dominanz zur Verhaltenskoordination und Ausbildung von sozialen Strukturen, bei Kindern von selbst entsteht, scheint das Konfliktmanagement eine kulturelle erzieherische Tätigkeit zu sein. In Kürze: Krieg kommt von alleine, Frieden muss erlernt werden.
Die vorliegende Ausgabe von W&F widmet sich genau diesem Spannungsfeld, wie das Lernen und Lehren des Friedens gelingen kann. Wir beleuchten in diesem Heft die wichtigsten Konzepte der Friedenslehre und Friedenspädagogik, wagen einen Blick über den Tellerrand und schauen nach Japan, auf ein Land mit einer strikten, normativen Friedensdoktrin, das langsam versucht sich aus der bequemen Opferrolle zu emanzipieren. Im Heft kommen aber ebenso die geschichtliche Entwicklung der Friedenslehre in Deutschland und sehr konkrete Praxis von Friedenspädagogik zum Ausdruck: wir blicken auf anwendbare Ansätze, die uns die Verhandlungspsychologie zur Verfügung stellt und stellen eine Reihe von praktischen Projekten vor, die sich der Lehre des Friedens oder der Vermittlung von Konfliktkompetenzen in Schule, außerschulischer Bildungsarbeit, Universitäten oder der Allgemeinheit verschrieben haben.
In dieser Ausgabe soll also die Idee des Friedens bzw. der vielen Frieden als Produkt von »Friedfähigkeit« und »Friedfertigkeit« (in friedensbereiten Strukturen) beleuchtet werden. Dabei benennt der in der Literatur eher selten auftauchende Begriff der Friedfähigkeit die vorauszusetzende Grundlage. Denn damit ist die Gesamtheit der zur Erlernung des Friedens erforderlichen Bedingungen gemeint, die Summe aller Voraussetzungen, die zur Ausführung einer Fertigkeit erforderlich sind. Sind diese Grundlagen gegeben, kann die weitaus öfter thematisierte Friedfertigkeit ins Spiel kommen, die durch Motivation und Übung entstehen kann.
Das entstehende Produkt „Frieden gestalten und leben“ kann wiederum am Beispiel des Schwimmens illustriert werden. Hier sind die »Schwimm-Fähigkeiten« der natürliche Auftrieb und die Beweglichkeit der Arme und Beine, während das Üben der Schwimmtechniken, das Atmen und das Tauchen die »Schwimm-Fertigkeiten« darstellen. Durch das Beispiel wird deutlich, dass eine kulturelle Verankerung der Friedenslehre essentiell ist, auch wenn im Idealfall alle Voraussetzungen für Friedensfähigkeit gegeben sind – denn so wie jede Generation erneut das Schwimmen lernen muss, muss jede Generation Friedfertigkeit erlernen. Über die reine materielle Ausstattung und Bedürfnisbefriedigung, die im globalen Norden die Grundlage der Friedfähigkeit darstellt, wird Frieden nicht automatisch entstehen, es fehlt die Ausbildung der Friedfertigkeit. Doch wie wird diese erlernt?
Schaut man ins Nichtschwimmerbecken, scheint es auf den ersten Blick ganz einfach. Doch was ist mit den Situationen, in denen die Herstellung des Friedens kompliziert wird? Wenn die Grenzen zwischen Gut und Böse verschwimmen? Wenn die Erkenntnis durchsickert, dass Gut und Böse nie existiert haben? Wenn es auf beiden Seiten richtige und unumstößliche Tatsachen gibt und keine klaren Interessen formuliert werden können? Wenn Rache oder andere niedere Motive die Handlung treiben? Wenn der Faktencheck alleine nicht mehr hilft und auch die Wissenschaft keine klaren Antworten bieten kann?
Kann dann Frieden, wie in der japanischen Verfassung, normativ verankert werden? Kann Friedfertigkeit über die Reproduktion friedensnormativer Mantras entstehen? Mit dieser Ausgabe wollen wir Friedfertigkeit weniger als fixen Satz an Befähigungen verstanden wissen, sondern das kontinuierliche Friedenslernen in den Mittelpunkt rücken. Wir meinen, so können wir der Interdependenz, Dynamik und Komplexität der Herausforderung »Frieden zu lernen« gerecht werden.
Genießen Sie die Lektüre dieser Ausgabe, kommen Sie gut durch den Sommer und finden Sie Ihre Antwort auf die Frage, wie der Weg aus dem Nichtschwimmerbecken beschritten werden kann.
Ihr Klaus Harnack