W&F 2004/2

Friedensbewegung unter soziologischer Beobachtung

von Peter Strutynski

In W&F 1-2004 hat der »Bewegungsforscher« Dieter Rucht, Prof. für Soziologie am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, die Ergebnisse einer Studie über die TeilnehmerInnen der Berliner Friedensdemonstration gegen den Irakkrieg im Februar 2003 vorgestellt – Ergebnisse, die in Teilen bereits direkt nach der Demonstration in den Medien ein breites Echo fanden. Peter Strutynski unterzieht die Befragung und ihre doppelte mediale Aufbereitung einer kritischen Betrachtung und legt dar, warum die TeilnehmerInnen an Demonstrationen eigentlich nie den Querschnitt der Bevölkerung repräsentieren – auch dann nicht, wenn sie dem Willen der großen Mehrheit Ausdruck verleihen.

Die Protestbewegung gegen den Irakkrieg 2003 hat alles übertroffen, was bisher in der deutschen, wahrscheinlich aber auch in der Geschichte anderer Länder und weltweit registriert worden war. Massendemonstrationen am 15. Februar 2003 gegen den angekündigten amerikanisch-britischen Krieg fanden in rund 60 Ländern der Erde statt, die Teilnehmerzahlen werden auf bis zu 16 Millionen geschätzt. Mit der Großdemonstration in Berlin ist die deutsche Friedensbewegung endgültig aus dem Schatten der 1980er Jahre herausgetreten und hat sich als runderneuerte außerparlamentarische Kraft im politischen Kräftespiel der Bundesrepublik gehörigen Respekt verschafft. Öffentlichkeit, Medien und Politik waren gleichermaßen beeindruckt von dieser großartigen Manifestation des Mehrheitswillens der Bevölkerung gegen den drohenden Krieg und für den Frieden.

Es mag als Glücksfall erscheinen, dass die Demonstrationen vom 15. Februar in sieben europäischen Ländern und drei US-amerikanischen Städten auch wissenschaftlich unter die Lupe genommen wurden. Der »Bewegungsforscher« Dieter Rucht vom Wissenschaftszentrum Berlin wurde in den Tagen danach in fast allen deutschen Zeitungen mit zwei »überraschenden« Erkenntnissen seiner Feldforschung zitiert:

  • Die Demonstration spiegele einen Querschnitt der Bevölkerung wider.
  • Viele Demonstrantinnen und Demonstranten seien zum ersten Mal in politischer Absicht auf die Straße gegangen. (vgl. z.B. Frankfurter Rundschau, 18.02.2003).

Diese Erkenntnisse schienen trivial zu sein, weil eine Massendemonstration dieser Größenordnung (mehr als 500.000), die in ihrer politischen Stoßrichtung die Überzeugung von rund 80 Prozent der Gesamtbevölkerung ausdrückt, durchaus auch stellvertretend für diese Bevölkerung stehen kann. Im statistischen Sinn »repräsentativ« muss ihre Zusammensetzung deswegen noch lange nicht gewesen sein. Z.B. wird es bei Demonstrationen selten möglich sein, einen repräsentativen Altersquerschnitt auf die Straße zu bringen. Wenn zur Zeit rund 17 Prozent der Bevölkerung 65 Jahre und älter sind, heißt das eben nicht, dass dieser Anteil auch bei einer Demonstration erreicht wird – noch dazu bei einer Demonstration und Kundgebung, die insgesamt über vier Stunden bei eisigen Temperaturen dauern. Trivial mutet auch die zweite Feststellung an, dass viele Teilnehmer/innen „zum ersten Mal in ihrem Leben“ bei einer politischen Demonstration mitgemacht haben. Eigentlich sagt schon der gesunde Menschenverstand, dass je größer eine Demonstration, desto eher sind Menschen dabei, die noch nie zuvor demonstriert haben. Noch dazu, wenn viele junge Menschen beteiligt sind.

Bewegungsforscher Rucht hatte kein Hehl aus seiner Sympathie für die Berliner Großdemonstration gemacht. Ich vermute, sie entsprach seinem Wunsch nach einer großen Gemeinschaft der breiten Mehrheit, sprich der breiten Mitte. Umso ernüchterter war er, als sich bei genauerer Auswertung der ermittelten Daten herausstellte, dass die Demonstration keineswegs den „Querschnitt der Bevölkerung“ darstellte, ja, dass sie „linkslastiger als vermutet“ war. (Anmerkung am Rande: Es entspricht dem herrschenden politischen Verständnis, dass bei der Charakterisierung politischer Spektren »links« offenbar immer mit einer »Last« in Verbindung gebracht wird, die Vokabel »mittelastig« gibt es dagegen nicht, denn die Mitte wird doch nie und nimmer als Last empfunden!)

„Frappierend“ war für Rucht auch der „weit über dem Durchschnitt liegende Bildungsstand der Demonstranten“. 51 Prozent der Demonstranten hätten einen Universitäts- oder Fachhochschulabschluss, acht Prozent darüber hinaus sogar eine Promotion. Hinzu kommen gut sechs Prozent Menschen mit Fachhochschulreife und 17 Prozent mit Abitur. Alles in allem: 82 Prozent der befragten Demonstranten haben mindestens Abitur oder Fachhochschulreife. Weit überproportional vertreten waren auch die Personen ohne Religionszugehörigkeit: 65,5 Prozent waren ohne Glaubensbekenntnis (Gesamtbevölkerung ca. 35 Prozent). Unter den Kirchenmitgliedern rangierten die Protestanten mit 32,2 Prozent eindeutig vor den Katholiken (7,4 %) (Gesamtbevölkerung: 32,2 % ev., 32,6 % kath.). Die Unterrepräsentanz der Katholiken dürfte sich recht einfach aus der relativen Ferne Bayerns, Baden-Württembergs und Nordrhein-Westfalens erklären lassen. Von dort waren vermutlich wenig Demonstranten nach Berlin gefahren (zumal z.B. am 15. Februar in Stuttgart eine eigene Antikriegs-Demonstration stattfand). Und der große Teil der Demonstration, den die überwiegend evangelischen – wenn nicht gar gottlosen – Berliner stellten (über 60 %, wie Rucht mitteilt), dürfte diese Zahlen verständlich machen.

Doch völlig überrascht war Rucht von der allgemeinen politischen Positionierung der Demonstranten. Die beliebte Sonntagsfrage unter den Demonstranten erbrachte „das Bild einer enorm starken Linkslastigkeit“: 93,5 Prozent wollten Rot-Grün bzw. PDS wählen! Allerdings: Die Grünen erhielten fast 53 Prozent, die SPD knapp 21 und die PDS knapp 20 Prozent – da reicht das Spektrum also doch wieder bis weit in die Mitte. Dass die CDU/CSU mit 1,7 Prozent und die FDP mit 1,2 Prozent vorliebnehmen musste, überrascht indessen weniger. Immerhin handelte es sich um eine Antikriegsdemonstration, und die CDU hatte sich derart eindeutig für den Krieg ausgesprochen und sich hinter Bush gestellt, dass sich eine CDU-Wahloption in der Situation geradezu verbot.

Die Linksorientierung der Demonstration wird des Weiteren damit belegt, dass sich die meisten Demonstranten auf einer vorgegebenen »Links/Rechts-Skala« (von 0=ganz links bis 10=ganz rechts) 18,8 Prozent als »sehr links« und 64,1 Prozent als »links« einstufen (Werte von 0-3) und nur 1,1 Prozent als »rechts« bis »sehr rechts« (Werte von 7 bis 10). Rucht fehlt vor allem die »Mitte« (Werte von 4 bis 6): Zu ihr bekennen sich nur 16 Prozent. Im Kontext anderer Fragen erweist sich die Masse der Demonstranten als ausgesprochen kritisch und skeptisch gegenüber den politischen Institutionen, insbesondere den Parteien, und beurteilt den drohenden Irakkrieg überwiegend als Krieg um Öl. So stimmen 85 Prozent der Befragten der Aussage zu: „Die USA wollen den Irak angreifen, um ihre nationale Ölversorgung zu sichern.“ Auch die überwiegend kriegskritische Haltung bildet sich in der Umfrage ab, so wenn z.B. wiederum 85 Prozent folgende Aussage ablehnen: „Ein Krieg ist gerechtfertigt, um ein diktatorisches Regime abzuschaffen.“ Zur pazifistischen Aussage „Kriege sind immer falsch“ bekennen sich schließlich gut 76 Prozent aller Befragten.

Das wirklich Frappierende an solchen Ergebnissen ist, dass sie sich im Großen und Ganzen decken mit zahlreichen Repräsentativerhebungen vor, während und nach dem Irakkrieg. Noch ein halbes Jahr nach dem offiziellen Ende des Krieges hat sich dies nicht grundsätzlich geändert. Im Oktober 2003 führte Gallup Europe im Auftrag der Europäischen Kommission eine Umfrage durch, deren Ergebnisse eine anhaltende Kriegsgegnerschaft und USA-Skepsis in der europäischen Bevölkerung dokumentieren.1 Beispielsweise wollten die Interviewer wissen, ob die Befragten den Irakkrieg auch ein halbes Jahr nach dessen Beginn für gerechtfertigt halten. 68 Prozent aller Befragten verneinten diese Frage, worunter noch einmal 41 Prozent sagten, sie hielten die Militärintervention unter gar keinen Umständen für gerechtfertigt. Demgegenüber glaubt nur eine Minderheit von 29 Prozent, dass der Krieg gerechtfertigt gewesen sei (darunter befanden sich 7 %, die diese Meinung unter allen Umständen aufrechterhalten würden). Differenziert man nach Ländern, so ergeben sich doch bemerkenswerte Unterschiede: Am größten ist die Ablehnung des Krieges in Griechenland, wo 96 Prozent der Befragten den Krieg für ungerechtfertigt halten. Österreich mit 86 Prozent und Frankreich mit 81 Prozent folgen auf den Plätzen zwei und drei, dahinter Spanien (79 %), Luxemburg, Belgien (jeweils 75 %) und Deutschland (72 %). Das einzige EU-Land, in dem eine Mehrheit davon ausging, dass der Krieg gerechtfertigt war, ist Dänemark. Sogar in Großbritannien, das sich mit seinem Premierminister Tony Blair so stark ins kriegerische Zeug gelegt hatte, waren die Kriegsbefürworter im Oktober in der Minderheit (44 %). 51 Prozent der Briten hielten den Krieg für nicht gerechtfertigt.

Die tief sitzende Skepsis gegenüber der Politik der US-Administration kommt in der Antwort auf die Frage zum Ausdruck, wem der Wiederaufbau des Irak anvertraut werden sollte. Das geringste Vertrauen bringen die Menschen den Vereinigten Staaten von Amerika entgegen: 18 Prozent der Europäer sagen, der Wiederaufbau des Irak sei bei den USA gut aufgehoben. Bessere Noten erhielt da schon die Europäische Union, obwohl sie selbst gar nicht als Akteur im Irak involviert ist. Sie wollten 25 Prozent der Befragten mit dem Wiederaufbau beauftragen. Noch mehr Vertrauen genießen die Iraker selbst, denen 44 Prozent das weitere Schicksal ihres Landes in die Hände legen möchten. Unangefochten aber an der Spitze des Vertrauens liegen die Vereinten Nationen, denen 58 Prozent der Befragten zutrauen, im Irak das Richtige zu tun (wenn man sie nur lassen würde, müsste hinzugefügt werden).

Auch andere Umfragen belegen, dass eine große und stabile Bevölkerungsmehrheit über Monate den Irakkrieg abgelehnt hat und auch heute noch ablehnt. Dies setzt sich indessen nicht unmittelbar in politische Bewegung um. Am 15. Februar 2003 kam eine Reihe begünstigender situativer Faktoren zusammen (die sog. Gelegenheitsstruktur), die den Protest gegen den drohenden Krieg zu einer gewaltigen Massenbewegung anschwellen ließen. Dennoch waren die Demonstranten im statistischen Sinn nicht repräsentativ für die Bevölkerung – auch nicht für die rund 80 Prozent der Menschen, die den Krieg ablehnten. Dies liegt schlicht daran, dass »die Straße« für die breite Bevölkerung nicht die bevorzugte Arena zur politischen Meinungsäußerung ist.

Demonstranten sind vermutlich immer ein hoch motivierter, überdurchschnittlich informierter, besonders entschiedener und in politischen Zusammenhängen (Parteien, Gewerkschaften, »neuen sozialen Bewegungen«) agierender Teil der Gesellschaft. Solche Zuweisungen korrespondieren mit großer Wahrscheinlichkeit mit den von Rucht festgestellten Attributen der Demonstranten, was deren höhere Bildungsabschlüsse oder linke Parteipräferenzen betrifft. Da dies einem Bewegungsforscher bekannt sein sollte, hätte sich ein dem Gegenstand angemesseneres Untersuchungsdesign angeboten. Nicht die politischen Einstellungen von Demonstranten sind von Interesse, jedenfalls nicht die Einstellungen, die unmittelbar mit dem Demonstrationszweck in Verbindung stehen; sie können doch im Großen und Ganzen als bekannt vorausgesetzt werden. Wesentlich interessanter wären beispielsweise Zusatzinformationen über die sozialstrukturelle Herkunft der Demonstranten (die ist mit den Angaben über den Bildungsabschluss nicht hinreichend geklärt), die Zugehörigkeit zu verschiedenen politischen Bewegungsformationen, die Affinität zu unterschiedlichen Politik-Traditionen oder die Prägung durch generationsübergreifende politische Verhaltensmuster. Ansatzweise hat dies Dieter Rucht eingelöst, indem er sich in einer Sonderauswertung seiner Befragungsergebnisse den Motiven von Jugendlichen bzw. Schüler/innen für ihren Protest widmete.2 Doch auch hierzu wäre eine Umfrage unter Schülerinnen und Schülern anlässlich ihrer eigenen massenhaften Proteste (im ganzen Land am »Tag X« durchgeführt, dem Tag des Kriegsbeginns bzw. unmittelbar am Tag darauf) wesentlich aussagekräftiger gewesen.

Dieter Ruchts Soziogramm der Berliner Demonstration ist also aus drei Gründen unbefriedigend bis ärgerlich:

Erstens, weil es mit trivialen Aussagen aufwartet. Was soll man schon Überraschendes erfahren, wenn man Friedensdemonstranten über deren friedenspolitische Meinungen befragt?!

Zweitens, weil die Enttäuschung des Forschers über die nicht repräsentative Stichprobe und seine Schlussfolgerung, wonach das (mediale) „Bild der Demonstranten als eines breiten Durchschnitts der Bevölkerung … im Großen und Ganzen falsch“ gewesen sei, am Kern der Sache vorbei geht. In einem übertragenen Sinn, d.h. in qualitativer Hinsicht war das »Bild« nämlich durchaus richtig: Die Demonstration stand repräsentativ für die politische Ablehnung des Irakkriegs durch eine große Mehrheit der Bevölkerung. Die Teilnehmer/innen, die Medien, Teile der politischen Klasse (von denen sich auch einige auf der Demonstration haben blicken lassen) und die Öffentlichkeit haben das so verstanden – nur dem Sozialforscher Rucht ist es ein Rätsel geblieben.

Drittens, weil die dementierende Berichterstattung über den fundamentalen »Irrtum« des Bewegungsforschers objektiv den Eindruck erwecken musste, als wolle sich der Forscher nachträglich von der politischen Zielrichtung der Demonstration vom 15. Februar distanzieren. (vgl. Das Bild vom Querschnitt der Bevölkerung ist falsch, FR vom 21. März 2003).

Anmerkungen

1) Vgl. Peter Strutynski: Europa, der Irakkrieg und der Antisemitismus. Was uns Umfragen und das wirkliche Leben lehren. Internet: http://www.uni-kassel.de/fb10/frieden/regionen/Irak/eu-umfrage.html Die Umfrage selbst ist hier erschienen: EOS Gallup Europe: Flash Eurobarometer 151 »Iraq and Peace in the World«. Requested and coordinated by Directorate General Press and Communication, European Commission, November 2003.

2) Dieter Rucht: Die Schüler in der Anti-Kriegsbewegung – und was davon bleiben wird. Homepage des Wissenschaftszentrums Berlin: http://www.wz-berlin.de/presse/pdf/schuelerproteste.pdf

Dr. Peter Strutynski arbeitet an der Universität Kassel und ist Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2004/2 EU – Zivil- oder Militärmacht, Seite