Friedensdiskurs – Friedensethik: »Wahrheitstheorien« von Jürgen Habermas in pädagogischer Sicht
von Karl Brose
Die Wandlungen des Friedensbegriffs in den gegenwärtigen politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen sind rasant. Das gilt auch für deren pädagogische Implikationen. Den Veränderungen in der großen Welt müßte eine Wandlung im Mikrokosmos der Erziehung entsprechen. Bleiben hier Konflikte ungelöst, so können sie zur Gewalt im späteren Leben führen, zu Aggressionen zwischen Völkern und Staaten. Die Friedenserziehung versucht besonders junge Menschen auf die konfliktfreie und dissenslösende Gestaltung des künftigen Lebens vorzubereiten. Aus der zermürbenden Analyse dieser Konfliktbewältigungen sucht die Friedenserziehung freilich oft vorzeitig zu entfliehen. Sie geht dann zu Werten und Wahrheiten über, die sich über die Widersprüche und Problematik der Zeit hinwegsetzen. Unter solchen Voraussetzungen sollte man auch die Wahrheitstheorien von Jürgen Habermas1 lesen. Bieten sie Fixpunkte im derzeitigen Ablauf der politischen Ereignisse? Befreien sie von traditionellen und moralistischen Friedenskategorien? Erweitern sie den Blick auf politische Veränderung und philosophische Aufklärung, wie man sie Vertretern der Kritischen Theorie nachsagt?2
1. Wahrheit, Wahrhaftigkeit und ideale Sprechsituation
Wahrheit sollte hinter jeder Friedenserziehung stehen. Sie ist ein Geltungsanspruch in allen unseren Behauptungen und Aussagen; genauer; bei der Verwendung von Aussagen und Behauptungen. Eine solche Verwendung gehört neben Erfahrungen und Argumenten zur Konsensustheorie der Wahrheit: „Der Sinn von Wahrheit, der in der Pragmatik von Behauptungen impliziert ist, läßt sich erst hinreichend klären, wenn wir angeben können, was »diskursive Einlösung« von erfahrungsfundierten Geltungsansprüchen bedeutet. Genau dies ist das Ziel einer Konsensustheorie der Wahrheit“; diese beansprucht den „zwanglosen Zwang des besseren Arguments durch formale Eigenschaften des Diskurses zu erklären… Der Ausgang eines Diskurses kann weder durch logischen noch durch empirischen Zwang allein entschieden werden, sondern durch die »Kraft des besseren Argumentes"“ (136, 161). Die konsenserzielende Kraft dieses Arguments beruht auf einer der Argumentation vorausliegenden rationalen Entwicklung. Wir sind auf den diskursiven Gang dieser Argumentation angewiesen, damit ein gewähltes Sprach- und Begriffsystem auch revidiert werden kann: ein argumentativ erzielter Konsensus muß als Wahrheitskriterium die Möglichkeit bieten, „die jeweilige Begründungssprache, in der Erfahrungen interpretiert werden, zu hinterfragen, zu modifizieren und zu ersetzen“ (172). Konsequenz für Friedenserzieher: Wahrheit als Versprechen eines vernünftigen Konsensus könnte als eine sprachlich fundierte Verständigungstheorie des Friedens angesehen werden.
Vor Wahrheit unterscheidet Habermas Wahrhaftigkeit. Wir stellen Fragen wie: Täuscht er mich? Täuscht er sich über sich selbst? Wir verbinden Wahrhaftigkeit also mit Glauben und Vertrauen. Deren Gewißheit verdankt sich Interaktionen, in denen wir die Wahrhaftigkeit des anderen erfahren. Diese ist von kommunikativen Erfahrungen mit dem anderen abhängig. Wenn wir jemandem glauben, entsprechen wir dem Geltungsanspruch einer Person auf Wahrhaftigkeit. Ein Sprecher ist wahrhaftig, wenn er weder sich noch andere täuscht.
Wahrhaftigkeit in Diskursen, begründeter Konsensus als Wahrheitskriterium und die konsenserzielende Kraft des besseren Arguments in der Freizügigkeit zwischen den Diskursebenen: solche Bedingungen sind für Habermas erfüllt in der idealen Sprechsituation (174-183). Diese schließt systematische Verzerrungen in der Kommunikation aus. Für alle Diskursteilnehmer ist eine „symmetrische Verteilung der Chancen, Sprechakte zu wählen und auszuführen, gegeben“ (177). Sie können Behauptungen oder Rechtfertigungen aufstellen, Gefühle zum Ausdruck bringen und regulative Sprechakte zulassen oder verbieten. Solche Bedingungen beruhen für Habermas auf reziproker „Unterstellung, Antizipation“ und „Vorgriff auf eine ideale Sprechsituation“ (180). Letztere ist ein kritischer Maßstab für einen begründeten Konsensus. Die formale Vorwegnahme des idealisierten Gesprächs garantiert das letzte tragende Einverständnis zwischen Sprechern. Wiederum Schlußfolgerung für Friedenserzieher: Habermas geht es um die methodische Überwindung verzerrter Kommunikation; auch im Friedensdiskurs könnte der vernünftige Konsensus von einem trügerischen nur durch die Bezugnahme auf eine ideale Sprechsituation unterschieden werden.
Kritik der idealen Sprechsituation und Konsensustheorie
Die philosophisch-theoretischen Voraussetzungen von Habermas und die pädagogisch-praktische Friedenserziehung gehen offenbar nicht bruchlos ineinander auf, schon gar nicht in der idealen Sprechsituation und Konsensustheorie der Wahrheit. In der alltäglichen Erziehungswirklichkeit erscheint ein Friedensdiskurs im Sinne von Habermas kaum als realistisch. Es gibt hier keine „gleiche Chance…kommunikative Sprechakte zu verwenden“ (177). Vielmehr besteht in der Erziehung grundsätzlich ein Herrschaftsgefälle. Niemand spricht hier konsensuell miteinander über Wahrheits- und Wahrhaftigkeitsfragen – es sei denn im Religionsunterricht. Kinder und Jugendliche messen die Sprachkompetenz ihrer Eltern und Lehrer an Slogans angloamerikanischer Schlager. Zum begründeten oder unbegründeten Konsens sind sie allenfalls auf der Ebene von Medienjargon und kryptischem McDonald-Deutsch bereit.3 Ob die ideale Sprechsituation und Konsensustheorie von Habermas diese Widersprüche pädagogischer Realität und Ursachen latenter Gewaltsamkeit nicht verstellt? Friedenserzieher fragen: bietet sie mehr als ein Postulat und Regulativ – als jene „im Kommunikationsvorgang operativ wirksame Fiktion“ (180) und bloße Antizipation von Frieden und Gewaltlosigkeit?
Eher nämlich zeigt die Konsensustheorie und ideale Sprechsituation von Habermas die Gefahr einer nur idealistischen Wahrheits- und Friedenstheorie. Während der »Dauer« (177) eines lediglich idealen Friedenszustandes4 können Kriege ausbrechen, deren Ursachen durch Idealismen idealer Sprechsituationen und eines nur scheinbaren Konsensus zugedeckt werden. Der Trost solcher Ideale gehört zu einem Verblendungszusammenhang, der nicht nur sprachlich, sondern auch gesellschaftlich aufzuarbeiten wäre. Für eine kritische Friedenserziehung gelten die Vorbehalte: die ideale Sprechsituation und Konsensustheorie verschleiert wohl Ursachen des mißlungenen Sprechens, kaschiert offenbar Mißverständnisse und Verständigungsmangel im pädagogischen Alltag. Sie fördert damit eher latente Friedlosigkeit und Unfriedensstrukturen. Der ideale Gestus jener Diskurs- und Wahrheitstheorien verstellt das Aufsuchen realer, materialer und empirischer Gründe des mißlungenen Sprechens. Die Analyse von Gewaltsamkeit und Vorurteilen – bereits in der Kindersprache – müßte einer idealen Sprechsituation und dem projizierten Konsensus vorausgehen.
Die Wahrheitstheorien von Habermas bleiben also offenbar irrational. Der pädagogische Alltag steht unter Herrschafts-, Sach- und Zeitzwängen, die keine erfahrungs- und handlungsentlastende „reine“(78, 180 Anm. 45) Kommunikation und ideale Sprechsituation zulassen. Noch immer ist der Klassendurchschnitt zu hoch, gibt es zu wenige Lehrer und fallen zu viele Stunden aus – ein Anlaß zu täglichem Unfrieden, Aggression und Gewalt. Vielleicht gibt es eine ideale Sprechsituation nur zwischen zwei Menschen, dialogisch (Buber) oder in einem Klassenzimmer von höchstens zehn Schülern – und weniger – ähnlich dem Behandlungszimmer eines Arztes. Jedenfalls ändert die ideale Überhöhung der Realität durch Sprache, Konsensus und Wahrheitstheorie nichts an den Zwängen und Unfriedensstrukturen der Schul- und Erziehungswirklichkeit. Diese werden eben zugedeckt durch Metakommunikation. Habermas projiziert, projektiert und »unterstellt« zwangsfreie Kommunikation, die sich aus der Analyse der tatsächlichen Gewaltverhältnisse hinaushebt, d.h. davonstiehlt. Dadurch läßt er diese, wie sie sind. Es zeigt sich ein Mangel der Kritischen Theorie: die Kluft zwischen idealer und reiner Theorie auf der einen Seite auf Kosten einer nur „unterstellten und antizipierten“ Praxis auf der anderen Seite5. Die Konsequenz für eine kritische Friedenserziehung ist deutlich: der Ewige Friede (Kant) thront weiterhin über einer unbewältigten Realität und den tatsächlich gegebenen Unfriedensstrukturen in Schule und Hochschule, Wissenschaft und Gesellschaft.
3. Zur Rechtfertigung der »Wahrheitstheorien« von Habermas
Nun kann die Kluft zwischen Theorie und Praxis in den Wahrheitstheorien von Habermas auch als Ausdruck einer immer noch unfriedlichen und in ihren Gegensätzen unausgeglichenen Gesellschaft der Gegenwart interpretiert werden. Dann bieten die „Vorgriffe und Antizipationen“ seiner Diskurs- und Konsensustheorie Fernziele, ohne die eine kritische Friedenserziehung auch nicht leben kann. Die Gewaltsamkeit der alltäglichen Umgangssprache – und der Kindersprache im besonderen – verlangt durchaus eine „ethische Sprache“ (173). Hier könnte ein diskurstheoretisches Fundament für die Friedenserziehung liegen. Welchen Stellenwert hat da die »ideale Sprechsituation«? Oder umgekehrt argumentiert: das Fehlen von Frieden und Gewaltlosigkeit in der Sprache muß auch einen Verlust für die ideale Sprechsituation mit sich bringen – und damit auch für den philosophischen Wahrheits- und Wahrhaftigkeitsanspruch der Diskurs- und Konsensustheorie von Habermas. Von dieser Argumentation aus stellt sich dann auch die pädagogische Frage neu und realitätsrelevant, woher die Symptome der Gewaltsamkeit in der Sprache der Kinder und Erwachsenen, Schüler und Lehrer kommen, die so weit vom Konsensus der Wahrheit, Wahrhaftigkeit und Chancengleichheit der idealen Sprechpartner entfernt sind. Das Gewaltphänomen müßte dann von einer erweiterten und zusätzlichen „Tiefengrammatik“ (Wittgenstein) aus begründet und beschrieben werden, von Kommunikations- und Diskursstrukturen diesseits idealer Sprechsituationen.
Die ideale Sprechsituation und Konsensustheorie von Habermas könnte also eine ethische Antwort auf die Unfriedensstrukturen der Gegenwart geben, die weder von Erziehungsinstanzen noch von religiösen oder technisch verwalteten Institutionen zu erwarten ist. Pädagogisch kaum möglich erscheint uns die Chancengleichheit im Erziehungsprozeß. Weiterführend ist hier wohl die Rück- und Neubesinnung auf jene „ethische Sprache“ und „vernünftige Rede“ (181). Grundbegriffe einer solchen ethischen und vernünftigen Sprache lassen sich als „kognitive Schemata auffassen, die sich… mit der Entwicklung des moralischen Bewußtseins herausbilden“ (173). Das gewählte konsensfähige Sprachsystem muß dann auch Bedürfnisinterpretationen zulassen, in denen die Sprecher ihr wirkliches Wollen artikulieren. Sie müssen die Begründungssprache ihrer Bedürfnisse jederzeit hinterfragen, revidieren und die Gesprächs- und Diskursebene wechseln können. Die Verbindung des theoretisch-philosophischen Diskurses mit dem praktischen ist für Habermas unerläßlich zur Grundlegung einer „universalistischen Sprachethik“ (145 Anm. 18). Mit dieser praktisch-ethischen Wendung seines philosophisch-theoretischen Ansatzes überwindet Habermas die Irrealität seiner „idealen Sprechsituation“. Damit vollzieht er auch die praktisch-ethische Wende für einen kritischen Friedensdiskurs über die Beseitigung von Unfrieden und Gewaltstrukturen in der Schule und Hochschule, Wissenschaft und Gesellschaft.
Anmerkungen
1) J. Habermas: Wahrheitstheorien (1972). In: Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handels. Frankfurt/M. 1984, S. 127-183. Im folgenden wird die Seitenzahl in Klammern angegeben. Zurück
2) Vgl. M. Horkheimer/Th.W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt/M. 1988; ferner Adorno: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche 1959-1969. Frankfurt/M. 1986. Zurück
3) Zu Gewalt, Angst und Vorurteil in der Kindersprache vgl. K. Brose: Wittgenstein als Sprachphilosoph und Pädagoge. Grundlagen zu einer Philosophie der Kindersprache. Frankfurt/New York 1987, S. 171-202. Zurück
4) Vgl. K. Jaspers: Kants „Zum ewigen Frieden“. In: Philosophie und Welt. Reden und Aufsätze (1949-1957). München 1963, S. 134. Zurück
5) Vgl M. Theunissen: Kritische Theorie der Gesellschaft. Zwei Studien. Berlin/NewYork² 1982. Zurück
Karl Brose ist apl. Professor an der Univ. Münster und unterrichtet Pädagogik und Philosophie.