W&F 2006/4

Friedensperspektiven für den Nahen Osten

von Heidemarie Wieczorek-Zeul

Für den Nahen Osten gilt die Erfahrung, die wir in der Entwicklungszusammenarbeit immer wieder machen: Ohne Frieden gibt es keine Entwicklung; aber ohne Entwicklung gibt es auch keinen Frieden. Wer wirklich Frieden für die Region will, muss die Probleme an ihren Wurzeln angehen. Die Probleme des Nahen Ostens können nicht durch Krieg gelöst werden, sondern nur im Rahmen eines politischen Prozesses. Das Existenzrecht Israels muss dauerhaft gesichert, der Libanon wiederaufgebaut, der faktisch brachliegende Aufbau in den Palästinensischen Gebieten muss mit neuem Schwung wieder in Gang gesetzt und ein eigenständiger Staat der Palästinenser endlich verwirklicht werden. Das alles sind wichtige Bausteine für ein politisches Gesamtkonzept, zu dessen Umsetzung die ersten Schritte bei der internationalen Konferenz für humanitäre Hilfe und Wiederaufbau im Libanon und in den palästinensischen Gebieten eingeleitet worden sind. In Stockholm hat die internationale Gebergemeinschaft für den Wiederaufbau des Libanon fast eine Milliarde US-Dollar zugesagt, für die Palästinensischen Gebiete rund 450 Millionen US-Dollar. Deutschland wird die Menschen im Libanon in diesem Jahr mit weiteren 22 Millionen Euro beim Wiederaufbau unterstützen und sich auch langfristig engagieren. Der Wiederaufbau im Libanon ist ein erster wichtiger Schritt , die zentrale Frage aber lautet: Was muss geschehen, damit solche Gewalt in Zukunft verhindert werden kann? Wie können wir die strukturellen Konfliktursachen beseitigen? Auch wenn sich die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf den Krieg im Libanon konzentriert hat, die eigentliche Konfliktkonstellation ist komplexer. Es gibt mindestens drei Konfliktebenen: Den Kernkonflikt zwischen Israel und Palästina, regionale Folgekonflikte zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn und die globale Dimension, die u.a. durch die Rolle des Iran mitbestimmt wird. Der Konflikt zwischen Israel und Palästina ist der gordische Knoten. Ohne zwei souveräne, einander anerkennende Staaten, Israel und Palästina, wird es keinen dauerhaften Frieden in der Region geben. Der auf die ganze Region ausstrahlende Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt im Konflikt zwischen Israel und Palästina muss aufgebrochen werden. Dazu brauchen wir:
  • Erstens, einen politischen Dialog, der die beiden Seiten nicht in Gute und Böse einteilt, sondern – wie es der israelische Schriftsteller Amos Oz einmal gesagt hat – sie als Beteiligte eines Konflikts sieht, indem jede Seite Rechte für sich reklamieren kann. Es muss ein Konzept entwickelt werden, das konkrete Aussagen zu den Konfliktpunkten macht: Grenzen, Jerusalem, Flüchtlinge, Status der Palästinenser in Israel u.a., ein Konzept das an der palästinensischen und israelischen Basis als Ausgleich der Interessen empfunden wird. Mein Vorschlag hierfür – weitsichtig noch von Willy Brandt Anfang der 1990er Jahre ins Gespräch gebracht und im 11-Punkte-Papier der SPD für den Nahen Osten aufgegriffen – ist die Schaffung eines »Mechanismus« nach dem Vorbild der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE).
Die europäische Erfahrung zeigt, dass es möglich ist Hass und Gewalt zu überwinden. Warum sollte das, was in Europa gelungen ist – wenn auch unter völlig anderen Bedingungen – nicht auch im Nahen Osten möglich sein? Auch dort will die große Mehrheit der Menschen Frieden. In einer Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit im Nahen Osten könnten Fragen der Sicherheitspolitik, der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und des menschlichen Zusammenlebens besprochen und dauerhaft geregelt werden.
  • Zweitens brauchen wir mehr Einsicht darin, dass Sicherheit eng mit erfolgreicher Entwicklung zusammenhängt. Ohne politische, wirtschaftliche und soziale Entwicklung kann es keinen dauerhaften Frieden im Nahen Osten geben. Die gesamte Region hat gewaltige strukturelle Probleme. In allen arabischen Ländern gibt es eine sehr junge Bevölkerung, die nach Bildung und Arbeitsplätzen, nach Zukunftschancen in Frieden verlangt und gleichzeitig eine sehr hohe Jugendarbeitslosigkeit, die mit Perspektivlosigkeit einhergeht. Es gibt Knappheit an Wasser und fruchtbarem Land. Die Situation verlangt gute Regierungsführung, Demokratie, Pluralismus und eine Verwirklichung der Menschen- und Frauenrechte. Die Wirtschaft braucht Dynamik, die nur im regionalen Kontext gelingen kann. Wenn die Menschen an politischer und wirtschaftlicher Entwicklung partizipieren und für sich Perspektiven entwickeln können, tragen sie Reformprozesse mit, lassen sie sich nicht so schnell radikalisieren und instrumentalisieren.
Wir brauchen deshalb eine vorwärts gerichtete Einbindung des Nahen Ostens in die Weltwirtschaft. Hier sind alle gefordert:
  • Europa mit einer Nachbarschaftspolitik und Assoziierungsabkommen;
  • die arabischen Staaten, indem sie ihre Öleinnahmen in die Entwicklung ihrer Länder und ihrer Region investieren,
  • Israel mit einen Beitrag zur nachhaltigen Überwindung der Gegensätze.
Zusätzlich braucht der Friedensprozess in Nahen Osten eine gestärkte Rolle der Vereinten Nationen. Die UN ist die Garantin für die Stärkung des Rechts, das an die Stelle des Rechts des Stärkeren treten muss. Nur die Vereinten Nationen haben auch die Legitimation, Gewalt mit militärischen Mitteln zu unterbinden. Und schließlich: Globale Friedenspolitik, wie wir sie im Rahmen der Entwicklungspolitik betreiben, beinhaltet, dass wir nicht alle Konflikte der Welt durch die Antiterrorbrille wahrnehmen. Das wird den Menschen in Konfliktregionen nicht gerecht. Demokratie lässt sich nicht durch Krieg verbreiten, sondern nur durch Kooperation und Dialog.

Heidemarie Wieczorek-Zeul ist SPD-MdB und Bundesentwicklungsministerin

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2006/4 Zivil-militärische Zusammenarbeit, Seite 5