W&F 1995/2

Friedenspolitik aus gewerkschaftlicher Sicht

Rückblick und Perspektive

von Dieter Schulte

„Zeitrechnung: Der 6. August 1945 war der Tag Null. Dieser Tag, an dem bewiesen wurde, daß die Weltgeschichte vielleicht nicht mehr weitergeht, daß wir jedenfalls fähig sind, den Faden der Weltgeschichte durchzuschneiden, der hat ein neues Zeitalter der Weltgeschichte eingeleitet. Ein neues Zeitalter, auch wenn dessen Wesen darin besteht, vielleicht keinen Bestand zu haben.“ Günther Anders, der zu Recht als »Philosoph des Atomzeitalters« bezeichnet wurde, hat diese Erkenntnis 1958 in seinem Tagebuch aus Hiroshima und Nagasaki festgehalten.

Unser wichtigstes Ziel: Die atomare Abrüstung

Heute, im 50. Jahr der atomaren Epoche, sind diese Worte so aktuell wie damals. Zwar hofften nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch des östlichen Blocksystems viele, ein neues Zeitalter des Friedens sei angebrochen, das die Epoche des Kalten Krieges und der Verschwendung ungeheurer Ressourcen in einem atemlosen Rüstungswettlauf ablöse. Schon bald zeigte sich jedoch, daß grundlegende Kriegsursachen fortbestehen, bis dahin unterdrückte Konflikte blutig eskalieren und daß die Staatenwelt nur sehr zögernd bereit ist, gewaltfreien Konfliktlösungsmechanismen ausreichende Unterstützung zu gewähren. Nach wie vor steht in Krisensituationen militärisches Denken im Vordergrund. Immer noch gibt es ca. 45.000 intakte Atomsprengköpfe auf der Welt.

Frieden kann auf der Basis von Atomwaffen nicht gedeihen. So wenig wie auf der Grundlage des atomaren Gleichgewichts des Schreckens zwischen Ost und West ein dauerhafter Friedenszustand möglich war, kann auch heute die Drohung mit möglicher atomarer Vernichtung langfristig Frieden schaffen. Eine auf atomare Abschreckung gegründete Rüstung verhindert wirkliches Vertrauen zwischen Staaten, denn Atomwaffen sind ihrer Natur nach Massenvernichtungswaffen.

Welche schreckliche Wirkung selbst ein begrenzter Einsatz von Atomwaffen hat, ist sogar heute noch an den Folgen der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki ablesbar. So weit wir heute wissen, starben in beiden Städten über 200.000 Menschen an den unmittelbaren Folgen der Bombardierung. Mehr als 100.000 weitere Japaner wie auch Koreaner, die von der japanischen Besatzungsmacht zur Zwangsarbeit nach Japan verschleppt worden waren, sind seither durch die Spätfolgen der Atombombe ums Leben gekommen. Die Überlebenden sind vielfach durch die Atombombe gezeichnet, denn die radioaktive Strahlung läßt ihre Opfer nicht mehr los. Viele Überlebende haben eine inzwischen fast fünfzigjährige Leidens- und Krankengeschichte hinter sich, nicht wenige leben in materieller Armut. Zu den Opfern der Atomrüstung gehörten darüber hinaus die Menschen, die durch Testversuche verseucht wurden und häufig noch nicht einmal eine Entschädigung erhalten haben.

Die Gewerkschaften in Deutschland haben sich immer dafür eingesetzt, daß Atomwaffen letztlich abgeschafft werden müssen. Wir begrüßen die Abrüstungsabkommen zwischen Rußland und den USA, von denen das START II-Abkommen allerdings noch der Ratifizierung bedarf. Doch selbst nach erfolgreicher Umsetzung dieser Abkommen werden die beiden atomaren Hauptmächte im Jahr 2003 zusammen noch ungefähr 10.000 Atomsprengköpfe besitzen. Dazu kommen die Arsenale der kleineren Atomwaffenstaaten, die ihr Atompotential modernisieren und teilweise erweitern.

So sehr die deutschen Gewerkschaften die unbefristete Verlängerung des atomaren Nichtverbreitungsvertrages begrüßen, die in diesem Frühjahr in New York beschlossen wurde, die Verhinderung der horizontalen Proliferation allein reicht nicht aus. Auf Dauer läßt sich keine Welt vorstellen, in der einige wenige Staaten das Monopol auf Atomwaffen besitzen. Die Atommächte sind daher aufgefordert, die in Artikel VI des Nichtverbreitungsvertrages eingegangene Verpflichtung, „in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen über wirksame Maßnahmen zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens in naher Zukunft und zur nuklearen Abrüstung“, endlich in die Tat umzusetzen.

Dazu gehört als erster Schritt ein vollständiger Verzicht auf alle Atomwaffenversuche, der schnellstmöglich vertraglich vereinbart werden muß. Die Ankündigung des neuen französischen Staatspräsidenten, sein Land werde im Herbst die Atomtests im Südpazifik wieder aufnehmen, ist ein Skandal. Wir fordern die französische Regierung dringend auf, den Willen der Völkergemeinschaft zu respektieren und von weiteren Atomtests Abstand zu nehmen.

Gewerkschaftliche Friedenspolitik: Kontinuität und Wandel

Der Deutsche Gewerkschaftsbund steht in einer Tradition, die in starkem Maße durch den Kampf gegen Faschismus und Militarismus geprägt ist. In Erinnerung an die Niederlage des Jahres 1933 und die Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges hat sich der DGB kritisch mit der Wiederbewaffnung der Bundesrepublik auseinandergesetzt. Zwar gab es in dieser Frage durchaus unterschiedliche Meinungen im DGB, doch eine deutliche Mehrheit stand einer Wiederbewaffnung Deutschlands ablehnend gegenüber. Der dritte DGB-Kongreß faßte dementsprechend 1952 einen Beschluß, in dem jeder deutsche Wehrbeitrag abgelehnt wurde. Der DGB kritisierte die Wehrgesetzgebung 1955, die Aufstellung der Bundeswehr und den Beitritt zur NATO.

Gegen die Absicht der Regierung Adenauer, die Bundeswehr mit Atomwaffen auszurüsten, protestierten die deutschen Gewerkschaften mit bundesweiten Aktionen.

Erinnern wir uns:

18 bekannte deutsche Atomwissenschaftler, unter ihnen der Entdecker der Kernspaltung, Otto Hahn, veröffentlichten im April 1957 das Göttinger Manifest, in der sie jede Mitwirkung an der Herstellung, dem Einsatz und der Erprobung von Atomwaffen verweigerten. Der IG Metall-Vorsitzende Otto Brenner und der DGB-Vorstand schlossen sich dieser Initiative an.

Im März 1958 appellierten 44 Wissenschaftler an die Gewerkschaften, mit ihnen gemeinsam eine Kampagne gegen den Atomtod zu initiieren.

Die Kampagne »Kampf dem Atomtod«, in der die Gewerkschaften eine tragende Rolle übernahmen, war geboren. Ostern 1958 und in den Wochen danach fanden zahlreiche Großkundgebungen statt und auch die 1.500 Maikundgebungen standen im Zeichen des Kampfes gegen den Atomtod. Dem Ruf nach Arbeitsniederlegungen und gar einem Generalstreik folgte der DGB-Vorstand allerdings nicht.

Erst in den sechziger Jahren fanden Gewerkschaften und Bundeswehr zu wechselseitiger Akzeptanz und einem geregelten Miteinander. Der Deutsche Gewerkschaftsbund akzeptierte die Rolle der Bundeswehr in der militärischen Landesverteidigung und bezeugte den Soldaten Respekt für ihren Dienst.

Seminare und Diskussionsveranstaltungen vertieften den Dialog zwischen den Streitkräften und Gewerkschaften; Vorurteile auf beiden Seiten wurden überwunden.

Der DGB wollte damit das Leitbild des Staatsbürgers in Uniform unterstützen und Tendenzen einer Berufsarmee oder der Verherrlichung militaristischer Traditionen entgegenwirken.

Gleichzeitig verteidigte er das grundgesetzlich geschützte Recht auf Kriegsdienstverweigerung und unterstützte diejenigen, die dieses Recht in Anspruch nehmen und vielfach einen gesellschaftlich nützlichen Sozialdienst leisten wollten.

Gewerkschaften und Friedensbewegung

Die Ost- und Entspannungspolitik der sozialliberalen Koalition war vom DGB begrüßt und unterstützt worden. Mit dem wesentlich von Bundeskanzler Helmut Schmidt betriebenen NATO-Doppelbeschluß vom Dezember 1979, in dem der UdSSR die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen in der Bundesrepublik Deutschland und einigen anderen westeuropäischen Ländern für den Fall angedroht wurde, daß sie ihre Mittelstreckenraketen vom Typ SS-20 nicht abrüste, schien neben vielen kritischen Bürgerinnen und Bürgern auch vielen Gewerkschaftern die Friedens- und Entspannungspolitik gefährdet.

Wie die Gesellschaft stellte der Streit um den NATO-Doppelbeschluß auch die Gewerkschaften vor eine Zerreißprobe; an der ersten Großdemonstration der neu entstandenen Friedensbewegung am 10. Oktober 1981 im Bonner Hofgarten nahmen trotz eines gegenteiligen Votums des DGB-Vorstandes Tausende Gewerkschafter unter den Fahnen ihrer Organisation teil.

Das Verhältnis des DGB zur Friedensbewegung entspannte sich, als Ostern 1982 die DGB-Jugend ihre Teilnahme an den traditionellen Ostermärschen der Friedensbewegung mit einem Solidaritätskonzert für die im Dezember 1981 in Polen unter Kriegsrecht verbotene unabhängige Gewerkschaft Solidarnosc verband und sich somit von den an der Linie der sowjetischen Außenpolitik orientierten Kräften in der Friedensbewegung im Umfeld der Deutschen Kommunistischen Partei abgrenzte.

Den von diesen Kräften 1982 initiierten Krefelder Appell trug der DGB nicht mit. Statt dessen organisierte er im März 1983 eine eigene friedenspolitische Konferenz in Köln, die mit bundesweiten fünf Mahnminuten für den Frieden verbunden waren, während derer fast überall in der Bundesrepublik die Arbeit ruhte.

1983 wurden dann erstmals Kooperationsgespräche zwischen dem DGB und den im Koordinationsausschuß der Friedensbewegung vertretenen Organisationen geführt. An der größten Kundgebung der Friedensbewegung im Juni 1983 in Bonn war der Deutsche Gewerkschaftsbund offiziell beteiligt; die DGB-Jugend setzte sich im Mai 1985 im Rahmen einer Friedensfahrradstafette für eine atomwaffenfreie Zone in beiden deutschen Staaten ein.

Als die Friedensbewegung mit der Wiederbelebung der internationalen Abrüstungspolitik nach dem Amtsantritt des Reformers Michael Gorbatschow als Generalsekretär der KPdSU an Schwung verlor, ließ das friedenspolitische Engagement der Gewerkschaften nach. Die soziale Gestaltung der deutschen Einheit band alle Kräfte.

Von der Abschreckungslogik zum mehrdimensionalen Friedensbegriff

Die breite friedens- und sicherheitspolitische Diskussion der frühen achtziger Jahre hat auch in den Gewerkschaften dauerhafte Spuren hinterlassen. Sie hat zu einem umfassenderen Verständnis von Sicherheit und Frieden geführt, das sich in den Beschlüssen der letzten DGB-Bundeskongresse 1986, 1990 und 1994 deutlich widerspiegelt.

Unser friedenspolitisches Verständnis basiert nicht mehr auf Geist und Logik des Abschreckungsprinzips. Der DGB nahm das von der Palme-Kommission entwickelte Konzept der Gemeinsamen Sicherheit auf und spricht sich für eine defensive Umrüstung von Bundeswehr und NATO als Schritte auf dem Weg zur allgemeinen Abrüstung aus. Beides sind übrigens Gedanken, die auch angesichts der weltpolitischen Veränderung nach dem Zusammenbruch des östlichen Paktsystems weiterhin Gültigkeit haben, wenn sie von der Konzentration auf den Ost-West-Gegensatz befreit und um den Beitrag der gesellschaftlichen Organisationen ergänzt werden.

Wir gehen heute von einem umfassenden Friedens- und Sicherheitsbegriff aus, der die wesentlichen Gefährdungen unseres Landes wie der gesamten Menschheit weniger in militärischen Bedrohungen sieht als vielmehr in erster Linie in der globalen Krise der Umwelt sowie der weiter wachsenden Kluft zwischen reichen und armen Ländern und der Verletzung elementarer Menschenrechte in weiten Teilen der Erde.

Mit militärischer Gewalt kann diesen Bedrohungen kaum begegnet werden. Gefordert ist vielmehr eine Friedenspolitik, die sich über die Verhinderung von Kriegen hinaus aktiv für den Schutz der globalen Umwelt, die Schaffung sozialer Gerechtigkeit und Sicherheit sowie für die Wahrung der Menschenrechte einsetzt.

Daß Sicherheit nicht ausschließlich militärisch zu definieren ist, sondern einen mehrdimensionalen Charakter hat, ist zum politischen Allgemeingut geworden. Übereinstimmung besteht weitgehend auch über die globalen Risiken, also Risiken, die das Überleben, die Sicherheit und die Lebensqualität großer Teile der Menschheit, wenn nicht sogar der Menschheit insgesamt betreffen: Umwelt- und Ressourcenraubbau, Bevölkerungswachstum, Migration und Proliferation, insbesondere von Massenvernichtungswaffen.

Einig ist man sich schließlich auch darüber, daß Sicherheit nicht mehr national gewährleistet werden kann, sondern nur noch auf der Grundlage internationaler Kooperation.

Im Ausbau und der Verzahnung weltweiter Bemühungen um Konfliktvermeidung und Abrüstung im Rahmen der UN und regionaler Sicherheitssysteme wie der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa), der Schaffung gerechter weltwirtschaftlicher Austauschbeziehungen in der WTO (World Trade Organisation) u.a. durch die Vereinbarung von Klauseln gegen das Sozial- und Ökodumping, der internationalen Arbeits- und Sozialpolitik in der ILO (International Labour Organisation) mit der Politik von Weltbank und IWF (Internationaler Währungsfonds) könnte der Hebel für eine präventive globale Friedenspolitik sein.

Die Diskussion um die »deutsche Sonderrolle«

Nach den Schrecken des von Hitler-Deutschland ausgelösten Zweiten Weltkrieges wollten unsere westlichen wie östlichen Nachbarn ein entmilitarisiertes und friedliches Deutschland. Die Remilitarisierung der beiden deutschen Staaten vollzog sich in strikter Einbindung und unter Kontrolle der jeweiligen Bündnissysteme und ihrer Führungsmächte.

Die in der deutschen Bevölkerung weitverbreitete Ablehnung einer militärisch abgestützten Außenpolitik wurde von unseren Bündnispartnern einst selbst gewollt und hat wesentlich zur Festigung des Vertrauens in die »Zivilmacht« Bundesrepublik Deutschland beigetragen.

Heute wird – im Inland wie im Ausland – die gewachsene Verantwortung des vereinten Deutschlands beschworen, wenn eine stärkere deutsche Beteiligung an internationalen Militäreinsätzen angemahnt wird. In der Tat läßt sich nicht leugnen, daß sich der Handlungsspielraum der Bundesrepublik Deutschland seit 1989 erheblich erweitert hat und daß unser Land von daher eine größere weltpolitische Verantwortung trägt.

Die außen- und sicherheitspolitische Lage Deutschlands hat sich mit dem Zusammenbruch des östlichen Blocksystems und der Wiedervereinigung dramatisch geändert. Militärisch sieht sich Deutschland auf absehbare Zeit keinerlei Bedrohung ausgesetzt; es ist im Gegenteil von Freunden umzingelt.

Dem Militär kommt dennoch nach wie vor auch in dieser Situation die klassische Schutzfunktion zu, der Rückversicherung für den unwahrscheinlichen, wenn auch nicht unmöglichen Fall einer Bedrohung durch eine militärische Aggression.

Irritierend ist es jedoch, wenn sich die sicherheitspolitische Diskussion in Deutschland fast ausschließlich auf Fragen wie die Osterweiterung der NATO oder die künftige Rolle der Bundeswehr und ihres Einsatzes außerhalb von NATO-Verpflichtungen konzentriert.

Gleichzeitig ist eine verhängnisvolle Tendenz zu beobachten, das verlorengegangene Feindbild des östlichen Kommunismus durch neue Feindbilder wie den islamischen Fundamentalismus oder »Die Serben« zu ersetzen. Eine kritische Auseinandersetzung und eine klare Position gegen religiöse Intoleranz, nationalistische Verblendung und Menschenrechtsverletzungen sind ebenso geboten, wie das Bemühen, das alte Denken in Feindbildern zu überwinden.

Von der oft zitierten Friedensdividende ist keine Rede mehr. Wo Abrüstung auf der Tagesordnung stehen müßte, sind wir statt dessen Zeugen einer Umrüstung, die gerade nicht auf eine strikte Defensivstruktur abzielt, sondern im Gegenteil offensive Qualitäten verstärkt. Auch die Bundeswehr beschreitet mit der Aufstellung sogenannter Krisenreaktionskräfte und ihrer Rüstungsplanung diesen Weg. Ein Monstrum wie das europäische Jagdflugzeug Eurofighter paßt nicht mehr in die sicherheitspolitische Landschaft.

Die Bundesrepublik muß ein verläßlicher Partner des Westens bleiben, der sich in der Stunde der Not seinen Bündnispflichten nicht entzieht und neue friedenspolitische Verantwortung übernimmt.

Nirgendwo steht jedoch geschrieben, daß Verantwortung nur wie Militär buchstabiert werden muß. Da auch die Befürworter internationaler Militäroperationen einräumen, daß damit Konflikte nicht zu lösen sind, bedeutet die Wahrnehmung der gestiegenen Verantwortung Deutschlands vielmehr in erster Linie, einen größeren Beitrag zur zivilen Konfliktvorbeugung und -bearbeitung zu leisten.

Es gibt aus Sicht der Gewerkschaften kein deutsches Interesse, das mit militärischen Mitteln durchgesetzt werden muß oder darf. Der Einsatz von Militär – das gilt auch für militärische Operationen der UN – ist angesichts der unbestrittenen Erkenntnis, daß Konflikte mit militärischen Mitteln bestenfalls eingedämmt, nicht aber gelöst werden können, letztlich immer ein Zeichen der Hilflosigkeit.

In einem solchen Fall ist ein Konflikt blutig eskaliert und hat es die internationale Staatengemeinschaft versäumt, rechtzeitig Konfliktprävention zu betreiben bzw. friedliche Mechanismen zur Beilegung der zugrundeliegenden Streitigkeiten zur Verfügung zu stellen. Die Alternative zu Militäreinsätzen ist daher eine präventive Friedenspolitik, die sowohl die Ursachen für kriegerische Konflikte zu beseitigen versucht wie auch ein ausgefeiltes Instrumentarium friedlicher Konfliktlösung bereitstellt.

Das vereinte Deutschland wird seiner gewachsenen Verantwortung am besten dadurch gerecht, daß es im Konzert der Mächte beharrlich vor allem den Ausbau ziviler Konfliktbearbeitung verficht und entsprechende finanzielle Mittel bereitstellt.

Neue Instrumente friedlicher Konfliktvermittlung

Auch wenn die Hilflosigkeit der UN im Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien als Menetekel eines vorläufigen Scheiterns friedlicher Konfliktvermittlung unübersehbar ist, so sind viele der Instrumentarien der Konflikteindämmung und -vermittlung – von Lösung will ich nicht sprechen –, die entwickelt und eingesetzt wurden, es wert, ausgebaut zu werden.

Zum erstenmal seit den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen wurde ein internationaler Gerichtshof gebildet, der demnächst über den ersten Angeklagten zu urteilen hat. Wer Menschenrechte mit Füßen tritt, muß wissen, daß er nicht ungeschoren davon kommt. Hier kann Abschreckung vorbeugen!

Zudem wurde mit den Kriegsverbrechertribunalen der bis dahin strikt beachtete Grundsatz der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates zu Gunsten der Wahrung der grundlegenden Menschenrechte durchbrochen.

Wenn drohende Bürgerkriege und Massaker künftig vermieden werden sollen, dann muß die internationale Staatengemeinschaft auf diesem Weg fortschreiten.

Der Einsatz der Blauhelme hat den Krieg nicht beenden können, weil die entscheidende Voraussetzung dafür fehlt: das Einverständnis aller Konfliktparteien. Darum muß über Voraussetzungen, Ziele, Strategie und Ausrüstung neu nachgedacht werden.

Aber die grundlegende Voraussetzung muß als erstes erfüllt sein: Die finanzielle Basis der UN muß gesichert werden. Die UN brauchen eine wirkungsvollere Exekutive.

Die Bildung von Schutzzonen hat der bedrängten Bevölkerung nur eine Atempause verschafft, aber ohne sie wären die ethnischen Säuberungen noch schrecklicher geworden. Wenn Schutzzonen nicht ausreichen, muß über neue Formen zum Schutz der Zivilbevölkerung nachgedacht, müssen neue Wege entwickelt werden, um Kampfverbände und Bevölkerung zu trennen.

Waffenstillstandsvereinbarungen wurden immer wieder gebrochen und zur Aufrüstung mißbraucht, aber sie haben Tausenden das Leben gerettet. Darum kann die Konsequenz nur sein, wirkungsvollere Methoden zur Überwachung solcher Vereinbarungen zu finden und mit differenzierteren Sanktionen auf ihre Verletzung zu reagieren

Die zahllosen Vermittlungsmissionen haben bisher zu keinem Erfolg geführt, aber sie haben – so furchtbar dies klingen mag – diesen Konflikt »beherrschbar« gemacht und verhindert, daß aus dem Balkan ein regionaler oder gar ein europäischer Krieg wird. Die UN, die EU und Rußland kooperieren im gemeinsamen Willen, eine friedliche Lösung zu finden.

Multinationale Vermittlungsmissionen, durch die jede Konfliktpartei ihre Interessen berücksichtigt sieht, bedürfen sorgfältiger Vorbereitung, sachkundiger und geschickter Vermittler, sie brauchen den Rückhalt kollektiver Sicherheitstrukturen. Dies fällt nicht vom Himmel.

Die Vermittlungsmissionen der OSZE in den GUS Staaten sind wenig spektakulär, aber sie haben Konflikte eindämmen können. Der Krieg ist nach Europa und an seine östlichen Anrainergebiete zurückgekehrt. Mit der OSZE haben die Europäer eine Struktur, die dieser Bedrohung begegnen kann, wenn sie ausgebaut und zu wirkungsvollem Handeln befähigt wird.

Die Hilflosigkeit friedlicher Konfliktlösung hat ihre Ursache darin, daß sie zu spät begonnen wurde. Kaum jemand – bis auf wenige Experten – hat ahnen können, welches Pulverfaß der sozialistische Vielvölkerstaat gewesen ist.

Nach dem Ende der Blockkonfrontation gibt es erst recht keine einfachen Erklärungs- und Reaktionsmuster für die zahlreichen Konflikte in dieser Welt.

Die wirtschaftlichen, sozialen, ökologischen, ethnischen und politischen Konfliktpotentiale sind so vielfältig, daß verspätetes, aber auch voreiliges, von Unkenntnis, Halbwissen oder Vorverurteilungen geleitetes Handeln meist erst die Lunte ans Pulverfaß legt. Friedens- und Konfliktforschung, die von der Politik – und nicht nur von ihr – ernst genommen und mit politischem Handeln verknüpft wird, ist gerade nach Ende des Kalten Krieges notwendiger denn je.

Militärische Lösungen scheinen auf den ersten Blick erfolgversprechender zu sein. Wer von uns würde nicht angesichts der Bilder aus Bosnien nach dem Entscheidungsschlag der Völkergemeinschaft rufen? Aber zeigt nicht Somalia, wie wenig wirkungsvoll ein solcher Schlag selbst in einem Land ist, wo die Bürgerkriegsparteien weit weniger bewaffnet sind als in Bosnien?

Friedensmissionen der UN, und das heißt in Verantwortung und unter dem Kommando der UN, bleiben notwendig, aber sie werden nur dann Erfolg haben, wenn sie in eine umfassende Strategie der Konfliktlösung eingebunden sind.

Friedenssicherung braucht oft einen langen Atem. Konfliktursachen lassen sich oft erst in Jahrzehnten abbauen.

Der Beitrag der Gewerkschaften

Frieden kostet Geld – nicht nur für die Forschung und die internationalen Institutionen. Errungener Frieden muß konsolidiert werden:

Das derzeit größte Problem für den noch so jungen Frieden in Nahost ist die Stabilisierung der Palästinensischen Autonomiebehörde. Bei meinem Besuch in Israel und in Gaza und Jericho im vergangenen Jahr wurde mir dies von Jassir Arafat wie von Shimon Perez und meinen Kollegen der Histdrut ans Herz gelegt: Die Europäer – von der EU, den Regierungen bis zu Unternehmern und Gewerkschaften – müssen sich mit Geld und Projekten engagieren, um die Arbeitslosigkeit zu überwinden, den Menschen, die nur das Elend der Flüchtlingslager kennen, zu zeigen, daß Frieden ihnen persönlich hilft.

Der Frieden in Nahost aber ist auch Beispiel dafür, was nichtstaatliche Organisationen für den Frieden tun können:

Norwegische Soziologinnen und Soziologen haben den ersten Schritt getan, um Israelis und Palästinenser ins Gespräch zu bringen. Ihr Außenminister hat diese Initiative weitergeführt und ein Wunder vollbracht, an das niemand mehr geglaubt hat.

Mit Mut und wenig spektakulär können viele Menschen gute Dienste für den Frieden leisten, wenn Staatsmänner am Ende ihres Lateins zu sein scheinen.

Wir Deutschen sollten nicht vergessen, daß die Friedens- und Entspannungspolitik durch viele kleine Schritte vorbereitet und begleitet wurde. Von Unternehmern wie Berthold Beitz, Gewerkschaftern wie Heinz Oskar Vetter oder Betriebsräten aus dem Ruhrgebiet.

Der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) hat sich bemüht, serbische, kroatische und bosnische Gewerkschafter an einen Tisch zu bringen.

EGB und DGB unterstützen Hans Koschnik mit einem Telekommunikationsprojekt in beiden Teilen Mostars.

Unsere internationale Gewerkschaftsorganisation, der Internationale Bund Freier Gewerkschaften, entstand im Kalten Krieg. Das hat ihn geprägt. Jetzt hat er die Chance, seine Kompetenz in globalen wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen für die Vermeidung regionaler Konflikte einzubringen.

Unser Beitrag liegt neben der Beteiligung an guten Projekten und Diensten für den Frieden in Krisenherden auf drei Feldern:

1. Wir wollen weiterhin daran im Rahmen unserer Möglichkeiten mitwirken, daß die Bundeswehr eine Bürgerarmee im multinationalen Rahmen bleibt und das Recht auf Kriegsdienstverweigerung geachtet wird.

2. Unsere Initiativen für eine soziale und ökologische Modernisierung des Industriestandortes Deutschland müssen Anstrengungen zu Rüstungskonversion einschließen. Es ist kein Ausdruck wirtschaftlicher Vernunft und politischer Verantwortung, wenn Deutschland im letzten Jahr den zweiten Platz auf der Weltrangliste der Waffenexporteure eingenommen hat. Aus den Unternehmen, die Waffen herstellen, haben sich Betriebsräte und ihre Gewerkschaften mit Vorschlägen zu Wort gemeldet, um alternative Produkte herzustellen, weil sie erkannt haben, daß Rüstung auf Dauer keine Konjunktur hat.

Praktisch bedeutet Rüstungskonversion:

  • Umlenkung finanzieller Ressourcen in den Unternehmen aber auch des Staates auf neue produktive Aktivitäten;
  • Umorientierung der militärischen Forschung und Entwicklung vor allem auf ökologische Projekte;
  • Neuorientierung der Aktivitäten der betreffenden Industrieunternehmen;
  • sichere soziale Perspektiven für demobilisierte Soldaten und Zivilbeschäftigte; gerade unsere Gewerkschaften haben sich in den letzten Jahren bei der Verringerung der deutschen Streitkräfte darum bemüht;
  • durch vorausschauende Standortkonversion können damit gerade in wirtschaftlich schwach strukturierten Regionen neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Hieran hat es in der Vergangenheit gemangelt;
  • die Entsorgung der überschüssigen Waffen durch ihre Vernichtung im eigenen Land. Der Export ist die kontraproduktivste und politisch risikoreichste Form der Entsorgung.

3. Wir sollten darüber nachdenken und öffentlich diskutieren, welchen Beitrag eine ungehemmte globale Konkurrenz um Märkte, Rohstoffe und Ressourcen – kurz um die Reichtümer dieser Erde zur Entstehung von Konflikten beiträgt. Wettbewerbsfähigkeit in diesem Konkurrenzkampf ist eine – nicht die einzige Voraussetzung für Wachstum und Arbeit in den Industrieländern – auch bei uns.

Aber auf Dauer kann nur ein ressourcenschonendes, sozialverträgliches Wachstum Arbeitsplätze, Umwelt und Lebensqualität sichern. Darum brauchen wir auch neue Strategien für ein Wettbewerbsmodell, daß die ökonomische, soziale wie ökologische Entwicklung anderer Regionen dieser Welt befördert, so wie dies auf dem Umweltgipfel in Rio oder dem Weltsozialgipfel in Kopenhagen formuliert wurde.

Wie dieses globale Umsteuern bei uns konkret begonnen werden kann, wird in der Debatte um eine politische Neuorientierung, um ein neues Programm des DGB zu erörtern sein.

Dieses Programm soll uns ins 21. Jahrhundert führen. Die großen Herausforderungen wie die kleinen Aufgaben der Gewerkschaften, der gesellschaftlichen Gruppen unseres Landes wie der internationalen Staatengemeinschaft sind relativ ausführlich diskutiert und oftmals schriftlich fixiert worden: die Bekämpfung des Hungers, der Armut, der Arbeitslosigkeit, die Sicherung von Demokratie und Menschenrechten, das ökologische Umsteuern.

Hiroshima und Nagasaki mahnen uns, sie unter einem Leitmotiv zu bearbeiten: Für den Frieden zu arbeiten – denn wir leben immer noch am Abgrund der atomaren Vernichtung – das sollten wir nie vergessen.

Dieter Schulte ist Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1995/2 Hiroschima und Nagasaki, Seite