W&F 2003/4

Friedliche Stimme der Vernunft?

Nachtrag zu Stellungnahmen christlicher Kirchen zum Irak-Konflikt

von Albert Fuchs

Im W&F-Dossier Nr. 43 (Beilage zur Ausgabe 2-2003) hat der Theologe Thomas Nauerth eine erste Analyse von repräsentativen Stellungnahmen christlicher Kirchen zum Irak-Konflikt vorgelegt. Sie wird im Folgenden von unserem Redaktionskollegen Albert Fuchs kritisch ergänzt. Nauerth diagnostizierte aufseiten der Kirchenleitungen zwar nicht einen friedensethischen Paradigmenwechsel aus Anlass des »angekündigten Krieges«, aber doch eine Akzentverschiebung in Richtung einer insgesamt kriegskritischeren Haltung. Fuchs hält diese Sicht der Dinge im Interesse einer realistischen Einschätzung des friedenspolitischen Potenzials der Kirchen für ergänzungsbedürftig um die Herausarbeitung deutlicher Defizite der kirchlichen Positionierungen – so dass allenfalls »das Glas halb voll« erscheinen kann.
In seiner Analyse repräsentativer kirchenoffizieller Stellungnahmen zu dem offen betriebenen und konkret vorbereiteten Irakkrieg kommt der Theologe Nauerth (2003) zu einer Einschätzung, die sich etwa in folgenden Punkten zusammenfassen lässt:1

  • Historisch erstmalig nahmen christliche Kirchen jeglicher Denomination weltweit negativ Stellung zu einem Krieg, bevor dieser begonnen hatte (S. 2).
  • Sie gelangten zu diesem eindeutigen Urteil ohne Veränderung der Lehrbasis, im Rahmen ihrer (differierenden) traditionellen Lehre zu Krieg und Frieden und z.T. mit explizitem Bezug darauf (S. 2f.).
  • Aus der Sicht der Kirchenleitungen war und ist ihr Widerspruch eine notwendige Reaktion auf eine gravierende Veränderung der politischen Realität – auf die in der Idee des »Präventivkriegs« kulminierende Tendenz, um bestimmter politischer Zwecke willen (Abrüstung, Regimewechsel, Rohstoffsicherung…) Krieg als Mittel in Erwägung zu ziehen bzw. zu planen und konkret vorzubereiten (S. 3).
  • Als normativer Bezugsrahmen dienten nicht in erster Linie spezifisch biblisch-theologische Konzeptionen; er bestand vorrangig einerseits in den einschlägigen völkerrechtlichen Prinzipien und andererseits in der politischen Leitidee der Kriegsprävention durch Solidarität und Gerechtigkeit; gerade damit wurden die Vertreter des Glaubens zur »Stimme der Vernunft« (S. 3f.).
  • Bemerkenswert war ein starkes Bemühen bei allen Kirchen um Vernetzung untereinander – um zu vermeiden, dass man sie gegeneinander ausspielte, und um ihre globalen Interessen als »Weltkonzern« Kirche(n)/Christenheit – gegenüber staatlichen Akteuren – zu wahren (S. 4f.).
  • Neu, jedenfalls in dieser Breite bisher nicht zu beobachten, waren die Beharrlichkeit, der Mut zur Kontroverse und die innere Geschlossenheit, mit denen die Kirchen ihr Nein in die Öffentlichkeit trugen (S. 5f.).
  • Zu diesem Mut kam eine beachtliche politische Geschicklichkeit; im Besonderen scheinen die Verantwortlichen der Kirchen die Möglichkeiten der Kriegsprävention erkannt zu haben, die darin liegen, dass für Demokratien eine Rückgewinnung des Krieges als politisches Instrument nur über eine massive Beeinflussung der öffentlichen Meinung zu erreichen ist (S. 6).

Alles in allem sieht Nauerth die Kirchenleitungen „in einem eminent wichtigen Lernprozess“ und hält es für möglich, dass sich „die Haltung, aus der heraus bisher Friedensethik entworfen wurde“ ändert, so dass „der andere, jesuanische, Weg in der Politik Wirkung entfalten kann“ (S. 8).

Alle Punkte belegt der Autor recht überzeugend anhand der (ausgewählten) Stellungnahmen und einschlägiger Aktivitäten der Kirchenleitungen, ohne sich in Einzelexegesen zu verlieren. Demnach soll und kann es im Folgenden nicht darum gehen, seine Analyse als solche zu problematisieren. Vielmehr sollen auf vergleichbarem Niveau und unter Beschränkung auf die a.a.O. dokumentierten Erklärungen einige Defizite der kirchlichen Positionierung(en) herausgearbeitet werden.

Politisch-praktische Dürftigkeit

Alle Erklärungen weisen, wie auch Nauerth bereits klarstellt (S. 7), ein starkes Defizit im Bereich der »Praxis« auf. Soweit die eigene Gefolgschaft überhaupt als potenzieller friedenspolitischer Akteur in den Blick kommt, wird fast ausschließlich Gebet als Handlungsform angeregt. Lediglich in der Gemeinsamen Erklärung der United Church of Christ und der Kirchenprovinz Sachsen wird dazu aufgefordert, „Sorgen und Protest in der Öffentlichkeit“ nicht zu verschweigen und die „Möglichkeiten unserer weltweiten ökumenischen Kontakte zur Werbung für den Frieden“ zu nutzen (Text 4, S. 12). Erst recht zieht keine Erklärung konkrete Widerstandshandlungen gegen die Kriegsvorbereitungen oder zivilen Ungehorsam in Betracht.

Diese »pietistische« Selbst-Bescheidung steht in auffälligem Gegensatz zu der vorherrschenden »rationalen« politisch-rechtlichen Argumentation der Bischöfe und Kirchenführer. Mögen sie auch „an die Kraft des Gebetes, das fähig ist, Berge zu versetzen“ glauben (Präsidium der Schweizer Bischofskonferenz, Text 6, S. 13) und mag das Gebet für den Frieden inzwischen auch „zum öffentlichen Ausdruck des Protests“ geworden sein (Nauerth, 2003, S. 7), so wird man den gebetsweisen Sprung in »die andere Wirklichkeit« doch kaum für ein rationales politisches Handeln im instrumentellen Sinne halten. Nauerth (2003) erwägt verschiedene plausible Ursachen und – zum Teil – ehrenwerte (doktrinäre) Gründe für die merkwürdige Abstinenz in politisch-praktischer Hinsicht. Das sollte aber nicht darüber hinwegsehen lassen, dass es zwischen Gebet und Widerstand viele Übergänge und vor allem eine Handlungsform gibt, deren Befürwortung »in der Logik der Sache« gelegen hätte. Gemeint ist die »bedingte Militärdienstverweigerung«. Denn wenn ein ganz bestimmter, von demokratischen Regierungen betriebener Krieg politisch-moralisch objektiv verwerflich ist, wie im konkreten Fall von den Kirchenleitungen behauptet, müsste man sich konsequenterweise doch auch dafür einsetzen, dass die Bürger und Bürgerinnen Kriegsunterstützung und Kriegsbeteiligung ganz legal unter Berufung auf ihr Gewissen verweigern können, auch wenn sie die Androhung und Anwendung von militärischer Gewalt nicht prinzipiell und ausnahmslos für ethisch verwerflich halten, also keine »prinzipiellen« Pazifisten sind.

Staats- und Regierungsnähe

Wenn die Kirchenleitungen aus gegebenem Anlass das Thema bedingte Militärdienstverweigerung auf die Tagesordnung gestellt oder wenigstens zu stellen verlangt hätten, wären institutionelle kirchliche Interessen kaum (unmittelbar) gefährdet gewesen; noch weniger hätte man doktrinäre Skrupel zu haben brauchen wegen eines legalistischen Verständnisses des Evangeliums oder wegen der Aufforderung zu Handlungen, deren unmittelbare Folgen andere zu tragen gehabt hätten. Damit hätte man allerdings die »staatstragende« Doktrin in Frage gestellt, die besagt, dass als Kriegsdienstverweigerer nur anerkannt werden kann, wer sich „aus Gewissensgründen der Beteiligung an jeder Waffenanwendung zwischen den Staaten widersetzt“ – wie es im deutschen Kriegsdienstverweigerungsgesetz heißt (§ 1 Satz 1; vgl. Bundesverfassungsgericht, 1962). Praktisch erkennt kein Staat eine situationsbedingte oder partielle Militärdienstverweigerung gesetzlich an2 – obwohl eine Unterkommission der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen bereits in den 1980er Jahren weit in diese Richtung gehende Empfehlungen gab (vgl. Eide, 1986). Eine entsprechende Positionierung hätte demnach eine Emanzipation von Staat und Staatsräson im Dienste des Friedens bedeutet, wie sie das (groß-)kirchliche Staats- und Kirchenverständnis offensichtlich (noch) nicht zulassen.

Im Umfeld der kirchlichen Erklärungen zum Irak-Konflikt sind durchaus direktere Hinweise auf die anhaltend hemmende Staats- und Regierungsnähe der Kirchen zu finden. Sie sind meist aber insofern ambivalent, als sie mit Nauerth (2003) auch als Ausdruck der „neuen politischen Geschicklichkeit“ (S. 6) verstanden werden können. Ein aufschlussreiches Beispiel ist der Auftritt der auf Initiative des Ökumenischen Rates der Kirchen zusammengekommenen protestantischen und orthodoxen Kirchenführer mit Bundeskanzler Schröder in Berlin am 5. Februar 2003. Mit diesem Schulterschluss wurde zweifelsohne dokumentiert, dass „der deutsche Regierungschef erkennbar nicht isoliert“ (ebd.) war. Andererseits begab man sich damit der Möglichkeit, die fragwürdige Doppelrolle der deutschen Bundesregierung im Zusammenhang des Irak-Konflikts zu problematisieren. Denn während sich die Bundesregierung vor der eigenen überwiegend kriegskritischen Bevölkerung und auf der internationalen Bühne einen wesentlichen Anteil daran zuschreiben konnte, dass die Mehrheit der Sicherheitsrats-Mitglieder dem Druck der US-Regierung nicht nachgab, wurde hinter den Kulissen der Krieg nicht zuletzt von Deutschland aus vorbereitet und von Deutschland unterstützt: Über die Flugplätze Frankfurt, Ramstein und Spangdahlem wurden Kriegsmaterial und Truppen an den Golf verlegt; Häfen und Bahnhöfe dienten als Zwischenstationen für die amerikanisch-britische Reise in den Krieg; die Bundeswehr übernahm den Schutz von US-Militäreinrichtungen und von der Kommandozentrale der US-Armee in Stuttgart (EUCOM) wurde der Nachschub für die Kriegführung koordiniert (vgl. Pflüger, 2003). Nach Art. 3f der Resolution der UN-Generalversammlung von 1974 zur Präzisierung des völkerrechtlichen Aggressionsbegriffs aber handelt nicht nur ein Aggressorstaat völkerrechtswidrig, sondern jeder Staat, der es auch nur duldet, „dass sein Hoheitsgebiet, das er einem anderen Staat zur Verfügung gestellt hat, von diesem anderen Staat dazu benützt wird, eine Angriffshandlung gegen einen dritten Staat zu begehen“ (zit. nach Deiseroth, 2003, S. 17). All dies scheint den Kirchenleitungen entgangen zu sein.

Perspektivenbeschränkung

Einen Sonderfall der problematischen Staats- und Regierungsnähe kann man darin sehen, dass eine biblisch-theologische Perspektive in den vorliegenden Stellungnahmen, wenn sich überhaupt Hinweise darauf finden, eher beiläufig und in keiner Weise argumentativ integriert zur Sprache kommt. So bringt beispielsweise die Evangelisch-methodistische Kirche in Deutschland einfach die „tiefe Überzeugung“ zum Ausdruck, „dass Krieg mit Lehre und Beispiel Christi unvereinbar“ sei und dass im Besonderen „der Weg, den Präsident Bush einschlägt, den Worten Jesu entgegengesetzt ist“ (Text 7, S. 10). Oder Papst Johannes Paul II. gibt gegen Ende seiner Ansprache zu bedenken: „Für einen Glaubenden kommen zu diesen Motivationen (d.h. den relativ ausführlich vorgetragenen politisch-rechtlichen – A.F.) natürlich noch jene hinzu, die ihm der Glaube an Gott als Schöpfer und Vater aller Menschen eingibt…“ (Text 3, S. 11).

Nach Nauerth (2003) ist diese theologische Zurückhaltung vor allem dem Versuch geschuldet, „Gehör in einer immer stärker säkularisierten Öffentlichkeit zu finden“ (S. 4). Mag sein. Die zentrale politisch-rechtliche Argumentation orientiert sich allerdings »rechtspositivistisch« an der UN-Charta oder »naturrechtlich« mehr oder weniger explizit an (den) traditionellen Kriterien der bellum-iustum-Lehre, bleibt jedenfalls argumentationslogisch völlig unkritisch der Voraussetzung verhaftet, dass es einen »gerechten« oder doch wenigsten einen (völkerrechtlich) »gerechtfertigten Krieg« geben könne (vgl. Fuchs, 2001). Damit aber dürften die fraglichen Stellungnahmen, statt einen effektiven Beitrag zur Überwindung der Institution des Krieges zu leisten, in subtiler, jedoch sehr wirkungsvoller Weise den staatsreligiösen Glauben an die »gute« militärische Gewalt bestärken. Nach Chomsky (1999) ist die propagandistische Nützlichkeit kritischer Stellungnahmen, die sich die grundlegenden Annahmen der offiziellen Doktrin zu eigen machen, kaum zu überschätzen; darin sieht er – wohl zu Recht – den Kern demokratischer Systeme der Gedankenkontrolle.

Die vorrangige bis ausschließliche Orientierung am Völkerrecht ist ferner aus einem Grund fatal, der sich aus Besonderheiten der Entstehung und Entwicklung des Völkerrechts ergibt. In prägnanter Weise hat Schweisfurth (2003) die betreffende Problematik zur Sprache gebracht. Es geht es um Folgendes: Die in der »National Security Strategy« der USA vom September 02 behauptete Befugnis zur »preemptive military action«, zum Präventivkrieg also, wurde mit dem jüngsten Irakkrieg zwar erstmals ausdrücklich in Anspruch genommen, zielt aber über diesen Konflikt hinaus. Das geltende Gewaltverbot soll aus den Angeln gehoben werden, so dass Präventivkriege (der USA!) gegen »Schurkenstaaten« künftig legal wären. Nun kann in der Tat geltendes Völkerrecht durch eine weit verbreitete Staatenpraxis, die von der allgemeinen Überzeugung begleitet wird, dass diese Praxis rechtmäßig sei, geändert werden. Noch ist die US-amerikanische Inanspruchnahme einer Befugnis zum Präventivkrieg nur eine Rechtsbehauptung. Doch fängt die Herausbildung von Völkergewohnheitsrecht regelmäßig mit Rechtsbehauptungen eines Staates an. Auch liegt noch keine »weitverbreitete Staatenpraxis« vor. Wenn es den USA jedoch gelänge, die anderen Staaten von der Rechtmäßigkeit ihres »Präventivschlags« zu überzeugen und diese Praxis mit Billigung der meisten Staaten fortzusetzen, entstünde neues Völkergewohnheitsrecht, würde der Irakkrieg als Anfang vom Ende des völkerrechtlichen Gewaltverbots in die Geschichte eingehen. Es kann schon ausreichen, dass andere Staaten es unterlassen, gegen das US-amerikanische Vorgehen zu protestieren. Ihr Verhalten könnte als »stillschweigendes Einverständnis« mit der amerikanischen Rechtsbehauptung interpretiert werden. Die Art der »Versöhnung« zwischen den Kontrahenten im Streit um die jüngste Irakpolitik lässt diesbezüglich Schlimmes befürchten. Auch muss die seit der (Wieder)Erfindung der »humanitären Intervention« und verstärkt seit dem Kosovokrieg und dem »Krieg gegen den Terror« geführte Debatte über die angebliche Reformbedürftigkeit des Völkerrechts alarmieren (vgl. Boos, 2003; Greenwood, 1993; Mohr, 1999). Werden die Kirchenleitungen sich also bei nächster Gelegenheit an einem entsprechend »reformierten« Völkerrecht orientieren?

Bei dieser Aussicht kann man – gleichgültig, wie man sonst zu Religion und Kirche(n) steht – nur bedauern, dass die biblisch-evangelische Botschaft vom „Ende der Gewalt“ (Girard, 1983) und der „Heilkraft der Gewaltfreiheit“ (Häring, 1986) praktisch nicht einmal perspektivisch in den Blick kommt. Natürlich ist der »pazifistische Messianismus« der Bibel „kein Ersatz für moralische Einsichten und sittliche Vernunft“ und natürlich müssten seine „Grundlagen auf eine Weise formuliert werden, die allgemein zugänglich ist… insbesondere auch für die »säkularisierten« Menschen“ (Merks, 2002, S. 97). Aber bereits die bloße Problematisierung der Vereinbarkeit von militärischer Gewalt mit dem Paradigma des »gewaltfreien Christus« würde der fundamentalistischen Stilisierung einer machtpolitischen Auseinandersetzung zum (militärisch auszutragenden) „monumentalen Kampf “ des „Guten gegen das Böse“ (G.W. Bush am 12. September 2001, zit. nach Frankfurter Rundschau, 2001, S. 1) authentisch in die Parade fahren. Auf dieser Ebene bieten die kirchlichen Stellungnahmen der US-Administration jedoch in keiner Weise Paroli. Ansätze dazu sind lediglich in einer Einlassung des Kirchenpräsidenten der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau zu finden (Steinacker, 2003).

Fehlen von Selbstkritik

Eine Konfrontation mit dem »Bushismus« auf genuin weltanschaulich-religiöser Ebene hätte den Kirchen allerdings eine Auseinandersetzung mit dem eigenen »Schatten« abverlangt. Dagegen läuft beispielsweise Steinackers (2003) Abrechnung mit der zivilreligiösen Aufladung »Amerikas« im Kern darauf hinaus, sie als nicht-christliche »Theologie«, genauer: als Intrusion aus der Gnosis zu kennzeichnen. Manche solcher »Einsprengsel« sind jedoch historisch und ideologisch fest mit dem Christentum verzahnt und haben immer wieder zu schwersten Verstrickungen in die menschliche Gewalt- und Unterdrückungsgeschichte geführt; durch »Projektion« können die Kirchen sich sicher nicht davon befreien.

Als eine zentrale Komponente des kirchlichen »Schattens« muss die Verwendung der bellum-iustum-Lehre in der konstantinisch gewendeten Christenheit gelten. Wie erwähnt, spielt diese Lehre auch in mehreren der vorliegenden Stellungnahmen in Form eines kontrafaktischen Bezugs auf das eine oder andere Kriterium eine gewisse kritische Rolle. Andererseits scheint sich in Kirchenkreisen die Einsicht durchzusetzen, dass sie nur „allzu leicht die ideologische Grundlage… für einen leichtfertigen Umgang mit dem Frieden“ bildet (Merks, 2002, S. 94) – soll wohl heißen: ein wichtiges Instrument der Kriegstreiberei darstellt (vgl. Schildmann, 2002). Bei kritischem Umgang mit der eigenen Geschichte könnte sich erschließen, dass die kriegspropagandistische Funktionalisierung der bellum-iustum-Doktrin vor allem mit einer Sakralisierung von Krieg – in variabler Form – einhergeht bzw. zur Sakralisierung dient (vgl. Hasenclever & Rittberger, 2000; Kretschmar, 1995; Nitschke, 1995) und dass zudem der neuzeitliche Fortschrittsglaube als säkularisierte christliche Eschatologie weiterhin eine Grundlage dafür bietet. Vor dem Hintergrund einer Jahrhunderte langen Gefangenschaft in der Gewaltfalle in der Auseinandersetzung mit dem Islam hätte die kirchliche »Stimme der Vernunft« gerade im Zusammenhang des Irak-Konflikts erheblich an Glaubwürdigkeit gewinnen können, wenn in ihr auch solche selbstkritischen Untertöne zu vernehmen gewesen wären. Aus keiner der vorliegenden Stellungnahmen vermag ich sie herauszuhören.

Aufgrund der erklärten Konzentration auf Defizite kirchlicher Stellungnahmen zum Irak-Konflikt muss die Gesamtbilanz deutlich skeptischer ausfallen als bei Nauerth (2003). Aus dieser Sicht wurde die Gelegenheit verpasst, einen gesetzlichen Gewissensschutz auch bei bedingter Militärdienstverweigerung einzufordern und (damit) größere friedenspolitische Unabhängigkeit von Staat und Regierungen zu praktizieren, militärisches »Friedenschaffen« zumindest perspektivisch grundsätzlich zu problematisieren und Alternativen zu thematisieren und schließlich durch eine selbstkritische Reflexion der Verstrickung der Christenheit in die Netze kriegerischer Gewalt ein überzeugendes Beispiel dafür zu geben, wie man sich der eigenen »dunklen Seite« stellt, um weiteren Verstrickungen vorzubeugen. Mit dem Aufweis dieser Defizite wird Nauerths (2003) Analyse der kirchlichen Stellungnahmen zum Irak-Konflikt gleichwohl nicht in Frage gestellt, sondern ergänzt. Während Nauerth sich (einschlussweise) darauf bezieht, was die Kirchen bei ähnlichen früheren Gelegenheiten zu leisten nicht imstande waren, dient das (idealisierte) kirchliche Selbstverständnis als »Sakrament des Friedens« (z.B. Die deutschen Bischöfe, 2000, S. 89) als Bezugspunkt der vorliegenden Analyse. Beide Blickrichtungen sind erforderlich, nicht zuletzt für die Orientierung der friedenspolitisch engagierten kirchlichen Basis.

Literatur

Boos, P. (2003): Die gefährliche Debatte über die Reform des Völkerrechts. Friedens-Forum, 16 (3), 18-19.

Bundesverfassungsgericht (1962): Beschluss des Ersten Senats vom 20. Dezember 1960 – 1BvL 21/60. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, 12, 45-61.

Chomsky, N. (1999): Bemerkungen zu Orwells Problem. In: N. Chomsky: Sprache und Politik (S. 109-122). Berlin: Philo.

Deiseroth, D. (2003): US-Stützpunkte in Deutschland im Irakkrieg. Wissenschaft und Frieden, 21 (1), 15-20.

Die deutschen Bischöfe (2000): Gerechter Friede. Bonn: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz.

Eide, A. (1986): Gewissen und Gewalt. Das Recht auf Militärdienstverweigerung aus Gewissensgründen in der internationalen Diskussion. Vereinte Nationen, 34, 60-64.

Fuchs, A. (2001): Gerechter Krieg? Anmerkungen zur bellum-iustum-Lehre. Wissenschaft und Frieden, 19 (3), 12-15.

Frankfurter Rundschau (2001, 13. September): Die Welt im Schock und im Alarmzustand. Frankfurter Rundschau, S. 1.

Girard, R. (1983): Das Ende der Gewalt. Freiburg i. Br.: Herder.

Greenwood, C. (1993): Gibt es ein Recht auf humanitäre Intervention? Europa-Archiv, 48, 93-106.

Häring, B. (1986): Die Heilkraft der Gewaltfreiheit. Düsseldorf: Patmos.

Hasenclever, A. & Rittberger, V. (2000): Does religion make a difference? Theoretical approaches to the impact of faith on political conflict. Journal of International Studies, 29, 641-674.

Kretschmar, G. (1995): Der Heilige Krieg in christlicher Sicht. In: H. von Stietencron & J. Rüpke (Hrsg.): Töten im Krieg (S. 297-316). Freiburg i. Br.: Alber.

Merks, K.-W. (2002): Frieden zwischen Utopie und Realismus oder: Wie viel Gewalt darf der Frieden kosten? In: Katholische Akademie Rabanus Maurus im Bistum Limburg/pax christi-Bistumsstelle Limburg (Hrsg.), Gerechter Friede (S. 93-102). Idstein/Ts.: Meinhardt.

Mohr, M. (1999): An der Schwelle zu einem »neuen Völkerrecht«? Wissenschaft und Frieden, 17 (3), 48-51.

Nauerth, T. (2003): In the name of the prince of peace – Christliche Kirchen als friedliche Stimme der Vernunft. Wissenschaft und Frieden, 21 (2), Dossier Nr. 43.

Nitschke, A. (1995): Von Verteidigungskriegen zur militärischen Expansion: Christliche Rechtfertigung des Krieges beim Wandel der Wahrnehmungsweise. In: H. von Stietencron & J. Rüpke (Hrsg.): Töten im Krieg (S. 241-276). Freiburg i. Br.: Alber.

Pflüger, T. (2003): Zwiespältiges – Die deutsche Rolle im Irakkrieg. Wissenschaft und Frieden, 21 (2), 49-52.

Schildmann, C. (2002): Die Bomben aus Stahl, das Pathos aus Hollywood. Die Wiederentdeckung des »gerechten Krieges« im Medienzeitalter. Vorgänge, 41 (3), 71-81.

Schweisfurth, T. (2003, 28. April): Aggression. Frankfurter Allgemeine Zeitung, S. 10.

Steinacker, P. (2003, 21. Januar): God‘s own country. Auch religiöse Differenzen verbreitern die Kluft zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und Europa. Frankfurter Rundschau, S. 7.

Anmerkungen

1) Alle im Folgenden nicht weiter spezifizierten Seitenangaben beziehen sich auf den Beitrag von Nauerth (2003) bzw. das Dossier Nr. 43.

2) Knebel, G./Evangelische Arbeitsgemeinschaft zur Betreuung der Kriegsdienstverweigerer (EAK): persönliche Mitteilung, 04.08.03.

Prof. Dr. Albert Fuchs gehört zum Redaktionsteam von W&F und ist Mitarbeiter des Instituts für Friedensarbeit und Gewaltfreie Konfliktaustragung

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2003/4 Friedensforschung, Seite