W&F 2017/4

Frozen conflict – ein trügender Schein?

Der Fall Bergkarabach

von Azer Babayev

Ein Vierteljahrhundert nach dem Ende des Kalten Kriegs gelten viele ethno-territoriale Konflikte im postsowjetischen Raum als »eingefroren«, als nicht geregelt. Mehr noch: Im August 2008 lenkte der unversehens ausgebrochene Krieg um Südossetien die internationale Aufmerksamkeit erneut auf die Konflikt- und Kriegsträchtigkeit in der östlichen EU-Nachbarschaft. Hinzu kommt die jüngst reaktivierte Erfahrung in der Region, wie schnell ethnische Gewaltkonflikte »kreiert« werden können, wie im Fall der Krim und der Ostukraine. Darüber hinaus demonstriert das Beispiel Bergkarabach, wie ein langwieriger Friedensprozess ständig ins Leere läuft. Die massive Gewalteskalation an der Frontlinie im April 2016, die mehr als 200 Todesopfer forderte, zeigte einmal mehr, dass dieser Konflikt alles andere als militärisch eingefroren ist. Es wurde auch deutlich, wie leicht die »eingefrorenen Konflikte« der Region »auftauen« können, weshalb der jetzige Status quo auf Dauer brandgefährlich und unhaltbar ist.

Beim ethno-territorialen Konflikt um Bergkarabach handelt es sich typischerweise um eine früher autonome Provinz mit einer ethnischen Minderheit, die – unzufrieden mit den ihr eingeräumten Rechten – ihre staatliche Sezession anstrebt. Zwar wurde im gemeinsamen Handeln mit einem Patronagestaat (Armenien) bereits eine Abspaltung aus dem bestehenden Mutterstaat (Aserbaidschan) gewaltsam militärisch vollzogen, jedoch hat das bislang keine Legitimation durch einen völkerrechtlichen Vertrag und keine internationale Anerkennung erfahren. Im Sinne eines politischen Kompromisses streiten sich die Kontrahenten nach wie vor darüber, ob Bergkarabach mit einem Autonomiestatut innerhalb Aserbaidschans bleiben oder eine unabhängige Entität werden soll.

Es hat vielfältige Gründe, dass in den laufenden Friedensverhandlungen bislang keine substanziellen Fortschritte erzielt wurden: angefangen von unvereinbaren Forderungen und Gerechtigkeitsvorstellungen der Antagonisten über tief verwurzelte gegensätzliche Identitätsfaktoren, die sich in dem Konflikt immer wieder bestätigen und neu aufladen, bis hin zu genuinen Machtinteressen der involvierten externen Akteure.

Gerechtigkeit, nationale Identität und Feindbilder

Hinter dem bisherigen Misserfolg lassen sich vor allem äußerst gegensätzliche Positionen der Konfliktparteien vermuten. Sie sind im Wesentlichen mit unvereinbaren Gerechtigkeitsvorstellungen verbunden, bei denen die Kontrahenten in der Regel zu absoluten Lösungen tendieren. So vertreten Armenien und Aserbaidschan unversöhnliche Positionen in der politischen Status-Frage des ursprünglichen sowjetischen Autonomen Gebiets Bergkarabach, die sie seit dem Waffenstillstand von 1994 als nicht verhandelbar erklären. Auf armenischer Seite ist die so genannte historische Gerechtigkeit von besonderer Bedeutung, die mit der Unabhängigkeit Bergkarabachs bzw. dessen Anschluss an Armenien wiederhergestellt werden solle, nachdem der Sowjetführer Stalin die Bergregion im frühen 20. Jahrhundert willkürlich Aserbaidschan zugeschlagen habe. Außerdem berufen sich die Armenier auf das Recht auf nationale Selbstbestimmung. Aserbaidschan hingegen pocht auf sein völkerrechtlich und von der internationalen Staatengemeinschaft anerkanntes Recht auf seine staatlich-territoriale Integrität, die es wiederherzustellen gelte. Zudem hält es die Okkupation weiter Teile seines Staatsgebiets (außer Bergkarabach sieben umliegende Bezirke) für rechtswidrig, zumal aus diesem Gebiet die aserischen Bewohner*innen von den Armenier*innen vertrieben wurden. Es stehen sich also zwei Prinzipien gegenüber: das Recht auf nationale Selbstbestimmung und das Recht auf die territoriale Integrität eines international anerkannten Staates. In den unvereinbaren Gerechtigkeitsvorstellungen besitzt jedes der Prinzipien absolute Priorität.

Auch spielen identitäre Faktoren, wie etwa die in den jeweiligen Gesellschaften herrschenden Ideen, Werte, Normen und religiösen Überzeugungen, eine wichtige Rolle. Mit ihnen legitimieren die Konfliktparteien – sozial sinnstiftend – ihre Interessen und radikalen Positionen. Hinzu kommt, dass das Ringen um die Identitätsfragen oft in gewaltsame Konflikte zu münden droht. Denn anders als bei politischen Fragen ist es äußerst schwierig, dabei Kompromisse auszuhandeln, zumal wenn sich die im Konflikt stehenden Völker soziokulturell stark unterscheiden, wie gerade im Südkaukasus.

Im Falle Bergkarabachs scheinen unversöhnliche nationale Identitäten und insbesondere gesellschaftlich tief verankerte gegenseitige Feindbilder der armenischen und der aserbaidschanischen Seite eine Kompromissfindung beträchtlich zu erschweren. Dabei haben sich die Grundlagen der gegenseitig (erz-) feindlichen Nationalidentitäten lange vor dem aktuellen Konflikt gebildet und sind somit historischer Natur. So mobilisierten bereits Anfang des 20. Jahrhunderts die armenisch-aserbaidschanischen bürgerkriegsähnlichen Unruhen beide Völker für ihre jeweilige nationale Mission. Beiderseits geschaffene Feindbilder wurden in dieser Phase zu einem maßgeblichen Einflussfaktor der nationalen Orientierung in der Region. Religiöse Differenzen taten ein Übriges.

Des Weiteren fallen genuine Machtinteressen der in den Konflikt involvierten externen Akteure ins Gewicht. Vor allem ist darauf hinzuweisen, dass im frühen 20. Jahrhundert armenisch-aserbaidschanische Spannungen von den russischen Kolonialbehörden im Sinne einer »divide et impera«-Politik (teile und herrsche) angestachelt wurden. Das Zarenreich wollte den wachsenden armenischen Nationalismus schwächen, der bereits am Ende des 19. Jahrhunderts mit einer nationalistischen Partei institutionelle Gestalt angenommen hatte. Es ist nicht verwunderlich, dass heute viele Beobachter den Schlüssel zur Beilegung des armenisch-aserbaidschanischen Konflikts wiederum in russischer Hand sehen.

Externe Akteure und Vermittlungsversuche

Auch fällt auf, dass sich der Bergkarabach-Konflikt nicht nur zwischen zwei Staaten abspielt, sondern eng verflochten ist mit Interessen, machtpolitischen Zielen und normativen Vorstellungen externer Akteure. Gerade der Kaukasus ist seit Jahrhunderten in hohem Maße eine durch äußere Mächte mitgeprägte und -gestaltete Region. Mit seinen Rohstoffressourcen und seiner militärisch-strategischen Lage hat er heute große geostrategische Bedeutung für so unterschiedliche Akteure wie Russland, die USA, die Europäische Union, Iran und die Türkei. Der Friedensprozess zwischen Armenien und Aserbaidschan wird dadurch erheblich komplizierter, denn die beiden Antagonisten können ihren Konflikt nicht allein lösen, sondern müssen auch den Interessen der involvierten externen Akteure Rechnung tragen.

Konkret lässt sich dabei das Verhalten Russlands, der USA und auch der EU auf jeweils eigene politische, strategische oder ökonomische Ziele zurückführen. Die Bedeutung des kaspischen Raums mit seinen Rohstoffreserven sowie dessen Nähe zu den sicherheitspolitisch brisanten Ländern Afghanistan, Iran und Irak bestimmen das Interesse der USA an der Region. Das Engagement der EU kann man als Teil einer Integrationskonkurrenz zwischen Moskau und Brüssel um die Länder des postsowjetischen Raums interpretieren. Dies wurde im Sommer 2013 besonders deutlich, als sich Armenien nach dem erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen über ein Assoziationsabkommen mit der EU unter Moskauer Druck völlig überraschend für einen Beitritt zur Eurasischen Wirtschaftsunion entschied. Hinzu kommt eine wichtige Nuance, die Bergkarabach von anderen ethnischen Konflikten unterscheidet: die Tatsache, dass es geopolitisch in »niemands Vorgarten, aber jedermanns Hinterhof« liegt.1

Gleichwohl scheinen die sonst in mehrfacher Hinsicht unterschiedlichen Großmachtinteressen Russlands auf der einen und der USA und der EU auf der anderen Seite nicht allzu inkompatibel zu sein. Im Gegensatz zu den Konflikten in Georgien (Abchasien und Südossetien) sowie zur Annexion der Krim und den gewaltsamen Auseinandersetzungen in der Ostukraine, die der Westen und Russland ganz unterschiedlich interpretieren und entsprechend diametral entgegengesetzte Strategien und Lösungswege verfolgen, sind die Haltungen beider Seiten zum Bergkarabach-Konflikt und zu dessen Bearbeitung bislang nicht offen konfrontativ.

Noch vor dem Waffenstillstand 1994 begann auch eine internationale Mediation zur Konfliktbeilegung, seit 1997 unter Vermittlung der »Minsker Gruppe« der OSZE, die von Frankreich, Russland und den USA und damit von drei der fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen geleitet wird. Diese schlug bislang mehrere Friedenspläne vor. Zuerst verfolgte man den Ansatz einer Stufenlösung: Die Minsker Gruppe sollte ein politisches Rahmenabkommen erreichen, dann sollte eine Konferenz in Minsk in einer zweiten Etappe den Status Bergkarabachs bestimmen. Die Ko-Vorsitzenden gingen jedoch bald dazu über, umfassende Paketabkommen vorzuschlagen, die auch die Klärung der Statusfrage beinhalteten. Der Vorschlag vom Juni 1997 umfasste ein solches Paket, das jedoch zu keinem Erfolg führte. Auch von 1998 bis 2001 versuchten die Unterhändler mit einer modifizierten Paketlösung zu einer Einigung zu gelangen, die für die strittige Region einen von Aserbaidschan und Bergkarabach gemeinsamen verwalteten Staat (joint rule) bzw. einen territorialen Austausch zwischen Aserbaidschan und Armenien vorsah.

Nach dem Scheitern der Friedensverhandlungen in Key West (Florida) 2001 wurde offensichtlich, dass eine Einigung über den endgültigen Status von Bergkarabach aufgrund des vorherrschenden Misstrauens kaum möglich ist. Das Beharren auf einer Paketlösung würde darauf hinauslaufen, den Konflikt langfristig einzufrieren. Deshalb verfolgen die Vermittler seitdem wieder eine Stufenlösung, die es ermöglichen soll, die Statusfrage vorerst auszuklammern. Konkret suchen beide Seiten seit 2007 im Rahmen der »Madrider Grundprinzipien« nach Möglichkeiten, eine Einigung zu erzielen, wie der Status in Zukunft bestimmt werden soll, aber diese Entscheidung selbst zu verschieben, während zunächst andere Aspekte umgesetzt werden sollen.2

Verschiedene Kompromissmodelle

Vor dem Hintergrund des bislang ausbleibenden Fortschritts stellt sich die entscheidende Frage, wo es Annäherungsmöglichkeiten zwischen Armenien und Aserbaidschan sowie Kooperationsmöglichkeiten der relevanten internationalen Akteure mit Blick auf umsetzbare Kompromissmodelle geben könnte, zumal sich die beiden Antagonisten allein nicht einigen können, wie die jüngste Eskalation einmal mehr offenbart hat. Dabei handelt es sich wie bei anderen ethno-territorialen Konfliktregulierungen im Kern darum, den zunächst unauflöslich scheinenden Gegensatz von zwei völkerrechtlichen Prinzipien aufzulösen: territoriale Integrität versus Selbstbestimmung. Friedenspolitisch und -theoretisch besteht die zentrale Herausforderung darin, zwischen beiden Prinzipien unter den gegebenen Bedingungen eine vernünftige Balance herzustellen.

Wie gelang es in anderen, ähnlich gelagerten Konflikten, diesen antagonistischen Gegensatz wenn nicht aufzulösen, so doch so zu transformieren, dass es zu einer dauerhaften Regulierung des Konflikts kommen konnte? In der Spannbreite möglicher Regelungen in der bisherigen internationalen Praxis können verschiedene Kompromissmodelle zwischen den sich widersprechenden Prinzipien staatliche Souveränität und nationale Selbstbestimmung identifiziert werden, etwa konditionierte Unabhängigkeit, Autonomie (self rule), Föderation (self rule plus shared rule), Konföderation (joint rule), Kondominium sowie internationales Mandat oder Protektorat. Hinzu kommen auch zahlreiche Sub- bzw. Mischtypen solcher Kompromissregelungen. Gerade im Falle Bergkarabach könnte also nach den vielen vergeblichen – aber letztlich konventionellen – Lösungsversuchen der bisherigen Verhandlungen auch etwas Unorthodoxes gefragt sein, um einen für alle Seiten tragfähigen Kompromiss zu finden.

Insgesamt könnte ein vermehrtes Engagement externer Akteure, etwa eine Stärkung der Minsker Gruppe, prinzipiell eine Beilegung des Konflikts erleichtern, wenn nicht gar ermöglichen. Voraussetzung dafür ist aber, dass die eigenen Kerninteressen dieser externen Akteure auf Dauer in Richtung einer friedlichen Regelung weisen. Dabei lässt sich konkret fragen, ob das Großmachtverhalten der externen Hauptakteure – auch wenn sie nicht offen konfliktverschärfende gegensätzliche Ziele verfolgen –, eine konstruktive bzw. friedliche Konfliktbearbeitung verhindern und wo sich reale Kooperationsmöglichkeiten für die Konfliktbeilegung bieten.

Anmerkungen

1) Biber, E. (2013): The Roles of Iran and Turkey in the Nagorno-Karabakh Conflict. In: Hopmann, P.T.; Zartman, I.W. (eds): Nagorno-Karabakh – Understanding Conflict. Baltimore: Johns Hopkins University, School for Advanced International Studies, S. 139-153, hier 139.

2) Siehe dazu ausführlich International Crisis Group (2005): Nagorno-Karabakh – A Plan for Peace. Europe Report N°167, S. 11.
Die Madrider Prinzipien sind vertraulich und der Öffentlichkeit nur in einer verkürzten Form bekannt. Als „ein vernünftiger Kompromiss auf Basis der Prinzipien der Schlussakte von Helsinki, d.h. Nichtanwendung von Gewalt, territoriale Integrität und gleiche Rechte und Selbstbestimmung der Völker,“ geht es hier um folgende konfliktspezifische Grundprinzipien: Rückkehr der Bergkarabach umgebenden Gebiete unter aserbaidschanische Kontrolle; ein Interimstatus für Bergkarabach, einschließlich Garantien für Sicherheit und Selbstregierung; ein Verbindungskorridor zwischen Armenien und Bergkarabach; eine zukünftige Festlegung des endgültigen Rechtsstatus von Bergkarabach durch eine rechtlich bindende Willensäußerung; ein Rückkehrrecht für alle Binnenvertriebenen und Flüchtlinge zu ihren früheren Wohnorten; internationale Sicherheitsgarantien einschließlich einer Peacekeeping-Mission.

Azer Babayev ist Assistant Professor of Political Science an der ADA University in Baku und assoziierter Forscher an der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK).

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2017/4 Eingefrorene Konflikte, Seite 18–20