W&F 1990/1

Für ein ziviles Europa

Lindener Erklärung von Friedensgruppen aus BRD und DDR, beschlossen am 11.3.90 in Hannover-Linden

von Entmilitarisierung

I

Ausgelöst durch Glasnost und Perestroika zerbricht in dieser Zeit die Nachkriegsordnung. Europa steht nun vor der Aufgabe, eine Friedensordnung aufzubauen, die der durchgreifenden Entmilitarisierung und der Kooperation zum gegenseitigen Nutzen auf ökonomischen, ökologischen, sozialen und kulturellem Gebiet verpflichtet ist. Wir plädieren dafür, die politische Neuordnung Europas demokratisch zu legitimieren und im Rahmen der KSZE auszubauen. Unter Beteiligung aller KSZE-Staaten ist die Gestaltung der deutsch-deutschen Beziehungen den Verpflichtungen der zu schaffenden gesamteuropäischen Friedens- und Sicherheitsstruktur unter Einschluß der UdSSR und Polens unterzuordnen. Die Militärbündnisse sind zugunsten dieser Struktur aufzulösen.

II

Jetzt haben wir die Chance, die bestehenden Ungleichgewichte (sowohl in Europa als auch im Verhältnis zur 2/3-Welt) durch konsequente Abrüstung und durch eine neue Qualität internationaler Kooperation abzubauen. Diese ermöglichen heute, daß wir uns von Feindbilddenken und Geist, Logik und Praxis der Abschreckung verabschieden. Wir wollen ein Europa, das seine Verantwortung für das neue Denken und eine für die 2/3-Welt gerechte Weltwirtschaftsordnung, in der Frieden und Umweltbelange gefördert werden, wahrnimmt. Wir wollen ein Europa, in dem auch die sozialen Menschenrechte – wie das Recht auf Wohnung, Arbeit und Bildung, die Gleichstellung der Frauen – verwirklicht werden. Wir wollen ein Europa, in dem die Eigenheiten der Kulturen und Regionen erhalten bleiben und entwickelt werden können. Wir setzen uns dafür ein, daß die KSZE-Gipfelkonferenz im Herbst 1990 eine neue gesamteuropäische Friedensordnung beschließt, mit der ein umfassender Abrüstungs- und Entmilitarisierungsplan für Europa und Nordamerika einhergeht.

III

Für uns als Deutsche in West und Ost gilt: Die Kapitulation des Deutschen Reiches vom Mai 1945 ist endgültig und unwiderruflich. Wir fordern die Bundesregierung auf, die politische Neuordnung Europas nicht für neue Ansprüche an Osteuropa zu mißbrauchen. Die polnische Westgrenze an Oder und Neiße ist endgültig und nicht verhandelbar.

Wir wollen ein neues Verhältnis zwischen den beiden deutschen Staaten zum Nutzen der Menschen. 45 Jahre Trennung in zwei weitgehend gegeneinander abgegrenzte Gesellschaften sind nicht durch wenige administrative Akte aufzuheben. Beide Gesellschaften müssen sich aufeinander zu reformieren. Das Selbstbestimmungsrecht haben sich die Menschen in der DDR im Oktober 1989 nicht dazu erkämpft, um zur Kohlonie der Bundesrepublik zu werden. Ein Beitritt der DDR zur BRD gemäß Art. 23 GG kommt für uns daher nicht in Frage.

IV

Während in der DDR einseitige Abrüstung eingeleitet wird, hält Bonn an der Stationierung von Atomwaffen und an Modernisierung fest. Der höchste Militäretat seit Kriegsende wurde beschlossen und die Ausdehnung der NATO nach Osten wird propagiert. Wir treten dem entgegen. In BRD und DDR müssen jetzt endlich alle Atomwaffen beseitigt werden. Alle neuen Waffenprojekte sind zu stoppen und die Bundeswehr abzubauen. Eine deutsch-deutsche Armee ist für uns nicht akzeptabel!

Die Initiativen der DDR-Friedensbewegung zur radikalen Entmilitarisierung (Appell der 89) bedürfen einer bundesdeutschen Antwort in Form einer Kampagne zugunsten einer »Bundesrepublik ohne Armee«, mit beiden wollen wir Vorschläge für eine militär- und manöverfreie BRD und DDR und ihre Einbindung in die neue gesamteuropäische Friedens- und Sicherheitsstruktur fördern.

Beginnen wir jetzt, die dringend benötigten Mittel für soziale Gerechtigkeit, wirtschaftlichen Aufbau und Bewahrung der Umwelt einzusetzen, indem Kasernen geschlossen, Rüstungsproduktion umgestellt, Truppenübungsplätze rekultiviert, Rüstungsprojekte und -exporte gestoppt und Truppen aufgelöst werden.

Beginnen wir jetzt, durch Entmilitarisierung freiwerdende Mittel der 2/3-Welt zur Verfügung zu stellen, so daß sie sich aus politischen und ökonomischen Abhängigkeiten befreien kann.

Wir sind nicht bereit, die Politik allein den PolitikerInnen und Bürokraten zu überlassen. Wir wissen, Frieden braucht Bewegung, braucht außerparlamentarische Aktivitäten – wie die Erfahrungen der Runden Tische beweisen. Dies gilt in beiden deutschen Gesellschaften.

In der Arbeitsgruppe »Entmilitarisierung« wurden folgende Forderungen entwickelt:

  1. Wir fordern die völlige Entmilitarisierung des Territoriums der heutigen beiden deutschen Staaten bis spätestens zum Jahre 2000.
    Wir unterstützen die Kampagnen »Bundesrepublik ohne Armee« und »Appell 89«, die in der BRD und der DDR für dieses Ziel arbeiten.
    Der faktische Zerfall der NVA bietet die Möglichkeit zur Entmilitarisierung der DDR schon jetzt. Wir fordern eine substantielle Reduzierung der Bundeswehr schon vor und unabhängig vor eventuellen Vereinbarungen bei den Wiener Verhandlungen.
    Als Zwischenschritt auf dem Weg zur völligen Entmilitarisierung fordern wir für die 2:4 Gespräche einen Beschluß zur Reduzierung der Gesamtzahl deutscher Soldaten auf maximal 100.000 bis spätestens 1995.
  2. Wir fordern die sofortige, ersatzlose Einstellung aller militärischen Manöver und Tiefflüge, ohne deren Verlagerung ins Ausland.
  3. Wir fordern, heute schon den Abzug aller A-B-C-Waffen vom Territorium der beiden deutschen Staaten bis spätestens 1995 zu beschließen und die Verpflichtung, auf den Besitz oder Mitbesitz und die Verfügung von A-B-C-Waffen sowie auf deren Erforschung, Entwicklung und Produktion zu verzichten, in der Verfassung zu verankern.
  4. Wir fordern ein gesetzlich verankertes, wirksames Verbot aller Exporte von Rüstung und Rüstungsproduktionstechnologien.
  5. Wir fordern, heute schon zu beschließen, als Zwischenschritt zur völligen Einstellung von Militärausgaben, die Haushalte bis spätestens 1995 um mindestens real 50% der Höhe des Jahres 1990 zu kürzen.
    In den ersten Jahren sollten die freiwerdenden Gelder vorrangig für Konversionsmaßnahmen sowie für die Reintegration von Soldaten der NVA und Bundeswehr ins zivile Berufsleben verwendet werden. Langfristig sollten die Gelder für die Bewahrung der Umwelt, soziale Gerechtigkeit und für die 2/3-Welt zur Verfügung gestellt werden.
  6. Wir fordern die Fortsetzung des Runden Tisches beim Verteidigungsministerium der DDR auch nach der Wahl am 18.3.90 und die Einsetzung eines solchen Tisches beim Verteidigungsministerium der BRD.
erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1990/1 1990-1, Seite